„Können Eltern neidisch auf ihre Kinder sein?“, fragte die Frau im Coaching.

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Bild: Motortion iStock.com

Neid gilt als eine der sieben Todsünden und wird meist negativ gesehen.
Dass auch die eigenen Eltern neidisch auf das eigene Leben sein können, ist erstmal schwer zu glauben. Und entsprechend tabuisiert. Woran Sie Elternneid erkennen können, lesen Sie in meinem neuen Fallbericht.

„Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass meine Eltern auf mich neidisch sein könnten. Mein Freund fragte mich das vor einiger Zeit und seitdem lässt mich der Gedanke nicht mehr los“, erzählte Corinna K., im 3-h-Coaching. 28 Jahre, in der Fachärztinnenausbildung Gynäkologie.
„Und wie kommt Ihr Freund auf diese Idee?“, fragte ich nach.
„Weil meine Mutter sich immer Sorgen macht, ob das Studium nicht zu viel für mich wäre. Und später, wenn ich mal Kinder wollte, könnte ich ja auch nicht weiterarbeiten und die ganze Mühe wäre umsonst gewesen.“
„Und wie finden Sie diese Sorgen?“
„Also, das Studium und jetzt die Facharztausbildung mit den ganzen Diensten ist schon anstrengend. Aber das sagen alle, die mit mir studieren. Aber klar, meine Mutter kennt mich am besten und sie will auch sicher nur das Beste für mich. Deshalb verunsichern mich die Warnungen schon. Das führte auch dazu, dass ich vor dem dritten Staatsexamen eine starke Prüfungsangst entwickelte, dass ich ein halbes Jahr aussetzen musste.“
„Das war sicher Wasser auf die Mühlen Ihrer Mutter“,
vermutete ich.
„Ja klar. Was mir geholfen hatte, war der Kommentar meines Vaters, der nur sagte: „Mach uns keine Schande, Du schaffst das schon! Aber er ist eben auch Arzt.“

Im Coaching achte ich immer auf meine Einfälle, Assoziationen und inneren Bilder, die mir so kommen, wenn ich mit einer Klientin in Kontakt bin. Bei Corinna K. tauchte plötzlich dasWort „double bind“ vor meinem inneren Auge auf.

Mit dem Begriff „Double Bind“ bezeichnet man eine Situation, in der jemand in einer Kommunikationssituation zwei widersprüchliche Botschaften (oder auch Aufträge) erhält und dadurch in eine „Zwickmühle“ gerät. Mögliche Beispiele sind:

  • Tu was Du willst, aber enttäusche mich nicht!
  • Du kannst ausgehen, solange Du willst, aber komm nicht zu spät nach Hause!
  • Das muss besser werden, aber ich will keine Veränderung!
  • Nur mit wenig Aufwand hier dran gehen, nur ein paar Stichproben zur
    Kontrolle, aber ich will auf jeden Fall absolute Sicherheit haben!

Aber wieso hatte mein Unbewusstes mir die Idee mit dem double-bind geschickt? Ich verstand den Zusammenhang nicht. Also brauchte ich noch mehr Informationen.

„Wie kamen Sie denn auf Ihren Berufswunsch Ärztin?“
„Nun, mein Vater hatte die Praxis bei uns im Haus. Deswegen war mir die tägliche Arbeit mit Patienten von klein auf sehr vertraut. Beim Mittagstisch redete mein Vater über neue Patienten , ihre Beschwerden und wie man ihnen helfen kann.“
„Und was ist Ihre Mutter von Beruf?“
„Meine Eltern lernten sich im Studium kennen. Das musste meine Mutter abbrechen, weil ich unterwegs war. Drei Jahre später war mein Bruder unterwegs, da hat sie dann ihre Karrierepläne begraben und fing später stundenweise als Praxisassistenz bei meinem Vater an.“
„Das war sicher nicht leicht für Ihre Mutter, oder?“
„Ja, das habe ich gemerkt, als ich mit dem Medizinstudium anfing. Mach bloß nicht denselben Fehler wie ich, schärfte sie mir ein, und lass dir ein Kind anhängen.“
„Was für eine gehässige Bemerkung!“
erschrak ich.
„Wieso gehässig?“, wunderte sich Corinna K. „Damit hat sie sich doch auch ihre Karriere verbaut.“
„Aber das angeblich angehängte Kind sind doch Sie.“

Was mir bei Corinna K. auffiel, war ihr ständiges Bemühen, alles zu verstehen und gutzuheißen. Dahinter steckt meist eine massive Angst vor Konflikten, weil man erlebt hat, dass diese zerstörerisch oder aussichtslos sind, weil die Gegenseite ohnehin stärker ist und gewinnt.

„Wie war das denn, als Sie nach etlichen Schwierigkeiten Ihr zweites Staatsexamen doch geschafft hatten?“, wollte ich wissen.
„Mein Freund war sehr erleichtert und hat sich gefreut. Mein Vater meinte nur, dass er es doch gewusst habe, dass seine Tochter es schaffen würde.“
„Und wie war es für Sie?“
„Irgendwie unwirklich. Ich fand das Examen dann doch gar nicht so schwer und wusste nicht, warum ich mir vorher so einen Stress gemacht hatte.“
„Waren Sie denn stolz?“
„Stolz? Nein, erleichtert ja. Aber nicht stolz.“
„Und Ihre Mutter? Wie reagierte die?“
„Ziemlich besorgt, dass ich vielleicht jetzt noch die Facharztausbildung machen könnte. Das wäre doch nicht nötig und viel zu anstrengend für mich mit den vielen Nacht- und Wochenenddiensten. Ich könne doch auch als praktische Ärztin arbeiten oder beim Gesundheitsamt. Aber das war nichts für mich, ich wollte später mal in einer Klinik arbeiten. Als ich ihr das sagte, reagierte sie ziemlich kühl, es wäre ja mein Leben. Das versetzte mir doch einen argen Stich, dass sie sich nicht für mich freute oder mich bei meinen Plänen unterstützte.“
„Haben Sie eine Idee, warum Ihre Mutter so reagierte?“,
fragte ich Corinna K.
„Nicht so richtig. Zumal sie bei meinem Bruder ganz anders reagiert. Wenn der im Tennis mal ein Turnier gewonnen hatte, war sie megastolz und erzählte es allen. Jetzt arbeitet er in einem Gartenbaubetrieb und meine Mutter fragt ihn dauernd nach Tipps für unseren Garten.“
„Ihre Eingangsfrage war ja, ob Eltern neidisch auf ihr Kind sein können. Und ja, ich glaube, das Verhalten Ihrer Mutter lässt sich am besten mit unbewussten Neidgefühlen erklären.“

Töchter betrachten ihre Mütter oft als Vorbilder und wollen verständlicherweise ihre Unterstützung und Zustimmung. Bleiben diese Unterstützung und Zustimmung aus, kann das bei den Töchtern Gefühle der Leere oder Angst auslösen. Andererseits ist es nachvollziehbar, dass eine Mutter, der weniger Möglichkeiten eingeräumt wurden wie der Tochter, Neid und Eifersucht empfinden kann, wenn sie sieht, wie ihr Kind auf eine Weise erfolgreich ist, die vor vierzig Jahren undenkbar war.


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Bild: fizkes iStock.com

Wie entsteht eigentlich Neid?

Neid liegt in unseren Genen. Davon ist Pro­fes­sor Cab­ra­les von der Uni­ver­si­tät in Madrid überzeugt. Er glaubt, dass Neid Menschen schon früh angestachelt hat, mehr als andere haben zu wollen, denn nur so konnte man über­le­ben.

Mitt­ler­weile leben die meisten Menschen nicht im Mangelzustand und kämpfen ums Überleben. In der Fußgängerzone oder im Internet erleben wir die Zeichen des Über­flus­ses. Aber der Neid und damit der Wett­streit um beson­ders begehrte Res­sour­cen ist nach wie vor aktuell. Dazu tragen auch die „sozialen“ Netz­werke bei, die einen stän­di­gen Ver­gleich ermög­li­chen und herausfordern.

Nach der “Theorie des sozialen Vergleichs” des amerikanischen Psychologen Leon Festinger gewinnen wir Informationen über uns selbst, indem wir uns mit anderen vergleichen – vor allem dann, wenn sonst ein objektives Kriterium fehlt. Die meisten Informationen liefert uns dabei der Vergleich mit anderen, die uns in vielen Merkmalen ähnlich sind. Das können Partner, Kollegen, Nachbarn oder Mitglieder der eigenen Familie sein.

Objekt des Neids kann alles sein. Egal ob es um unsere Fitness, den beruflichen Erfolg, die Qualität der Paarbeziehung oder den besten Rasenmäher geht. Auch Menschen, denen es objektiv schlechter geht oder die selbst nicht so viel haben, können beneidet werden. Bei Facebook kann man wütende Kommentare lesen, dass Bedürftigen auch die kleinsten Zuwendungen missgönnt werden („Sozialschmarotzer“). So machen sich Asylbewerber oder Hartz-IV-Empfänger angeblich auf Kosten der Allgemeinheit ein schönes Leben.

In Deutschland wird Neid besonders gefürchtet. Kaum jemand redet hier gern darüber, wie viel er verdient oder wie erfolgreich er oder sie ist. Unternehmer oder erfolgreiche Selbständige fahren oft mit einem kleineren Auto in die Firma, um nicht als  raffgierige „Kapitalisten, Ausbeuter, Halsabschneider“ wahrgenommen zu werden.

Der ungeliebte Neidreflex erwischt uns aber nur dann, wenn wir uns mit bestimmten Menschen vergleichen. Vor allem wenn diese drei Faktoren berührt werden:

  • Persönliche Relevanz:
    Neidisch werden wir nur bei Themen, die uns wichtig sind. Dass jemand einen Riesenwels von drei Metern aus dem Fluß zog, steht zwar in der Zeitung, aber kaum jemand ist darauf neidisch. Wer seit Jahrzehnten beim Lotto spielt und dabei höchstens 150 Euro gewonnen hat, wird aber wohl neidisch, wenn er liest, dass jemand mit nur einem Schein einen Millionengewinn einstreicht.
  • Soziale Nähe:
    Wir beneiden eher Personen, die wir persönlich kennen und denen wir nahestehen. Wenn ein Filmstar in Hollywood sein Geld für teure Autos ausgibt, geht uns das weniger an als der neue Wagen unseres Nachbarn. Unsere Missgunst richtet sich also eher gegen die eigene Schwester als auf reiche und schöne Promis wie Kim Kardashian.
  • Ähnlichkeit:
    Je ähnlicher uns die andere Person ist, desto mehr tut der Vergleich weh, wenn wir den Kürzeren ziehen. Übertrumpft uns ein Mensch im gleichen Alter, mit dem gleichen Geschlecht, der in der gleichen Branche arbeitet, versetzt uns das eher einen Stich, als wenn es sich um eine viel ältere Person handelt, mit der wir kaum etwas gemein haben.

Das Entstehen von Neidgefühlen lässt sich zweifach verstehen. Zum einen aus unserem Bedürfnis, sich selbst für wichtig und wertvoll zu halten. Zum anderen aus dem Wunsch, unseren Platz in der sozialen Hierarchie zu verbessern. Evolutionär betrachtet bedrohte ein niedriger Rangplatz in einer Gruppe unseren Überlebens- und Fortpflanzungserfolg.

Zwei Formen des Neids.

Neid kann uns motivieren, die Distanz zum überlegenen Vergleichsstandard abzubauen. Im positiven Fall versucht der Neider, das unangenehme Gefühl in eine positive Kraft umzuwandeln, um die beim anderen begehrten Güter oder Eigenschaften selbst zu erlangen. Also: „Das was du hast, will ich auch!“

  • Als Boris Becker mit siebzehn Jahren Wimbledon gewann, hat das Tausende von Jugendlichen so begeistert, dass der Tennissport einen enormen Aufschwung erfuhr.

Im destruktiven Fall, versucht der Neidische die begehrten Güter oder Eigenschaften zu entziehen, sie unbrauchbar zu machen oder zu vernichten. Also: „Weil ich das nicht habe, sollst du es auch nicht haben.“ Dabei spielt auch das Selbstwertgefühl eine große Rolle. Ist das eher gering, kann man auch anderen schwerlich etwas gönnen oder sich mit ihnen freuen.

  • Der neidische Kollege weigert sich mit immer neuen Ausreden, seinen Teil zum Projekt beizusteuern.
  • Der Jugendliche bewundert den Lamborghini – und zerkratzt den Lack.
  • Der Partner lästert über die Erfolge seiner Partnerin und findet sie karrieregeil.

Beide Strategien lassen sich umgehen, indem man Situationen, in denen man neidisch werden könnte, von vornherein meidet.

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Warum können Eltern neidisch werden?

Wenn das letzte Kind das Familiennest verlässt, machen die Eltern oft eine Bestandsaufnahme. Welches Leben haben wir jetzt noch, wenn die Kinder nicht mehr da sind? Was machen wir jetzt mit unserer Zeit? Womit füllen wir die kommenden Jahre? Wer bin ich, wenn ich nicht mehr die Mutter oder Vater im Alltag bin?

Wer sich bisher stark oder ausschließlich über die Elternrolle definierte, erlebt jetzt vielleicht nicht den euphorischen „Wind of change“, sondern den Schmerz des Verlustes und eine unangenehme Verwirrung oder Leere. Oder eben Neid.

Eltern können neidisch darauf sein, wie ihr Kind sein Leben lebt. Sie sind vielleicht eifersüchtig auf seinen Job, das Aussehen oder sogar auf die Beziehung, die das Kind mit dem anderen Elternteil hat. Eltern sind auch nur normale Menschen. Sie leiden wie wir, fühlen sich unsicher wie wir, haben ungelöste Konflikte und versuchen auf ihre gewohnte Weise damit umzugehen und zu leben.

„Woran machen Sie fest, dass Ihre Mutter neidisch ist auf Sie?“, fragte ich Corinna K.
„Manchmal ist es ganz subtil, indem sie vor anderen Dinge aus meiner Kindheit erzählt, in denen ich mich ungeschickt verhalten habe oder einen Fehler gemacht habe.“
„So als würde Sie sie kritisieren, damit sie sich wieder überlegen fühlen kann?“
„Ja, so kommt es mir vor.“
„Das ist eine der giftigsten Mittel, mit denen neidische Eltern das Selbstwertgefühl ihres Kindes untergraben und langfristig unterminieren können.“
„Ihr Vater scheint aber nicht neidisch zu sein auf Sie, oder?“
„Das dachte ich lange auch. Aber je mehr ich über das Thema Neid nachdenke, fallen mir auch komische Angewohnheiten von ihm dazu ein. Wenn ich mit meinem Mann bei meinen Eltern bin, versucht meine Vater oft, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Erwähnt mein Freund, dass er beim Halbmarathon im Frühjahr mitgelaufen ist, erzählt mein Vater gleich von seinen Erfolgen im Tennisverein und will ihm seine Pokale zeigen.“
„Wie geht es Ihnen dabei?“
wollte ich wissen.
„Gemischt. Einerseits ärgert es mich, weil mein Vater sich immer mit anderen messen will, das war auch mit früheren Partnern von mir so. Andererseits bin ich auch froh, dass es die beiden Männer zusammenbringt, denn das ist mit beiden nicht so einfach. Aber was mich wirklich verletzt, ist, dass meine Eltern an allem, was ich tue, etwas auszusetzen und zu kritisieren haben.“
„War das mal anders?“
„Eigentlich nicht. Früher waren es die Schulnoten. Brachte ich eine Zwei nach Hause, fragten sie gleich, wer denn eine Eins bekommen hätte. Bekam ich in Englisch eine Eins, verwiesen sie gleich darauf, dass es in Mathe aber nur eine Zwei war. Dazu muss man wissen, dass meine Eltern beide nur Realabschluss haben.“
„Vielleicht wollten Sie deshalb, dass Sie es mal weiter bringen“,
überlegte ich.
„Aber ich habe es ja viel weiter gebracht. Habe studiert und sogar promoviert. Aber richtig darüber gefreut haben sie sich nicht. Wenn heutzutage so viele Frauen studieren, wer soll denn da die Kinder kriegen, war mal der Kommentar meiner Mutter in einem Streit.“
„Klingt etwas verbittert“,
antwortete ich, „und Ihre Mutter war ja recht jung als Sie auf die Welt kamen.“
„Und sie wollte eigentlich Arzthelferin werden, das hat aber dann nicht geklappt, weil sie schwanger wurde.“
„Und Sie sind dabei Gynäkologin zu werden, das ist vielleicht schwer zu nehmen für Ihre Mutter.“

Eltern sind vor allem dann neidisch auf ihre Kinder, wenn sie sich mit ihnen identifizieren. Die Tochter oder der Sohn wird als jemand gesehen, der man selbst hätte werden können – wenn es nur eine andere Zeit gewesen wäre, wenn man nur mehr gefördert worden wäre. Das Kind wird somit als jüngere Version von einem selbst gesehen.

Neid kann sich so als unangemessene Konkurrenz zum eigenen Kind zeigen. An den eigenen Kindern erlebt man ja deutlich, dass die Zeit vergeht und man älter wird. Manche Eltern versuchen dann, die Rolle als „beste Freundin“ oder „guter Kumpel“ zu spielen. Erkundigen sich, welche Musik gerade angesagt ist, in welche Bars man gehen kann oder kleiden sich betont jugendlich.

„Was wollen Sie jetzt genau hier in diesem Coaching?“, stellte ich die wichtige Frage nach dem Anliegen.
Corinna K. überlegte kurz und antwortete: „Dass meine Mutter nicht mehr neidisch auf mich ist.“
„Hm, darauf haben Sie keinen Einfluss. Wir können höchstens schauen, wie Sie mit dem Neid Ihrer Mutter anders umgehen. Wäre das interessant für Sie?“
„Und wie soll das gehen?“
„Ich denke, indem Sie sich stärker ablösen von Ihrer Mutter.“
„Aber ich bin doch abgelöst. Ich bin mit neunzehn zum Studieren extra möglichst weit weg gezogen in eine WG, damit meine Eltern mich nicht so oft besuchen kommen.“
„Hat das geholfen?“
„Schon, aber durch Telefon und Whatsapp bin ich ja doch dauernd erreichbar.“
„Tja, das ist eben nur die äußere Ablösung. Wichtiger ist zum Erwachsenwerden auch die innere Ablösung.“
„Und wie stellt man fest, ob man innerlich abgelöst ist“,
fragte Corinna K.
„Das machen wir jetzt!“ antwortete ich.


 

Warum Affirmationen, Ratschläge und Appelle selten etwas bringen.

In diesem Interview wird der Neurobiologe Gerald Hüther gefragt, wie wir etwas Neues lernen können. Seine Antwort zeigt, warum viele Ansätze zur Veränderung von Glaubenssätzen wenig bringen, weil sie nicht tief genug wirken, nicht die Emotionsensebene erreichen.

G. Hüther: „Das Gehirn ist kein Muskel! Sie können üben und trainieren, so viel Sie wollen. Entscheidend ist, dass uns das, was wir lernen wollen, unter die Haut geht, dass wir begeistert sind. Als Kind haben wir eine Entdeckung nach der anderen gemacht und uns wie verrückt begeistert. Kleine Kinder erleben am Tag fünfzig- bis hundertmal einen Sturm der Begeisterung, der durch ihr Gehirn geht. Diesen Aspekt haben Neurobiologen in den letzten Jahren genauer untersucht.

Diese Prozesse lassen sich bei Menschen jeden Alters nachweisen. Jedes Mal, wenn wir etwas entdecken, das für uns bedeutsam ist, geht es unter die Haut, und es kommt im Gehirn zur Aktivierung der sogenannten emotionalen Zentren. … Herzklopfen oder Hitzewallungen sind beispielsweise typische somatische Marker, die sich dann einstellen, wenn einem etwas unter die Haut geht. Und wenn man dann eine Lösung findet, verwandelt sich dieses Durcheinander wieder in Ordnung. Dabei werden sogenannte „neuroplastische Botenstoffe“ freigesetzt. …

Um uns zu begeistern brauchen wir andere Menschen. Und zwar Menschen, die uns einladen, ermutigen und inspirieren, noch einmal etwas Neues lernen zu wollen.“

Hier wird beschrieben, warum ich in meinen 3-h-Coachings viel dafür tue, dass Klienten in der Sitzung mit ihren Gefühlen in Kontakt kommen. Die beiden wichtigsten Elemente dabei sind:

  1. Die Achtsamkeit des Klienten
    Findet das Gespräch nur im Alltagsbewusstsein, erfährt man als Coach nur das, was der Klient denkt oder schon viele Male zu dem Problem erzählt hat.
    Erst im Zustand der Achtsamkeit kann er/sie die dazu gehörenden Gefühle, Körperempfindungen und Gedanken beobachten und schildern.
  2. Experimente, die das Lebensthema erlebbar machen.
    Das geschieht mit einem vorgeschlagenen positiven Satz, den die Klientin laut ausspricht und dabei ihre inneren Reaktionen wahrnimmt.
    Erlebt die Klientin neutrale Zustimmung, ist kein Konflikt damit verbunden. Kommt jedoch Widerstand durch ein inneres Nein, eine unangenehme Körperreaktion oder ein deutliches Gefühl, sind wir auf der Spur eines wichtigen unbewussten Konflikts.

Wie löst man sich von den Eltern?

Zum Erwachsensein gehört nicht nur, dass man älter wird, das wird man ja von alleine. Sondern auch dass man sich von den Eltern löst. Das kann ein schwieriger Prozess sein, für beide Seiten. Deswegen wird die Ablösung manchmal auch vermieden.

Der Hinweis allein, dass Corinna K. nicht abgelöst ist, würde nichts bewirken. Durch ein Experiment mit einem positiven Satz versuchte ich, der Klientin ihre noch nicht vollzogene Ablösung emotional erlebbar zu machen. Ich bat sie, es sich bequem zu machen, in der Achtsamkeit sich ihre Mutter vorzustellen und zu ihr folgenden Satz zu sagen:

„Mama, Du hast Dein Leben und ich habe mein Leben.“

Wie immer beschreibt der Satz eine Tatsache, die die Klientin ganz ruhig sagen könnte. Theoretisch. Meine Erwartung war aber, dass dieser Satz für Corinna K. konflikthaft sein würde und sie ihn nicht so einfach sagen könnte. Und so war es auch.

„Das ist eine Kriegserklärung!“, rief Corinna K. laut. „Das kann ich ihr nicht antun.“
„Was meinen Sie damit?“
„Mit dem Satz stoße ich meine Mutter doch von mir.“
„Ach ja? Interessant, wie Sie den Satz erleben. Eigentlich drückt der Satz eine schlichte Tatsache aus.“
„Ja natürlich ist der Satz eine Tatsache aber das kann ich meiner Mutter doch nicht so an den Kopf werfen. Das würde sie sehr verletzen und das will ich nicht.“
„Ich verstehe. Aber schauen Sie, jetzt mit diesem Satz erleben Sie, dass Sie nicht abgelöst sind. Dass Ihre innere Wahrheit eher lautet: »Mein Leben ist auch dein Leben.«“

Die Reaktionen auf den gesprochenen Satz sind immer interessant. Denn jetzt sind wir am Engpass, also der Stelle, wo die Klientin wenig Spielraum hat für eigene Entscheidungen.

„Wie lautete der Satz nochmal, den ich sagen sollte?“, fragte Corinna K.
„Was erinnern Sie denn noch davon?“
„Irgendwas mit »Mein Leben geht dich nichts an«“
„Hmm, so war der Satz nicht, aber Sie haben ihn so erinnert, wie er vielleicht besser für Sie passt. Der Satz lautete: »Du hast dein Leben und ich habe mein Leben«.“

Das ist der Vorteil, wenn man im Coaching mit Achtsamkeit arbeitet. Man bekommt wichtige Informationen direkt aus dem Unbewussten der Klientin.

„Es scheint schwer für Sie zu sein, sich gegen Ihre Mutter abzugrenzen, höchstens ganz rabiat wie mit dem von Ihnen umformulierten Satz. Gab es denn mal eine Zeit in Ihrem Leben, wo Sie das Gefühl hatten, dass Ihr Leben ganz Ihnen gehört?“ 

Corinna K. dachte eine Weile nach.

„Ja, zu Beginn meines Studiums zog ich in eine WG in eine Stadt, die über dreihundert Kilometer von zuhause entfernt war.“
„Sie wollten wohl sicher sein, dass niemand aus Ihrer Familie sie überraschend besucht“,
vermutete ich. „Und Sie hatten auch eine gute Ausrede, warum Sie Ihre Eltern nur zweimal im Jahr besuchen.“
„Genauso war es“,
lachte die Klientin.
„Aber wie kann ich denn heute mit dem Neid meiner Mutter umgehen?“

„Da gibt es vermutlich keine wirklich gute Lösung. Sie könnten es ansprechen, dass Ihr Eindruck sei, dass Ihre Mutter neidisch sei – und sie wird es wahrscheinlich abstreiten, weil es ihr peinlich ist – und weil sie diese Gefühle vor sich selbst verbirgt.“
„Aber das ist doch sehr schade und auch ungerecht, dass sich meine eigene Mutter nicht mir freuen kann über das, was ich erreiche.“
„Ja, es ist schade und vor allem traurig. Aber Ihre Mutter ist eben auch nur ein Mensch und Menschen sind nicht perfekt.“
„Sie meinen, ich muss den Neid meiner Mutter ertragen?“

„Ertragen klingt so qualvoll. Sie können den Neid Ihrer Mutter ja auch akzeptieren.“
„Das habe ich schon versucht, es verletzt mich trotzdem immer noch, wenn meine Mutter sich nicht mit mir freuen kann. Wie soll das denn gehen?“
„Akzeptieren heißt, damit aufzuhören, nach dem zu streben, was möglich sein soll. Und das mit Ihrer Mutter zu leben, was möglich ist. Und nicht der Illusion nachhängen, dass alles machbar ist.“
„Ganz schön ernüchternd, was Sie da vorschlagen.“


Nach vier Monaten erhielt ich eine Mail von Corinna K.
Unser Coaching habe sie so sehr aufgewühlt, dass sie noch am nächsten Tag mit ihrer Mutter gesprochen hatte. Ob sie denn neidisch wäre auf ihren Erfolg, habe sie sie gefragt, was die Mutter empört von sich gewiesen hätte. Und warum sie sich nicht für ihre Erfolge freuen könnte, habe sie sie gefragt. Darauf habe ihre Mutter geantwortet, dass sie sehr stolz auf sie wäre und vielen Bekannten und Freundinnen davon erzählen würde. Das habe sie noch mal sehr getroffen, dass sie praktisch mit ihren Erfolgen vor anderen angebe. Und was sie jetzt machen solle.

Ich schrieb zurück, dass wenn man die Eltern so akzeptiert, wie sie nun mal sind, das sehr befreiend sein kann – für beide Seiten. Solange man erwarte oder hoffe, dass die Eltern sich anders verhalten, bliebe man an sie gebunden. Wenn sie sich ablöse, dürfe sie sich über ihre Erfolge freuen – und ihre Mutter müsse sich nicht mit ihr freuen. So würde man erwachsen.


Hier lesen Sie weitere Fallberichte aus meiner Coaching-Praxis:

Business-Coachings

Life-Coachings

PS: Alle Fallgeschichten sind real, aber so verfremdet, dass ein Rückschluss auf meine Klienten nicht möglich ist und die Vertraulichkeit gewahrt bleibt.


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Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.

2 Kommentare

  1. Tom R. sagt

    Hi und danke für den interessanten und spannenden Artikel! Ich finde eure Seite super und schaue fast jeden Tag vorbei 😉
    Ich bin selber in einer Partnerschaft (seit ca. 5 Jahren) und muss sagen, mit der Zeit festigt sich die Beziehung immer mehr.
    Was am Anfang noch viel in Streit gemündet hat, hat sich mittlerweile in Verständnis gewandelt. Gerade in schwierigen Zeiten wie diesen, sollte man doch wenigstens eine gefestigte Beziehung haben. Oder, wie sieht ihr das?

    LG,
    Thomas

  2. Marlie sagt

    Was für ein lesenswerter Beitrag 😉

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