„Von der Kinderverschickung habe ich heute noch Alpträume“, sagte die Frau im Coaching.

Kommentare 24
Allgemein

kinderverschickung, verschickungskinder, kopp-wichmann, persoenlichkeits-blog,

Zwangsernährung, das eigene Erbrochene essen müssen, brutale Strafen, Schläge, Isolation, sexuelle Übergriffe und medikamentöse Sedierungen – das ist vielen Millionen Menschen in den 1950er Jahren und später passiert. Und zwar mitten in Deutschland. Es widerfuhr Kindern zwischen zwei und zehn Jahren, die im Rahmen der Kinderverschickung zur Kur geschickt wurden.
Welche Folgen das noch Jahrzehnte danach haben kann und warum die Übung „Der sichere Ort“ hier helfen kann, lesen Sie in diesem Fallbericht. 

„Alle paar Wochen habe ich denselben Alptraum. Ich liege nachts in einem großen Saal mit vielen anderen Kindern. Es herrscht totale Stille. Keiner darf  sich rühren, keiner darf reden. Denn durch die Bettreihen gehen Soldaten mit Maschinengewehren. Ich muss dringend aufs Klo, traue mich aber nicht aufzustehen. Ich bin ganz verzweifelt. Dann wache ich auf.“

Diesen Traum berichtet meine neue Klientin im 3-h-Coaching, Waltraud E., Inhaberin eines Modegeschäfts, 61 Jahre alt, geschieden, zwei erwachsene Kinder.

„Und haben Sie eine Idee, warum Sie das so häufig träumen?“ fragte ich.
„Erst seit einigen Monaten weiß ich das. Vor einem halben Jahr starb meine Mutter und beim Ausräumen ihrer Wohnung fiel mir ein Umschlag mit Briefen und Fotos in die Hände. Es waren Briefe von mir, die ich als kleines Kind meinen Eltern aus einem Kinderheim geschrieben hatte. Erst konnte ich mit den Briefen nichts anfangen, aber dann kam Stück für Stück die Erinnerung zurück. Meine Eltern haben mich mit sieben Jahren wegen Untergewicht in ein Kinderheim im Allgäu geschickt. Ich war ein Verschickungskind!“

Ich hörte den Begriff zum ersten  Mal. Verschickungskind? Was sollte das sein?

kinderverschickung, verschickunskinder, kopp-wichmann, persoenlichkeits-blog,

Kinderverschickung – ein Milliardengeschäft mit schlimmen Folgen.

Verschickungskinder wurden in den 50er bis 90er Jahren allein, ohne Eltern, in Kinderkuren, Kindererholungsheime und  Kinderheilstätten verschickt. Recherchen sprechen von mindestens 8 – 12 Millionen betroffenen Kindern.

„Vorbild“ waren die Kinderlandverschickungen in der Weimarer Republik und danach die in die NSV-Heime unter den Nazis. Erst seit kurzer Zeit – seit 2019 – wurde das Thema publik und Erwachsene, die Verschickungskinder waren, melden sich vermehrt mit erschütternden Berichten über diese Aufenthalte.

Wie kam es dazu?

Nachforschungen von Initiativen legen nahe, dass es wohl eine konzertierte Aktion war, um den Kurorten in Deutschland zu neuem Aufschwung zu verhelfen. Einige Orte und Einrichtungen waren ehemalige NS-Anstalten, etwa Ferienlager für die Hitlerjugend. Dieses Geschäftsmodell lag nach 1945 danieder, aber mit den Kurheimen für Kinder versprach man sich eine neue lukrative Einkommensquelle.

Ermöglichten doch die Kinderkuren eine kontinuierliche Bettenbelegung über das ganze Jahr, auch außerhalb der Ferien, finanziert durch die Krankenkassen. Auch für die Bundesbahn waren die Millionen von Kindern jährlich ein willkommenes Zusatzgeschäft. Sogar örtliche Kleinbetriebe profitierten.  Bei der Ankunft im Heim wurden meist alle mitgegebenen Pflegeartikel wie Zahnpasta und Cremes eingesammelt. Zudem mussten die Kinder von ihrem Taschengeld am Ende der Kur ein Abschlussfoto und weitere Souvenirs bei Händlern, die extra dafür ins Heim kamen, kaufen.

Chronisch kranke Kinder mit TBC, Asthma, Diabetes oder Rheuma wurden in Kinderkurkliniken verbracht. Kinder mit Bronchitis, Über- oder Untergewicht oder Haltungsschäden kamen in Kindererholungsheime.

Bekannte Kur- und Erholungsorte waren etwa Norderney, Sylt oder Berchtesgaden. Die Heime trugen blumige Namen wie „Haus Glückauf“, „Bergfreude“ oder „Kinderparadies“. Kaum einer vermutete, dass sich dahinter allzuoft schlimme Verwahrungsanstalten verbargen. Im Jahr 1964 gab es über 800 solcher Einrichtungen.

Hier ein Video von Report Mainz.

Das strenge Regiment der Tanten.

„Welche Erinnerungen haben Sie an Ihren Aufenthalt in diesem Kurheim?“, wollte ich wissen.
„Ich habe eigentlich viel verdrängt oder vergessen, aber so langsam kommen doch die Erinnerungen zurück. Vor allem nachdem ich Berichte von anderen betroffenen Verschickungskindern im Internet gelesen habe.

Nach dem Mittagessen mussten wir zum Beispiel immer schlafen. Jedes Kind, das da nicht schlief, bekam Minuspunkte in seinem Schlafpass. Ich war mittags nie müde, konnte also auch nicht schlafen und das bedeutete am nächsten Tag keinen Nachtisch. Außerdem wurden die Unterwäsche täglich untersucht.
Aber mit am schlimmsten war das Essen. Zum Frühstück gab es immer warmen Haferschleim ohne Zucker und eine dicke Scheibe Brot mit Marmelade. Beides schmeckte mir nicht. Ich musste alles essen, denn ich sollte ja an Gewicht zunehmen. Doch es half nichts, ich legte nur wenig zu, was ich bei den Untersuchungen auch zu spüren bekam. „Du musst besser essen!“ gefolgt von zwei Ohrfeigen.

Beim Essen durfte nicht gesprochen oder gelacht werden. Als ich einmal lachte, musste ich mein Abendbrot unterbrechen und wurde sofort ins Bett geschickt. Wenn wir abends nicht sofort still waren und herumalberten, gab es manchmal auch Schläge. Die Betreuerinnen mussten wir  »Tante« nennen.“

„Woran erinnern Sie sich noch?“ forschte ich weiter.
„Post von zuhause wurde grundsätzlich durchsucht. Das Geld wurde durch das Personal einbehalten – ohne Erklärung. 
Schlimm war auch, dass einem nichts gehören durfte. Das heisst, die besondere Zahnpasta mit Orangengeschmack, die mir meine Eltern eingepackt hatten, wurde erstmal für alle Kinder aufgebraucht und dann die nächste Tube. Ich hatte auch einen tollen grünen Schlafanzug, den ein anderes Mädchen auch schön fand, also durfte sie ihn eine Nacht lang anziehen. Päckchen von meinen Eltern wurden von den Tanten geöffnet und ohne mich zu fragen an alle Kinder aufgeteilt. Damit die Kinder, die kein Päckchen bekommen hatten, nicht traurig wurden, war die Erklärung.“ 

Viele Betroffene berichten vom Zwang zu essen, Erbrochenes zu essen, aber auch das Verweigern von Essen und Trinken als Strafe. Schläge waren teilweise an der Tagesordnung Aber auch Herabwürdigungen, Strafen bei Einnässen, Weinen, bei lautem Reden usw.

Auch Briefe oder Postkasten wurden oft vor dem Absenden kontrolliert, denn negative Erzählungen der Kinder waren gerade am Anfang häufig und sollten die Eltern nicht in Sorge versetzen. Besuche der Eltern waren meist untersagt, denn dadurch könne der Erfolg der Kur gefährdet werden, hieß es.

kinderverschickung, verschickungskinder, kopp-wichmann, persoenlichkeits-blog,

 

Die psychischen Folgen dieser „Kuraufenthalte“.

Noch heute ist der Aufenthalt im Kurheim bei vielen »Verschickungskindern« mit belastenden Erinnerungen verbunden. Die wochenlange Trennung von den Eltern, die strengen Disziplinierungsmethoden und demütigenden Strafen haben ihre Spuren hinterlassen.

Vor allem weil das kindliche Stresssystem kaum in der Lage ist, allein mit Angst auslösenden Ereig­nissen umzugehen. Der meist unbegleitete Transport in die Kurheime und die wochenlange Trennung war für die Kinder weder zeitlich noch emotional einzuordnen oder zu verarbeiten.

„Abends stand ich oft am Fenster und hatte die Phantasie, dass ich vielleicht entführt worden war und für immer hier bleiben müsse. Ich hatte fast jeden Tag schreckliches Heimweh. Wenn der Mond schien, stellte ich mir vor, dass irgendwo da draußen meine Eltern und meine ältere Schwester auch jetzt auf den Mond schauen würden und wir so verbunden wären.“

„Wie war die Rückkehr zu Ihrer Familie?“ fragte ich Waltraud E.
„Daran erinnere ich mich nicht mehr. Aber man erzählte mir, dass ich ziemlich verstört gewesen sei. Ich hätte tagelang nicht gesprochen und nur stumm in meinem Zimmer gesessen. Und zugenommen hatte ich übrigens auch nicht.“

„Ich kann mir vorstellen, dass Sie als Kind damals einen starken Vertrauensverlust erlebt haben“, sagte ich.
„Sechs Wochen getrennt ohne Vorankündigung, bei fremden Menschen untergebracht zu werden. Das muss fürchterlich für Sie gewesen sein.“
„Was nach dem Verschickungsaufenthalt war, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, ich habe das alles verdrängt. Aber was Sie gerade von dem Vertrauensverlust sagten, ich glaube, das trifft es gut. Denn vertrauen kann ich seitdem niemand mehr.“

Die meisten Kinder wurden im Alter von zwei bis zehn Jahren verschickt. Ohne Eltern oder andere vertraute Menschen wurden sie wochenlang bei Fremden untergebracht.

Man kann vermuten, dass die ganze Aktion neben den wirtschaftlichen Interessen auch gut gemeint war. Kinderärzte haben die Kuren wegen Atemproblemen oder angeblichem Untergewicht verschrieben. Eltern vertrauten den Ärzten blind, auch weil diese damals noch eher als Halbgötter in Weiß gesehen wurden, deren Anordnungen man nicht hinterfragte.

Die Kontaktmöglichkeiten waren gering. Es gab keine Smartphones, die meisten Eltern hatten nicht mal ein Telefon. Briefe oder Päckchen waren die einzige Möglichkeit, sich mitzuteilen und auch die wurde den Kindern oft genommen.

Viele der Verschickungskinder von damals leiden noch heute unter Angst- und Bindungsstörungen oder Depressionen. Oft war die Beziehung zu den Eltern, die ihre Kinder in diese Situation gebracht hatten, durch anhaltendes Misstrauen belastet. Über die Geschehnisse in den Heimen zu reden, wurde von vielen Eltern abgelehnt („Du übertreibst!“). Der Kinderarzt habe es doch empfohlen und man habe eben gemeint, dass es dem Kind guttun würde. Oft hat man ihnen später, zu Hause, nicht geglaubt. Einige sagen, dass sie nach dem Horror im Heim nie wieder derselbe Mensch waren.

Mehrere Wochen Trennung von den Eltern sind für Kinder eine unendliche Zeitspanne. Je jünger sie sind, umso schlimmer. Die Zeit scheint endlos, die kindliche Welt bekommt einen tiefen Riss. Die Familie und das Elternhaus scheinen verloren, jede vertraute Orientierung im Leben ist weggebrochen.


 

Die Kinderverschickung dieser Zeit folgte Nazi-Grundsätzen.

So unvorstellbar solche Vorgänge heute bei uns wären, kann man fragen, wie so etwas in den Nachkriegsjahren bei uns millionenfach möglich war. Ohne jeden Protest. Ohne einen einzigen kritischen Bericht in den Zeitungen.

Wie konnte es zu dieser für die Kinder fatalen Zusammenarbeit von Behörden, Krankenkassen, Kinderärzten und Eltern kommen? Mehrere der Kurheime, in die Tausende von Kindern verbracht wurden, leiteten hochrangige NS-Funktionäre. Neben straffer Aufsicht, willkürlichen Strafen kam auch Medikamente zum Einsatz. Hierzu ein Film der ARD.

kinderverschickung, verschickungskinder, kopp-wichmann, persoenlichkeits-blog,Es hängt wohl damit zusammen, dass generell die Prinzipien der Kindererziehung ab 1930 stark vom Nationalsozialismus geprägt waren.

»Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind«, hieß ein Buch von Johanna Haarer, das seit 1934 in Massenauflagen verbreitet war und das noch lange in die Nachkriegszeit hineinwirkte. Hier eine kluge Analyse dazu.

Verpackt in Ratschläge zur »richtigen« Babypflege wurde darin unerfahrenen Müttern ein Erziehungsstil nahegebracht, der aus der NS-Ideologie stammte. Haarers Ratgeber wurde in der Ausbildung von Säuglingskrankenschwestern genutzt, die dieses Gedankengut  wiederum in bester Absicht an junge Mütter weiter­gaben.

Beim Lesen fällt auf, dass der Umgang mit Kleinkindern vor allem als ein dauernder Machtkampf gesehen wird. Ein Machtkampf, den die Mutter auf jeden Fall gewinnen muss, will sie ihr Kind nicht zu einem „Haustyrannen“erziehen.

Empfohlene Ratschläge dazu waren:

  • Gleich nach der Geburt sei es empfehlenswert, das Kind für 24 Stunden zu isolieren. Statt in einer „läppisch-verballhornten Kindersprache“ solle die Mutter ausschließlich in „vernünftigem Deutsch“ mit ihm sprechen, und wenn es schreie, solle man es schreien lassen. Das kräftige die Lungen und härte ab.
  • Beginnt das Kind zu schreien oder zu weinen, solle man es ignorieren: „Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen. Das Kind begreift unglaublich rasch, dass es nur zu schreien braucht, um eine mitleidige Seele herbeizurufen und Gegenstand solcher Fürsorge zu werden. Nach kurzer Zeit fordert es diese Beschäftigung mit ihm als ein Recht, gibt keine Ruhe mehr, bis es wieder getragen, gewiegt oder gefahren wird – und der kleine, aber unerbittliche Haustyrann ist fertig!“
  • „Am besten ist das Kind in einem eigenen Zimmer untergebracht, in dem es dann alleine bleibt“
  • „Die unerschütterliche Liebe der Mutter sollte dem Kind nicht zu deutlich gezeigt werden, sondern man soll ihm vorübergehend das Wohlwollen entziehen, das bedeutet in vielen Fällen schon Strafe genug, das Kind sucht dann nach Versöhnung.“

Diese für uns heute undenkbaren Erziehungsgrundsätze sind vielleicht am besten verstehbar auf dem Hintergrund der Zeit.

Will man junge Menschen zu guten Soldaten und Mitläufern zu machen, hilft es, wenn diese Menschen emotionslos und bindungsscheu sind. Die kein eigenes stabiles Ich entwickeln konnten, sondern stattdessen ihre Identität in einer Gruppe oder einer Ideologie finden. »Solche Kinder, die verführbar sind, nicht denken und nicht fühlen, sind praktisch für eine Kriegernation«, sagt dazu ein Psychiater. Die Empfehlung an Mütter, die Bedürfnisse ihrer Babys gezielt zu ignorieren, passt dann sehr gut.

Wie sehr dieses kinderfeindliche Denken heute noch in vielen Köpfen herumwabert, zeigt der Erfolg des Bestsellers »Jedes Kind kann schlafen lernen«. Rät es doch noch in der 8. Auflage von 2013 (!), Kinder mit Ein- oder Durchschlafproblemen allein in ein Zimmer zu legen und in immer längeren Abständen zwar nach ihnen zu schauen, sie aber auf keinen Fall, auch wenn sie weinen, hochzuheben. Zum Glück gibt es unter den 1200 Bewertungen  auf Amazon auch viele, die diese Ratschläge grauenhaft und sadistisch nennen („Die Kinder lernen nicht zu schlafen, sie kapitulieren! „)

 

kinderverschickung, verschickungskinder, kopp-wichmann, persoenlichkeits-blog,

„Flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl.“

So lautete ein Wahlspruch im Nationalsozialismus. Wollte man doch einen neuen Typ Mensch schaffen, der dem System willenlos dienen sollte.

Kern der Ratschläge von Johanna Haarer war folgerichtig, dem Kind keine Zuwendung zu geben, wenn es danach verlangt. Doch jede Verweigerung erlebt das Kind als eine persönliche Zurückweisung. Ein Säugling hat als Kommunikationsmöglichkeit nur Mimik, Gestik und Stimme. Folgt darauf keine Reaktion, lernt er, mit der Zeit dass seine Signale nichts wert sind. Dass er selbst nicht eine Reaktion wert ist.

Nicht umsonst werden in Foltergefängnissen Nahrungsentzug und Isolation eingesetzt. Denn nach einiger Zeit bricht darunter jedes Ich zusammen.

In ähnlicher Weise erleben Kleinkinder Todesangst, wenn sie Hunger, Durst oder Einsamkeit verspüren und niemand sich darum kümmert. Im schlimmsten Fall könnten solche Erfahrungen dann zu einem Bindungstrauma führen, das es den Betroffenen auch im weiteren Leben schwer macht, Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen.

„Dass die Kinderverschickung als Sechsjährige bei mir tiefe Spuren hinterlassen hat, war mir lange Zeit nicht bewusst. Dass ich mich unter vielen Menschen nicht so wohl fühlte oder in Gesellschaft wenig redete, erklärte ich mir damit, dass ich eben ein introvertierter Mensch bin. Auch dass ich im Urlaub am liebsten allein verreise und nur Unterkünfte miete mit möglichst wenigen Gästen, fand ich völlig normal“, fuhr Waltraud E. fort.
„Aber irgendwann hinterfragten Sie Ihr Verhalten?“
„Ja, eines Tages bei einer Familienfeier sagte meine erwachsene Tochter, ich würde bei solchen Gelegenheiten den Eindruck vermitteln, dass ich gar nicht hier sein wolle, sondern lieber ganz weit weg. Diese Bemerkung traf mich wie ein Blitz, weil sie genau das ausdrückte, wie ich mich in Gesellschaft immer fühle. Ich wollte nicht hier sein.
Ein paar Wochen später sah ich zufällig einen Bericht über die Kinderverschickungen und dann überfielen mich die Erinnerungen.“

Man kann vermuten, dass auch ein Teil der Nachkriegs­generation noch mit Elementen dieser Ideologie aufgewachsen ist. Das wäre eine Erklärung, warum noch in den 1970er-Jahren Kinderärzte und Eltern es völlig akzeptabel und günstig ansahen, kleine Kinder über mehrere Wochen an einen unbekannten Ort in fremde Hände zu geben. 

Statt seinem Kind einen Weg ins Leben zu bahnen, galt es doch nach dieser Ideologie, ein wildes Wesen zu bezwingen.

Wissenschaftler, Ärzte und Hebammen waren sich deshalb in den Empfehlungen an die Eltern einig. Wichtig waren:

  • Eiserne Konsequenz beim Einhalten der Schlaf- und Essrhythmen
  • Wenig Körperkontakt
  • Kein Mitleid

Nur so würde der Nachwuchs für die Härten des Lebens am besten gerüstet sein. Das Verschicken eines Kindes für sechs Wochen zu fremden Menschen und die strenge Aufsicht von »Tanten« ist da nur folgerichtig.

Doch ist diese Erziehungsideologie weder auf den Nationalsozialismus noch auf Deutschland beschränkt, fand die Historikerin Miriam Gebhardt heraus, die in ihrem Buch »Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen« die Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert erforscht hat.

 


 

Warum Verschickungskinder im Leben oft schwer vertrauen können.

Erfahrungen in den ersten zehn bis zwölf Lebensjahren haben einen starken Einfluss auf unsere Glaubenssysteme. Aus diesen tiefen Überzeugungen leiten wir ab, wie die Welt wirklich ist, wie andere Menschen sind, wie wir selbst sind, und wie wir zu sein haben, um einen guten Platz im Leben zu finden.

Diese Glaubenssysteme werden von unserem „inneren Kind“ gebildet. Doch weil dieses Kind nur ein begrenztes Denkvermögen hat, sind die gezogenen Schlussfolgerungen aus dem, was es erlebt, naturgemäß nicht wirklichkeitsgerecht. Aber das Kind sucht und findet einen Ausweg, eine Verhaltensstrategie, wie es zu sein hat.

Wer als Verschickungskind von heute auf morgen mehrere Wochen an einen unbekannten Ort zu wildfremden Menschen gebracht wird, muss mit dieser Situation fertigwerden. Vor allem, weil das Kind allein auf sich gestellt ist – und weil es sich keine Fahrkarte kaufen kann, um nach Hause zu fahren.

Häufige Glaubenssysteme, die Verschickungskinder als Reaktion auf die neue Situation entwickeln, lauten:

  • „Meine Eltern wollten mich loswerden, weil ich ihnen zu viel war.“
  • „Wenn ich alle meine Gefühle in mir verschließe, kann ich es aushalten.“
  • „Die Welt, wo so etwas passiert, ist ein gefährlicher Ort.“
  • „Ich werde nie wieder jemandem vertrauen, dann verletzt mich auch nichts mehr.“
  • „Fühlen ist gefährlich. Nicht fühlen macht stark.“

 

Wirksames Coaching muss am Engpass ansetzen.

Menschen können in bestimmten Situationen in äußerst starre Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster geraten. Hypnotherapeuten nennen diesen Zustand „Problemtrance“. Gerät ein Mensch durch einen Auslöser da hinein, sind seine Wahrnehmung, sein Denken und Handeln völlig verengt. Im Blick ist dann nur eine einzige Verhaltensstrategie, die Erfolg verspricht.

Wir alle greifen heute unbewusst zu diesen frühen Überlebensstrategien, meist dann:

  • Wenn eine Situation im Hier und Jetzt als belastend bzw. bedrängend erlebt wird.
  • Wenn die Situation Ähnlichkeiten mit einer bedrängenden/belastenden Situation in der Kindheit aufweist.
    (Dabei genügt der Amygdala im Gehirn, die auf Gefahren achtet, eine Übereinstimmung von 60 Prozent, um Alarm zu schlagen.)

„Sie sagten vorhin, dass Sie niemandem mehr vertrauen. Wie meinen Sie das?“, wollte ich von der Klientin erfahren.
„Ich war zweimal verheiratet. Einmal fünf und einmal vier Jahre. In dieser Zeit war ich wahnsinnig eifersüchtig, kontrollierte jeden Schritt des Mannes, weil ich immer überzeugt war, dass er fremdging. Dann ging ich selber fremd, weil ich diese Angst nicht aushielt und dachte, wenn er mich wirklich liebt, dann verzeiht er mir das.“
„Sie inszenierten eine Liebesprobe?“
sagte ich zu Waltraud E.

„So habe ich das noch nie gesehen, aber ich glaube, Sie haben Recht.“
„Und das führte aber in beiden Fällen zur Trennung?“
„Ja, ich weiß noch, dass ich jedes Mal schockiert war, denn eigentlich wollte ich mich nicht trennen.“
„Eigentlich? Vielleicht ja doch. Vielleicht wollten Sie in beiden Fällen lieber den Mann verlassen, bevor er sie verlässt.“


Warum diese Übung für Verschickungskinder hilfreich ist.

Traumatherapeuten wissen, dass vielen Klienten die Übung „Der sichere Ort“ hilft. Vor allem in Situationen, die für sie schwierig sind, weil sie alte Ängste triggert. Doch man muss es selbst ausprobieren, welch starke Wirkung das Aufsuchen eines inneren sicheren Ortes haben kann. Manche malen auch ein Bild davon, um einen realen Anker dafür zu haben.

Mit dieser Anleitung finden Sie Ihren sicheren Ort.

Warum wirkt die Methode so gut?
Neurobiologen konnten zeigen, dass es für unser Gehirn keinen Unterschied macht, ob wir etwas real erleben, oder ob wir uns etwas intensiv vorstellen. Das heißt, dass im Gehirn in etwa dieselben Prozesse ablaufen, egal ob man etwas real erlebt oder oder sich dasselbe mit intensiven inneren Bildern nur vorstellt. Denn es sind während der Übung dieselben Gehirnzellen aktiv als würde man die Situation in echt erleben.

Durch die Erfahrung der zwanghaften Verschickung haben die meisten Kinder erlebt, dass diese Welt kein sicherer Ort ist.

Denn plötzlich sind sie von den Eltern getrennt, fremden meist nicht sehr freundlichen Menschen ausgeliefert ohne die Möglichkeit, sich der Situation zu entziehen. Gefühle von Kontrollverlust und Ohnmacht machen sich breit.


 

Den Engpass erkennen und neue Wege bahnen.

Für eine persönliche Veränderung eines problematischen Verhaltens sind zwei Dinge wichtig.

  1. Erkennen, in welcher Situation das problematische Verhalten die beste Wahl war.
  2. Sich bewusst machen, wie man heute immer wieder daran festhält.

Waltraud E. fühlte sich im Kurheim von ihrer Familie verraten und verlassen. Auch die Tanten waren keine Menschen, denen sie sich anvertrauen wollte. Ihre einzige Strategie war: Sich ganz zurückzuziehen, unverletzbar zu machen und niemanden brauchen.

Deswegen schwieg sie viel, wenn sie unter Menschen war, zeigte sich innerhalb der Familie unnahbar und hatte sich alle Näheimpulse abtrainiert. Durch ein Experiment mit einem positiven Satz wollte ich Waltraud E. diesen Engpass deutlich machen und einen möglichen Ausweg andeuten.

Die Sätze sollten in einem achtsamen Zustand ausgesprochen werden. Nur dann kann man die eigenen inneren Reaktionen auf den Satz aus dem Unbewussten registrieren. Ich bat die Klientin, es sich bequem zu machen.

„Ich bitte Sie, mal den Satz zu sagen:
»Ich gehöre hierher«.“

Die Sätze drücken immer Tatsachen aus, man kann sie als wahr bezeichnen. Deswegen ist es wichtig, achtsam zu beobachten, wie das Unbewusste des Klienten den Satz hört und interpretiert. Wird der Satz als zutreffend erlebt, erfolgt keine große Reaktion, sondern eine neutrale Zustimmung.

Reagiert die Klientin jedoch mit „Widerstand“ in Form eines unangenehmen Gefühls, eines ablehnenden Kommentars usw. nehme ich an, dass hier ein wichtiger unbewusster Konflikt steckt, für dessen Lösung bisher das problematische Verhalten notwendig ist.

„Ich gehöre hier nicht her. Ich gehöre nirgendwo dazu. Ich will auch nicht dazugehören!“, war die spontan geäußerte Reaktion von Waltraud E.

Kurheim Gutermann, Oberstdorf, Bild: privat

„Sagen wir mal so“, antwortete ich. Sie sind sehr ambivalent, ob Sie dazugehören oder nicht.
Sie möchten schon, aber aufgrund Ihrer Verschickung haben Sie erlebt, dass Beziehung und Zugehörigkeit auch bedeuten kann, dass man verraten wird. Jedenfalls haben Sie das als Kind geglaubt. Und Ihre Entscheidung, nirgendwo dazuzugehören, schützt Sie davor, wieder verraten und enttäuscht zu werden.“

„Ja, das mit der Ambivalenz stimmt. In dem Umschlag meiner Mutter fand ich auch eine Ansichtskarte, die ich meinen Eltern geschrieben hatte. Und zwei Schreiben des Kinderheims, wo ich war. Beide Male lehnten sie den Besuchswunsch meiner Eltern ab mit der Begründung, dass das den Kurerfolg gefährden könne.“

„Das heißt, Ihre Eltern haben Sie gar nicht im Stich gelassen. Sie ahnten, dass Sie dort Heimweh hatten und wollten Sie unbedingt besuchen.“
„Und ich habe immer gedacht, ich bin ihnen egal“, schluchzte die Klientin auf, „aber es stimmte gar nicht. Sie wollten mich besuchen, aber durften es nicht.“
„Ihre Eltern wollten Ihnen damals zeigen, wo Sie hingehören. Zu dieser Familie.“


 

Für Verschickungskinder sind Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit sehr wichtig.

Anja Röhl war selbst ein Verschickungskind. Auf Ihren Artikel im Jahr 2004 über ihre traumatischen Erfahrungen bekam sie Hunderte von Berichten mit ähnlichen Erlebnissen. Daraufhin entschloss sie sich mit anderen Betroffenen einen Verein zur „Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung e.V.“ zu gründen und veranstaltete zwei Kongresse.

Die meisten Betroffenen haben ein großes Bedürfnis nach Vernetzung. Macht es doch klar, dass man sich die schrecklichen Erlebnisse nicht eingebildet, die seelischen Qualen nicht übertrieben hat. Dafür ist der gemeinsame Austausch ungeheuer wichtig. Zu erleben, damit nicht allein zu sein. Denn das Erlebte hat bei vielen Menschen traumatische Spuren hinterlassen. Der gemeinsame Austausch hilft, die belastenden Erinnerungen einzuordnen und zu bewältigen.

Durch diese Öffentlichkeitsarbeit wird das Schweigegebot gebrochen, und bei vielen ehemaligen Verschickungskindern kommen die verdrängten Erinnerungen zurück.

Hier die Website, wo Betroffene sich informieren können: https://verschickungsheime.de/


 

Nach einem Dreivierteljahr hörte ich wieder etwas von der Klientin.
Nach dem Coaching habe sie sich eine Weile erst mal ganz verloren und depressiv gefühlt. Geholfen habe ihr meine Frage zum Schluß, woran sie denn merken könne, dass sie auch heute dazugehöre. Erst sei ihr nichts eingefallen, dann aber nach einer Weile sei ihr bewusst geworden, dass sie ja doch zum Leben einiger Menschen gehöre. Zum Leben ihrer Eltern. Zu Ihren Kindern, zu denen sie wieder Kontakt gesucht hatte. Zu den Nachbarn in ihrer Straße, in der sie seit dreißig Jahren wohnte. Zu den Menschen in ihrem Kirchenchor. Und auch hierher zu Deutschland gehöre sie ja irgendwie.

Sie habe auch mit einer Gruppe von Verschickungskinder in ihrem Kurheim Kontakt aufgenommen. Dort treffe man sich seit Jahren immer wieder, seit Corona auch online. Das mache ihr noch mal bewusst, dass sie mit Millionen anderere Menschen in Deutschland verbunden ist, die als Kind dasselbe erlitten hätten. Das tröste sie immer wieder.


PS: Ich schreibe diesen Fallbericht auch aus eigener Betroffenheit.

Im März 1957 wurde ich mit acht Jahren wegen angeblichen Untergewichts für sechs Wochen in ein Kinderheim geschickt. Das Foto zeigt mich auf dem Heidelberger Bahnhof. Für mich war es eine schreckliche Erfahrung. Grässliches Essen, absolute Orientierungslosigkeit, wo ich war und warum und wie lange das Ganze dauern sollte.

Obwohl ich mich für einen sehr gut informierten Menschen halte, wurde mir erst durch dieses Coaching bewusst, welches Ausmaß die millionenfache Kinderverschickung hatte. Ich wünsche mir, dass durch diesen Artikel mehr betroffene Menschen davon erfahren.


 

Hier lesen Sie weitere Fallberichte aus meiner Coaching-Praxis:

Business-Coachings

Life-Coachings

PS: Alle Fallgeschichten sind real, aber so verfremdet, dass ein Rückschluss auf meine Klienten nicht möglich ist und die Vertraulichkeit gewahrt bleibt.


Haben Sie auch ein Problem, das Sie bisher nicht lösen konnten?

Dann buchen Sie auch ein 3-h-Coaching oder buchen Sie mein Einzelseminar „Lebensthemen klären“. Derzeit nur online. Wir finden die Lösung dort, wo Sie noch nie gesucht haben. Versprochen!

Hier alle Infos zum Persönlichkeitsseminar „Ihr Lebensthema klären“.

Sind Sie Coach oder arbeiten Sie intensiv mit Menschen und wollen lernen, so zu coachen?
Dann lesen Sie hier …

kommentarWurden Sie als Kind auch zur Kur geschickt?

PS: Wenn Ihnen dieser Beitrag gefiel, dann sagen Sie es doch bitte weiter: auf Facebook, Twitter oder per Email.

… oder schreiben Sie einen Kommentar.
oder abonnieren Sie oben links meine „Sonntagsperlen“.

Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.