„Ich bin unglücklich weil ich nichts aus meinem Leben gemacht habe“, sagte die Frau im Coaching.

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Allgemein

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In diesem Fallbericht erfahren Sie:

  • Wie unterstützt man ein Kind, seine Träume im Leben zu verwirklichen?
  • Was ist das „Drama des begabten Kindes“?
  • Warum das Anliegen des Klienten im Coaching so wichtig ist.
  • Warum glauben manche Menschen nicht zu wissen, was sie wollen?
  • Warum halten Menschen an gewohnten Strategien fest, auch wenn sie Nachteile bringen?

„Wie ist es Ihnen gelungen, etwas Sinnvolles aus Ihrem Leben zu machen“, ist die erste Frage der Klientin im 3-h-Coaching. Maria H., 55 Jahre, Sekretärin, getrennt lebend, keine Kinder.
„Warum interessiert Sie das?“
„Weil mir das nicht gelungen ist. Ich bin jetzt 55 Jahre alt, habe zwei gescheiterte Ehen hinter mir, keine Kinder und einen Job, der mich langweilt.“
„Um Ihre Frage zu beantworten“, sage ich,„Ich habe immer aufgehört, etwas zu tun, wenn ich merkte, dass es mich langweilt. Ich war Bankkaufmann, Werbetexter und Versicherungsvertreter. War aber alles nicht das Richtige für mich.“
„Den Mut hatte ich nie.“
„Wie meinen  Sie das?“
„Mich haben Dinge auch schnell gelangweilt, aber ich dachte dann immer, dass ich nur Geduld haben müsste, dann würde es besser werden.“
„Manchmal stimmt das ja auch, es kommt darauf an, wie lange man Geduld haben will.“
„Meine Geduld scheint keine Grenzen zu haben.“
„Ihre Geduld oder Ihre Leidensfähigkeit? Wo mussten Sie denn das lernen?“,
frage ich Maria H.

Einer der Gründe, warum ich in meinem 3-h-Coaching schnell zum Knackpunkt, also dem wichtigen inneren Konflikt der Klientin vordringe, ist, dass ich Spuren lese.

Spurenlesen in der Psychotherapie oder im Coaching ist eine therapeutische Technik. Sie zielt darauf ab, verborgene oder unbewusste Informationen und Emotionen eines Klienten aufzudecken. Dazu beobachte ich sorgfältig die Sprache, Gesten und Mimik meines Gegenübers und versuche zu verstehen, was sie ausdrücken.

Dieses Spurenlesen basiert auf der Annahme, dass unsere Erfahrungen, Gedanken und Emotionen sich in unserem Verhalten manifestieren, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Es kann dabei helfen, verborgene Muster oder Konflikte aufzudecken, die bei dem gegenwärtigen Problem des Klienten eine Rolle spielen können.

Während einer Sitzung kann der Coach zum Beispiel darauf achten,

  • welche Themen die Klientin vermeidet,
  • welche Gefühle er oder sie ausdrückt oder unterdrückt,
  • welche Körperhaltungen oder Gesten er oder sie zeigt, oder
  • welche Worte oder Begriffe häufig verwendet werden.

Durch das Verfolgen dieser „Spuren“ kann der Coach dem Klienten helfen, sich bewusst zu werden, was in ihm vorgeht und welche Gedanken und Gefühle ihn beeinflussen.

In der Sitzung ist es die Aussage von Maria H., dass ihre Geduld keine Grenzen kenne. Der Satz machte mich neugierig, denn mit dieser Fähigkeit kommt man nicht auf die Welt. Kinder, ja schon Babies haben keine Geduld. Was sie wollen, wollen sie sofort! Geduld muss also mühsam gelernt werden.

Wie lernt man unglücklich zu sein?

Ich will den Faden vom Beginn des Gesprächs wieder aufnehmen.

„Was meinen Sie genau damit, dass Sie aus Ihrem Leben nichts gemacht haben?
„Ich sitze hier und frage mich das auch. Warum habe ich nichts aus meinem Leben gemacht? Ich bin 55 Jahre alt, aber fühle mich wie eine gescheiterte Person. Als ich jung war, hatte ich Träume und Ambitionen, aber ich konnte sie nie erreichen.“
„Wie erklären Sie sich das?“
„Ich denke, das liegt daran, dass ich in meiner Kindheit nicht genug Unterstützung und Liebe bekommen habe. Ich erinnere mich an meine Kindheit und wie meine Eltern ständig gestritten haben. Mein Vater war ein autoritärer Mann, der glaubte, dass Disziplin und harte Arbeit der einzige Weg zum Erfolg waren. Meine Mutter war eine sehr unsichere Frau, die versuchte, ihren Mann zu besänftigen und ihre eigenen Bedürfnisse zu ignorieren. Ich war das einzige Kind und ich erinnere mich, wie einsam ich mich oft gefühlt habe.“

„Das heißt, Sie bekamen als Kind keine Unterstützung für Ihre Träume und wie Sie sie erreichen könnten?“
„Nein, meine Eltern haben meine Gefühle oder Bedürfnisse nie ernst genommen. Wenn ich traurig oder verärgert war, wurde mir gesagt, ich solle aufhören zu weinen und mich zusammenreißen. Meine kreativen Interessen wurden nie unterstützt, weil sie als „Zeitverschwendung“ angesehen wurden. Meine Eltern hatten ihre eigenen Ziele für mich, aber ich hatte das Gefühl, dass ich nie gut genug war, um sie zu erreichen.“

Wie unterstützt man ein Kind, seine Träume im Leben zu verwirklichen?

Es gibt verschiedene Faktoren, die dazu beitragen können, dass Kinder ihre Träume später im Leben verwirklichen können.

Kinder benötigen Unterstützung und Anerkennung von ihren Eltern, Lehrern und anderen wichtigen Personen in ihrem Leben, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken und ihre Talente und Fähigkeiten zu entwickeln. Wenn sie wissen, dass ihre Träume wichtig sind und dass sie Unterstützung haben, können sie sich besser auf ihre Ziele konzentrieren.

Sie sollten die Freiheit haben, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Ebenso sollten sie erfahren, dass es okay ist, Risiken einzugehen und Fehler zu machen. Wenn sie das Vertrauen haben, dass sie in der Lage sind, ihre eigenen Probleme zu lösen und unabhängig zu sein, werden sie eher bereit, ihren Träumen zu folgen.

Alle diese Möglichkeiten waren Maria H. verwehrt worden.

„Als ich älter wurde, war ich immer noch von meinem Vater abhängig, der mir sagte, was ich tun sollte. Ich konnte nie herausfinden, was meine Interessen und Begabungen waren. Ich wollte studieren, aber mein Vater sagte mir, dass ich arbeiten und Geld verdienen sollte. Ich war von Anfang an unglücklich in meinem Job, aber ich wusste nicht, wie ich etwas ändern sollte.

Ich weiß, dass ich nicht die einzige bin, die so aufgewachsen ist. Aber ich fühle mich immer noch verletzt und wütend darüber, dass ich nie die Chance hatte, meine eigenen Träume und Ziele zu verfolgen. Ich fühle mich, als ob ich die besten Jahre meines Lebens verschwendet habe und ich frage mich, ob es zu spät ist, um etwas zu ändern.

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Lebensthema: Das begabte Kind.

Alice Millers Buch „Das Drama des begabten Kindes“ beschäftigt sich mit den psychologischen Auswirkungen von Kindheitstraumata und kindlicher Vernachlässigung. Die drei wichtigsten Thesen des Buches sind:

  1. Viele psychische Probleme im Erwachsenenalter haben ihre Ursache in frühkindlichen Traumatisierungen. Miller argumentiert, dass eine fehlende oder mangelhafte Bindung zu den Eltern in der Kindheit zu einer emotionalen Unterernährung führen kann, die sich später in Depressionen, Angststörungen, Beziehungsproblemen und anderen psychischen Störungen äußern kann.
  2. Eltern können ihren Kindern ungewollt Schaden zufügen, indem ihre eigenen emotionalen Verletzungen aus der Kindheit auf ihre Kinder übertragen. Das geschieht dadurch, dass sie ihre Kinder emotional vernachlässigen, misshandeln oder übermäßig kontrollieren. Diese Verhaltensmuster können später von den Kindern internalisiert werden und zu einer Reihe von psychischen Problemen führen.
  3. Eine wichtige Voraussetzung für psychische Gesundheit ist die Anerkennung und Verarbeitung von emotionalen Verletzungen aus der Kindheit. Dies sei ein wichtiger Schritt zur Selbstheilung und zur Verhinderung der Weitergabe emotionaler Verletzungen an zukünftige Generationen.

Ich will wissen, ob die Klientin zufällig das Buch kennt, an das mich Ihr Leben erinnert. Und ich war über ihre Antwort nicht sonderlich überrascht.

„Als ich das Buch „Das Drama des begabten Kindes“ von Alice Miller zum ersten Mal las, wusste ich sofort, dass ich eine der Menschen bin, von denen sie spricht. Ich erkannte mich in den Beschreibungen wieder und konnte endlich benennen, was ich all die Jahre gefühlt hatte, aber nicht in Worte fassen konnte.

In dem Buch beschreibt Miller, wie Kinder, die in einer Familie aufwachsen, in der sie nicht bedingungslos geliebt werden, sondern nur dann, wenn sie bestimmte Erwartungen erfüllen, ein Trauma erleiden. Diese Kinder lernen, ihre eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken und stattdessen alles zu tun, um die Liebe und Anerkennung ihrer Eltern zu bekommen. Sie werden zu „begabten Kindern“, die früh lernen, ihre Eltern zu manipulieren, um das zu bekommen, was sie wollen.

„Wie waren Ihre Eltern denn so?“, frage ich.
„Meine Eltern waren beide sehr erfolgreich und hatten hohe Erwartungen an mich. Ich sollte immer die Bestnote in der Schule haben, in jeder Sportart die Beste sein und in meiner Freizeit ein Instrument spielen. Ich hatte das Gefühl, dass ich nie gut genug war, dass ich immer noch besser sein musste, um ihre Anerkennung zu bekommen.

Als ich älter wurde, merkte ich, dass ich mir selbst nicht erlaubte, einfach normal glücklich zu sein. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich noch etwas erreichen musste, dass ich noch nicht genug getan hatte, um stolz auf mich zu sein. Ich hatte Schwierigkeiten, Freundschaften aufzubauen, weil ich immer Angst hatte, dass die Menschen mich nicht mögen würden, wenn sie wüssten, wer ich wirklich war.

Als ich das Buch las, erkannte ich, dass meine Mutter auch eines dieser begabten Kinder war.

Sie erzählte mir oft von ihrer Kindheit und wie schwierig diese Zeit für sie gewesen war. Sie musste hart arbeiten, um die Anerkennung ihrer Eltern zu bekommen, und es war nie gut genug. Sie war immer auf der Suche nach Liebe und Anerkennung, aber sie fand sie nie.

Ich erkannte mich in meiner Mutter wieder. Ich hatte all die Dinge getan, die sie getan hatte, um die Anerkennung meiner Eltern zu bekommen. Ich hatte meine eigenen Bedürfnisse unterdrückt, um das zu bekommen, was ich dachte, dass sie von mir wollten. Ich hatte meine eigenen Träume und Ziele aufgegeben, um das zu tun, was sie von mir erwarteten.

„Ich erkannte auch, dass meine Mutter wahrscheinlich ähnliche Erfahrungen gemacht hatte. Als ich sie darauf ansprach, erzählte sie mir von ihrer eigenen schwierigen Kindheit.
Sie war das jüngste von sieben Kindern und ihre Eltern hatten nie wirklich Zeit für sie. Sie musste hart arbeiten, um ihre Familie zu unterstützen, und sie hatte nie die Gelegenheit, ihre eigenen Träume zu verwirklichen. Sie erzählte mir von ihrem Wunsch, sich kreativ auszudrücken – aber dass sie nie wirklich die Möglichkeit hatte, ihre künstlerischen Fähigkeiten zu entwickeln. Und während ich ihr zuhörte, erkannte ich, dass ich in gewisser Weise auch ihre Träume träume. Ich wollte immer kreativ sein und meine eigene Arbeit schaffen, aber ich hatte nie wirklich die Gelegenheit dazu.“

 

Die Frage nach dem Anliegen.

Ein Anliegen im Coaching ist wichtig, weil es dem Coaching-Prozess eine klare Richtung und Zielsetzung gibt. Ohne ein definiertes Anliegen könnte das Coaching ziellos und unstrukturiert sein, was Zeit und Ressourcen verschwenden kann.

Ein Anliegen im Coaching sollte sich auf ein konkretes Thema oder Problem beziehen, das die Coachee angehen möchte. Es kann zum Beispiel darum gehen, eine berufliche Herausforderung zu bewältigen, Konflikte in Beziehungen zu lösen, persönliche Ziele zu erreichen oder Selbstvertrauen aufzubauen. Das Anliegen sollte vom Coachee selbst gewählt werden, da es wichtig ist, dass er oder sie bereit ist, an diesem Thema zu arbeiten und Veränderungen anzustreben.

Das Anliegen dient mir als Orientierung für den Coaching-Prozess und hilft, die passenden Hypothesen und Methoden auszuwählen, um die inneren Barrieren aufzuspüren, die bisher die Klientin gehindert haben, ihre Ziele zu erreichen. Das Anliegen hilft auch dabei, abzuschätzen, wo wir uns im Prozess befinden und ob wir die Richtung korrigieren sollten.

Meine Anliegenfrage ist ganz einfach. Allerdings spreche ich sie sehr langsam und betont aus, damit die Klientin merkt, dass es eine wichtige Frage ist.

„Was wollen Sie denn jetzt genau hier in diesem Coaching?“

Maria H. überlegt eine Weile, schaut mich etwas hilflos an und antwortet:

„Am liebsten wäre mir, dass Sie mir sagen würden, wie ich noch aus meinem Leben etwas machen kann. Ich weiß, dass das unsinnig ist aber ich weiß einfach nicht, was ich wirklich will.“

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Als Kind erlebt man, ob Wünsche erfüllt werden können oder nur für Enttäuschung sorgen.

Warum glauben manche Menschen nicht zu wissen, was sie wollen?

Es gibt viele Gründe, warum manche Menschen nicht wissen, was sie im Leben wollen. Hier sind einige mögliche Faktoren:

  1. Mangel an Selbstreflexion: Einige Menschen haben sich nie die Zeit genommen, um über ihre Wünsche, Ziele und Prioritäten nachzudenken. Sie haben sich nie gefragt, was ihnen wichtig ist oder was sie glücklich macht.
  2. Vielfalt an Optionen: In unserer modernen Gesellschaft gibt es eine Fülle von Möglichkeiten und Entscheidungen, die getroffen werden müssen. Manche Menschen fühlen sich überwältigt und können sich nicht entscheiden, was sie wollen, weil sie so viele Optionen haben.
  3. Mangel an Erfahrung: Einige Menschen haben noch nicht genug Erfahrungen gemacht, um zu wissen, was sie wirklich wollen. Sie müssen erst verschiedene Dinge ausprobieren, um zu erkennen, was ihnen am besten gefällt.
  4. Ängste und Unsicherheiten: Manche Menschen haben Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen oder versagen zu können. Sie können sich nicht für etwas entscheiden, weil sie Angst haben, dass es nicht das Richtige für sie ist.
  5. Gesellschaftlicher Druck: Manchmal fühlen sich Menschen von ihren Familien, Freunden oder der Gesellschaft unter Druck gesetzt, bestimmte Ziele oder Karrieren zu verfolgen, die nicht unbedingt ihren eigenen Wünschen entsprechen.

Natürlich ist es völlig normal, sich unsicher zu sein und nicht zu wissen, was man im Leben will. Und es kann helfen, sich Zeit zu nehmen, um darüber nachzudenken, was einem wichtig ist und welche Ziele man verfolgen möchte.

Doch dazu braucht man Zugang zu seinen Wünschen und seiner Neugier. Und der ist bei vielen Menschen früh verschüttet worden.

„Wie waren Sie denn als Kind? Hatten Sie da Wünsche?“ , frage ich Maria H.
„Oh, natürlich! Jede Menge Wünsche hatte ich da. Wie alle Kinder. Aber da musste ich auch lernen, dass das nicht einfach ist mit dem Wünschen.“
„Was meinen Sie damit?“
„Als ich sechs Jahre alt war, durfte ich in der Vorweihnachtszeit in ein Ballett mit meiner Mutter gehen. Es war „Schwanensee“, wo ein böser Zauberer die schöne junge Prinzessin Odette in einen Schwan verwandelt, als diese sich zu nahe an das Ufer seines Sees herangewagt hatte.“
„Ein schönes Märchen, ich kenne es.“
„Danach stand mein Wunsch fest, dass ich Ballett lernen wollte. Aber meine Mutter war dagegen. Einmal wegen des Geldes und weil sie mich jede Woche zum Unterricht hätte bringen müssen, was mit ihrer Arbeit nicht vereinbar war.“
„Das war sicher eine große Enttäuschung für Sie?“,
vermute ich.
„Ich war wochenlang traurig, weinte und bettelte, aber meine Mutter ließ sich nicht erweichen. Und dasselbe passierte einige Zeit später, als ich Reiten lernen wollte.“
„Das scheiterte auch wieder am Geld?“
„Nein, das war nicht so teuer, weil es der Sportverein veranstaltete, wo unsere ganze Familie Mitglied war. Aber meine Mutter hatte panische Angst, dass ich vom Pferd fallen könnte, weil ihr das mal als Erwachsene passiert war. Und damit war dieser Herzenswunsch auch gestorben.“

Beim Erzählen kämpft Maria H. mit den Tränen, nachdem sie mit dieser Erinnerung in Kontakt gekommen war.

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Als Kind kann man die Familie nicht verlassen. Man muss mit ihr leben, jeden Tag.

Lebensthemen entstehen oft in solchen emotionalen Situationen, wo wir erleben, dass das Leben uns vor eine schwierige Situation stellt, die wir bewältigen müssen. Doch als Kind haben wir nicht sehr viele Optionen.

  • Wir können die Situation nicht verlassen, also eine andere Familie suchen.
  • Wir können die Abhängigkeit von den Eltern nicht beenden, weil wir uns nicht selbst ernähren können.
  • Wir können protestieren und unsere Eltern zwingen, uns doch das zu ermöglichen, was wir wollen.
  • Wir können die Situation ertragen lernen.

„Wie haben Sie diese beiden großen Enttäuschungen verarbeitet? Welche Schlussfolgerung haben Sie daraus gezogen?“
„Ich glaube im Nachhinein, dass ich den Zusammenhang zwischen meinen Wünschen und der Enttäuschung verstanden habe.“
„Was meinen Sie damit?“
„Na ja, ich habe erlebt, dass Wünsche einen verletzlich machen.“
„Und weiter?“
„Ja, nichts weiter … oder was meinen Sie?“
„Vielleicht haben Sie ja auch gedacht, wenn Wünsche einen verletzbar machen, dann stelle ich das Wünschen einfach ein. Wer sich nichts wünscht, kann auch nicht mehr enttäuscht werden.“

Maria H. sieht mich erschrocken an.

„Das ist der Schlüssel.“ sagt sie tonlos.
„Der Schlüssel? Was meinen Sie?“
„Der Schüssel zu meinem Leben. Wer sich nichts wünscht, wird auch nicht enttäuscht.“

Warum halten Menschen an gewohnten Strategien fest, auch wenn sie ihnen Nachteile bringen?

Dafür gibt es mehrere Gründe:

  1. Kognitive Trägheit:
    Unser Gehirn ist darauf ausgerichtet, Energie zu sparen, indem es Muster und Gewohnheiten entwickelt, die uns dabei helfen, Entscheidungen schnell zu treffen und Handlungen effizient auszuführen. Wenn wir eine Gewohnheit entwickelt haben, braucht es weniger kognitive Ressourcen, um sie auszuführen, als eine neue Entscheidung zu treffen. Das kann dazu führen, dass wir trotz der Nachteile an unseren Gewohnheiten festhalten.
  2. Kognitive Dissonanz:
    Wenn unser Verhalten nicht mit unseren Überzeugungen oder Werten übereinstimmt, kann dies zu kognitiver Dissonanz führen, einem unangenehmen Zustand der inneren Spannung. Um diese Spannung zu reduzieren, neigen Menschen dazu, ihre Überzeugungen und Werte an ihr Verhalten anzupassen, anstatt ihr Verhalten zu ändern. Dies kann dazu führen, dass wir an Gewohnheiten festhalten, auch wenn sie uns Nachteile bringen.
  3. Emotionale Bindung:
    Gewohnheiten können auch eine emotionale Bedeutung für uns haben, insbesondere wenn sie mit positiven Erfahrungen oder Erinnerungen verbunden sind. Diese emotionale Bindung kann dazu führen, dass wir an Gewohnheiten festhalten, auch wenn sie uns Nachteile bringen.
  4. Sozialer Druck:
    Gewohnheiten können auch von unserem sozialen Umfeld beeinflusst werden. Wenn wir von anderen Menschen umgeben sind, die ähnliche Gewohnheiten haben, kann dies dazu führen, dass wir uns diesen Gewohnheiten anschließen, um dazuzugehören oder um Konflikte zu vermeiden. Dies kann dazu führen, dass wir an Gewohnheiten festhalten, auch wenn sie uns Nachteile bringen.

Um solche Gewohnheiten zu ändern, ist es notwendig, den inneren Engpass, mit dem wir alternative Möglichkeiten ausschließen, zu identifizieren. Das versuche ich mit einem positiven Satz, den die Klientin achtsam vor sich hin sagt. Achtsam deshalb, um ihre spontanen inneren Reaktionen beobachten zu können. Das will ich auch bei Maria H. probieren.

Nachdem sie es sich bequem gemacht und die Augen geschlossen hat, sage ich zu ihr:

„Ich bitte Sie, mal den Satz zu sagen:
»Jetzt bin ich mal dran!“

Die unmittelbare innere Reaktion der Klientin gibt Aufschluss darüber, ob wir auf der richtigen Spur zum Lebensthema sind. Vor allem, wenn die Reaktion negativ oder ablehnend ist.

„Den Satz kann ich nicht sagen!“, entfährt es Maria H.
„Warum nicht?“
„Das klingt so fordernd, so egoistisch, so rücksichtslos!“
„Ah ja? Aber so ein bißchen Egoismus könnten Sie doch brauchen.“
„Warum?“
„Na, um Ihre Wünsche zu verfolgen. Heute, als eine Frau von 55 fünfundfünfzig Jahren.“
„Das hört sich für mich so seltsam an, wenn Sie das sagen. Als dürfte ich das nicht, meinen Wünschen nachgehen.“
„Vielleicht fühlen Sie sich ja innerlich verpflichtet, das Leben Ihrer Mutter fortzuführen.“
„Wie meinen Sie das?“

Bert Hellinger hat als einer der ersten die unsichtbaren Loyalitätsbindungen zwischen Eltern und Kindern aufgedeckt. Oft sind es die Jüngsten eines Systems, die von den Vorderen etwas unbewusst aus Liebe tragen. Die folgenden drei Loyalitätsverstrickungen sehe ich in meiner Coachingarbeit am häufigsten:

1. „Ich folge dir nach.“

Die Treue zeigt sich in diesem Fall darin, dass ein Mensch das Schicksal eines Elternteils mittragen will, in der Hoffnung, es dadurch leichter zu machen. Konkret kann das so aussehen:

  • „Weil du tot bist, will ich auch nicht leben.“
    Oft bei Menschen, die trotz vieler Talente ein kümmerliches Leben führen
  • „Weil du keine/n Frau/Mann hast, will ich auch ohne Partner leben.“
    Häufig bei Frauen, wenn die Eltern sich früh trennen und die Mutter alleine bleibt.
  • „Weil du krank bist, will ich auch nicht gesund sein.“
    Oft bei Patienten, die sich krank fühlen und kein Arzt etwas findet.
  • „Weil ihr damals alles verloren habt, will ich auch arm bleiben.“
    Oft bei Selbständigen, die trotz bester Fähigkeiten, erfolglos bleiben oder insolvent werden.

2. „Ich tue es für dich.“

Im ersten Fall zeigt sich die Treue, indem man dasselbe tut. Bei der zweiten Verstrickung, wird versucht, das Schicksal anstelle des anderen zu tragen. In meiner Coachingarbeit zeigt sich das so:

  • „Ich bin krank, damit du gesund sein kannst.“
    Oft bei chronischen oder psychosomatischen Leiden.
  • „Lieber sterbe ich als du.“
    Eine häufige Dynamik bei Magersucht und Depression.
  • „Lieber opfere ich mich für dich.“
    Häufig bei sexuellem Missbrauch durch den Vater.

3. „Ich büße für dich.“

was bedeutet loyalitätDiese Dynamik zeigt sich vor allem,  wenn sich ein Familienmitglied mit einer Person identifiziert, die aus dem Familienverband ausgeschlossen wurde.  Hier reagiert unbewusst der Mensch nach dem Motto: „Ich mache es wie du.“ Gründe für einen solchen Ausschluss aus der Familie können sein:

  • Scham
    Jemand hat ein uneheliches Kind, ist behindert, homosexuell, alkoholkrank oder hat sich umgebracht.
  • Schuld
    War ein Familienmitglied in den Nationalsozialismus verwickelt?
    Ist jemand in der Familie durch Betrug oder Erbschleicherei zu viel Geld gekommen?
    Hat jemand anderweitig schwere Schuld auf sich geladen?
  • Schmerz
    Häufig bei frühem Tod eines Kindes oder einem tragischen Unfall zu beobachten. Oder wenn ein Kind früh an Pflegeeltern oder Verwandte weggegeben wurde (Adoptionen). Auch Vertreibung aus der Heimat oder Flucht von dort kann eine Rolle spielen. Ebenso tabuisierte Familiengeheimnisse.

Die hier erwähnten Verstrickungen sind in der Regel unbewusst und können deshalb von dem Betreffenden nicht benannt oder geändert werden. Oft erlebe ich, dass ein Klient erst durch eine entsprechende Intervention  erkennt, dass er bisher ein Leben führt, als ob er für etwas büßen müsste.

Im 3-h-Coaching versuchen wir, solche unbewussten Dynamiken zu identifizieren und emotional erfahrbar zu machen. Ein rein rationales Verstehen („Sie meinen, ich versuche, das Leben meiner Mutter fortzuführen?“) greift zu kurz.

Erst die emotionale Erfahrung des inneren Konflikts macht der Klientin deutlich, wo sie festhängt.

„Wissen Sie noch, wie der Satz lautete, den Sie sich vorhin nicht trauten, auszusprechen?“, frage ich Maria H.
„Ja klar, das war … nanu, jetzt fällt er mir nicht mehr ein.“
„Was erinnern Sie denn noch?“
„Hm, den Satz kriege ich nicht mehr zusammen, aber an das beklemmende Gefühl erinnere ich mich deutlich.“

Diese Erinnerungslücke verstehe ich nicht als Zeichen eines schlechten Gedächtnisses, sondern als Ausdruck des inneren Konflikts, den der Satz berührt. Der Satz drückt ja eine Erlaubnis aus, die dem Glaubenssystem der Klientin total widerspricht – und deswegen, um das Glaubenssystem aufrechtzuerhalten „vergisst“ sie ihn sofort wieder bzw. traut sich nicht, ihn laut aussprechen.

„Der Satz lautete: Jetzt bin ich mal dran!“
„Ach ja genau, das war der Satz!“
„Doch vorhin konnten Sie ihn nicht aussprechen, weil er Ihnen zu egoistisch, zu fordernd vorkam.
Wollen Sie es jetzt mal probieren?“

„Was?“
„Na, den Satz laut zu sagen.“
„Muss das sein?“, fragt die Klientin zaghaft.
„Wenn Sie was verändern wollen …“
„Also gut, ich probier es … jetzt … jetzt bist du mal dran … diesmal war der Satz ganz leicht“, berichtet Maria H. stolz.
„Es war ja auch der alte Satz“, antworte ich.
„Wie, der alte Satz? Ich verstehe nicht.“
„Na, der Satz, der bisher als Überschrift für Ihr Leben wichtig war. Dass Sie nicht Ihr Leben führen dürfen, sondern das Ihrer Mutter fortführen müssen.“
„Aber es war doch genau der Satz, den Sie mir gegeben haben: Jetzt bis du mal dran!“ reagiert Maria H. etwas ungehalten. Dann schlug sie die Hand vor den Mund.
„Kapiert! Der Satz hieß: „Jetzt bin ich mal dran!“
Maria H.  erkannte, wie stark ihr bisheriges Lebensthema heute noch ihre Wahrnehmung beeinflusst.

Man muss eine solche Erfahrung mal selbst gemacht oder bei jemand anderem beobachtet haben, um zu verstehen, wie stark Glaubenssysteme wirken, vor allem, so lange sie nicht bearbeitet und ein Stück gelöst sind.

In der letzten halben Stunde des Coachings ging es um die Frage, was Maria H. denn tun würde, wenn sie jetzt mal dran wäre. Da kamen erst mal viele Klagen, dass es doch jetzt mit fünfundfünfzig Jahren zu spät sei, dass sie auch gar nicht wirklich wisse, was sie tun wolle …

Hier ist es gut, als Coach geduldig das Trommelfeuer des Widerstands gegen eine positive Veränderung auszuhalten und keine Ratschläge zu geben. Vielmehr freundlich interessiert auf den Teil der Klientin zu warten, der all die Jahre nicht in den Vordergrund kommen durfte.

„Ja, ich verstehe, eigentlich ist es unmöglich, dass Sie in Ihrem Leben noch etwas verändern. Ihr Leben ist ja auch nicht total schlecht, so wie es ist. Außerdem wissen Sie auch gar nicht, was Sie tun wollten, wenn in Ihrem Leben Sie jetzt mal dran wären. Und vor allem, mit fünfundfünfzig Jahren ist man doch viel zu spät dran. Alle anderen haben so einen großen Vorsprung.“

Maria H. hört mir zu und nickt hin und wieder, als ich ihre wichtigsten Argumente gegen eine Veränderung aufzähle.

„Genau so ist es!“, pflichtet sie mir bei.
„Aber angenommen, es würde jetzt ein Wunder geschehen oder Sie bekämen ein zweites Leben geschenkt, in dem Sie die Hauptrolle spielten. In dem Sie sich dem widmen dürften, was Ihnen wirklich am Herzen liegt …“
„Dann wäre ich Malerin geworden!“ unterbricht Maria H. mich und erschrickt über ihre plötzliche Vehemenz.
„Das wollte ich schon als Kind und als Jugendliche, aber meine Eltern redeten mir das regelmäßig aus … und jetzt wo sie tot sind und mir nicht mehr reinreden können, bin ich zu alt.“
„Zu alt, um mit dem Malen anzufangen?“
erkundige ich mich.
„Ja natürlich, wer fängt denn schon mit fünfundfünfzig noch das Malen an?“

Jetzt sind wir wieder an einer entscheidenden Stelle im Coachingprozess.

Nämlich da, wo sich herausstellt, ob die Klientin wirklich etwas verändern oder lieber weiter hadern will. Dabei ist mein Leitspruch: Wer etwas will, findet Wege. Wer etwas nicht will, findet Gründe.

„Kennen Sie Grandma Moses?“ , frage ich.
„Den Namen habe ich schon mal gehört, weiß aber gerade nicht, wer das sein soll.“
„Grandma Moses fing auch spät mit dem Malen an. Nämlich mit fünfundsiebzig Jahren. Davor bekam sie zehn Kinder. Sie wurde einhundertein Jahre alt und malte viele Bilder. Eine andere Frau, Carmen Herrera aus Kuba, verkaufte ihr erstes Bild mit neunundachtzig.“
„Sie wollen mir Mut machen“,
sagt Maria H.
Nein, ich will Ihnen nur deutlich machen, dass die Grenzen, mit denen wir uns behindern, oft nur in unserem Kopf sind, nicht in der Realität. Sie haben aus Ihrem Leben bisher wenig gemacht, weil Sie es immer  anderen recht machen wollten. Aber jetzt ist eigentlich niemand mehr da, dem Sie es recht machen müssten. Jetzt sind Sie mal dran!
„Und Sie meinen, das kann ich einfach so beschließen?“
„Es zu beschließen, dass Sie jetzt mal dran sind, ist der erste Schritt. Und dann dürfen Sie handeln. Sie sagten, wenn es nur um Sie ginge, dann würden Sie malen wollen. Dann wissen Sie doch, was jetzt dran ist.“


Vier (!) Jahre später bekam ich eine Einladung zu einer Ausstellung. In der beigefügten Karte schrieb Maria H., dass sie direkt nach unserer Sitzung damals in einem Geschäft Acrylfarben und Leinwände gekauft habe. Zu Hause hätte sie wie im Rausch bis spät in die Nacht gemalt.
Nachdem sie in all den Jahren viele Bilder gemalt hatte, drängten Freunde sie, diese doch mal einem größeren Publikum zu zeigen. Sie habe das aber immer abgelehnt mit dem Argument, sie sei doch keine richtige Malerin. Als sie darüber nachdachte, sei ihr bewusst geworden, dass dies auch die Reaktion ihrer Mutter gewesen wäre.
Dann habe sie beschlossen, mit zwei Malerfreundinnen diese Ausstellung zu organisieren. Der Titel sei: „Gut genug!“

Ich schrieb zurück, ihre Geschichte erinnere mich an den Film „Das Beste kommt zum Schluss!“ 
Und in ihrem Fall wisse man ja noch gar nicht, wann Schluss ist.

 

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Business-Coachings

Life-Coachings

PS: Alle Fallgeschichten sind real, aber so verfremdet, dass ein Rückschluss auf meine Klienten nicht möglich ist und die Vertraulichkeit gewahrt bleibt.


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Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.