Dass wir im Leben Ziele brauchen, ist in unserer Kultur tief verwurzelt. Menschen, die ihr Leben sehr verplant haben, träumen irgendwann vom Rentenalter. Und glauben, dass sie dann viel Zeit haben werden und die Freiheit, nur noch das zu tun, was sie wollen. Dass das auch eine Illusion sein kann und was das mit der Gans in einer Flasche zu tun hat, zeigt mein neuer Fallbericht.
„Einen Termin finden? Kein Problem. Ich habe immer Zeit“, antwortete mir der Mann auf meine eMail.
„Das ist ja genau das Problem, das ich mit Ihnen besprechen möchte. Ich habe zu viel Zeit. Bin ja jetzt im Rentenalter. Früher in meiner Managementposition galt das Gegenteil. Da hatte ich nie Zeit. Deswegen habe ich immer wieder davon geträumt, in Rente zu gehen. Zeit zu haben, all die Bücher zu lesen, die ich gekauft oder geschenkt bekam. Und jetzt habe ich die Zeit, aber die Ruhe zum Lesen finde ich nicht.“
Vier Wochen später saß mir im Online-Coaching Hermann F., gegenüber. 68 Jahre alt, Ex-Produktionsleiter in einem Maschinenbauunternehmen. Auch auf dem Monitor konnte ich sein zerfurchtes Gesicht sehen, in dem ich zu erkennen glaubte, wie anstrengend bisher sein Leben verlaufen war.
Erlebt man im Rentenalter die grenzenlose Freiheit?
Den Traum hegen viele. Diese Phantasie erinnert mich immer an die Geschichte, wo ein katholischer Pfarrer, ein reformierter Pastor und ein Rabbi sich darüber unterhalten , wann denn nun das menschliche Leben beginnt.
“Das Leben als Mensch beginnt natürlich mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle, und keine Sekunde später!” war die Ansicht des Pfarrers. Der Pastor macht Einwände, so einfach sei das nun mal nicht! Da fällt ihm der Rabbi ins Wort: “Es ist doch ganz klar – das Leben als Mensch fängt DANN an, wenn die Kinder aus dem Haus sind und der Hund tot ist! Dann beginnt das Leben!”
Im Alter nicht mehr arbeiten zu müssen, ist der Wunsch von vielen Menschen, wie eine repräsentative GfK-Umfrage zeigt. Am liebsten wollen die Deutschen im Durchschnitt mit 60,2 Jahren in Rente gehen. Sofern sie es sich finanziell leisten können. Und dieser Wunsch zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten.
„Mein Leben war jahrzehntelang durch den Terminkalender bestimmt. Als technischer Produktionsleiter war ich mehrere Jahre in verschiedenen asiatischen Ländern stationiert. Japan, China, Vietnam, Indonesien. Viele Reisen, dauernd Termine, viel Stress.“
„Und Ihre Familie? Sie haben doch zwei Kinder. Wo waren die in der Zeit?“, fragte ich.
„Solange sie klein waren, kamen sie mit. Bis der Älteste zehn war. Dann streikte meine Frau und wir zogen wieder nach Deutschland und ich hatte noch mehr Stress durch das vermehrte Reisen. Ich lebte wochenlang nur aus dem Koffer. In der Zeit entstand wohl der Wunsch nach mehr Freiheit und selbstbestimmter Zeit.“
Die meisten Menschen im erwerbsfähigen Alter erleben ihr Leben höher getaktet und hektischer als je zuvor. Durch Globalisierung, das Internet und Smartphones bewegt sich das Leben – oder sind wir das? – in solch einem schnellen Tempo, dass bei vielen das Gefühl entsteht, es ziehe an ihnen vorbei.
Das Hamsterrad ist das passende Symbol für dieses Phänomen. Doch ist es wichtig zu erkennen, dass nicht das Hamsterrad uns antreibt. Das Hamsterrad hat keinen Motor. Diejenigen im Hamsterrad treiben es voran. Und – das Hamsterrad ist zu beiden Seiten offen.
„Was führt Sie eigentlich zu mir?“ fragte ich Hermann F. nach seinem Anliegen.
„Seit ich in Rente bin, habe ich keine Ziele mehr. Und das macht mich ganz orientierungslos. Mein Leben bestand immer aus Zielen und dem Wunsch, sie zu erreichen, möglichst sogar zu übertreffen“, antwortete er.
„Und das macht Ihnen Sorgen, dass Sie keine Ziele mehr haben?“, wunderte ich mich.
„Aber ja, ohne Ziele ist doch alles sinnlos. Da dümpelt man so dahin.“
Warum Ziele in die Irre führen können.
Und gute Gewohnheiten oft besser sind.
Der Weg ist das Ziel?
Oder war das Ziel der Weg?
Ist das Ziel im Weg?
Oder weg mit dem Ziel?
Um etwas in der Zukunft zu erreichen, braucht man ein Ziel. So steht das in jedem Ratgeber.
Am besten ist die Zielsetzung noch nach der SMART-Formel formuliert.
Spezifisch. Messbar. Aktivitätsauslösend. Realistisch. Terminiert.
Egal ob man 10 Kilo abnehmen will. Für den ersten Halbmarathon trainiert. Sein Arbeitszimmer endlich aufräumt. Oder mit 35 Abteilungsleiterin sein will. Dazu muss man sich ein Ziel setzen. Sonst klappt es nicht. Stimmt das denn wirklich?
Ich halte nicht so viel von Zielen. Ich bin mehr für gute Gewohnheiten. Warum?
Ganz einfach: Ziele kann man verfehlen. Gute Gewohnheiten nicht.
Zehn Kilogramm abnehmen ist ein Ziel. Jeden Tag drei Portionen Gemüse oder Obst zu essen, ist ein Verhalten, das zur Gewohnheit wird. Am Wochenende zwölf Stunden lang aufräumen, ist ein Ziel. Jede Sache sofort an ihren Platz legen, ist eine gute Gewohnheit.
Für den Halbmarathon zu trainieren ist ein Ziel. Aber was passiert, wenn man ihn absolviert hat? Vielleicht auf Rang 367? Dann ist das Ziel erreicht. Und jetzt? Nächster Halbmarathon? Marathon? Triathlon?
Stattdessen jeden Tag die Treppe statt des Aufzugs benutzen. Drei Stationen vorher aus der U-Bahn aussteigen. Abends vor dem Schlafengehen einen Spaziergang machen. Das sind gute Gewohnheiten. Damit gewinnt man vermutlich keinen Halbmarathon. Aber wozu soll der überhaupt gut sein? Für die Gesundheit? Fragen Sie Ihren Hausarzt.
Vor ein paar Jahren startete ich mal auf Facebook ein 30-Tage-Projekt. Die Teilnehmer hatten nicht primär ein Ziel. Aber sie wollten mit einer guten Gewohnheit anfangen.
- Jeden Tag eine halbe Stunde aufräumen.
- Jeden Tag ein Kapitel für ein Buch schreiben.
- Jeden Tag einen Liegestütz mehr machen.
- Vorm Schlafengehen das Geschirr abspülen.
Damit erreicht man natürlich auch Ziele. Aber wann das erreicht ist, steht nicht fest. Und deswegen hört man nach 30 Tagen meist auch nicht auf. Weil es zu einer guten Gewohnheit geworden ist. Weil man den Widerstand dagegen verloren hat.
Ziele kann man verfehlen.
Nur fünf Kilo statt zehn abnehmen. Doch nicht zur Abteilungsleiterin befördert zu werden.
Gute Gewohnheiten kann man mal schleifen lassen.
Weil man keinen guten Tag hat. Kein Problem. Keine Schuldgefühle. Macht man eben am nächsten Tag weiter. Weil es kein Ziel gibt, hat man auch nichts versäumt.
Genauso ist es auch mit den ganz großen Lebenszielen.
Es sich gut gehen lassen. Frei und selbstbestimmt leben. Ein Werk für die Nachwelt hinterlassen. Mehr Zeit für die Familie, sich selbst oder das Enkelkind. Und darauf warten, dass man endlich mal Zeit dafür hat. Das Leben ist immer jetzt. Das Ziel immer in der Zukunft.
Für eine gute Gewohnheit findet man immer Platz in der Gegenwart. Das ist das Praktische daran. Und das Tröstliche. Kein Warten auf den Erfolg oder … Heute anfangen. Jetzt. Und dann jeden Tag danach, der einem geschenkt wird.
Im Rentenalter realisieren viele den Preis, den ihr bisheriges Leben verlangt hat.
Obwohl Hermann F. sich jetzt im lang ersehnten Ruhestand befand, war er ein trauriger, alternder Mann, der ständig über die Leere seines Lebens nachdachte. Im Coaching wurde deutlich, dass er nie irgendwelche Interessen ausserhalb seiner Arbeit gehabt hatte. Und die Aussicht, zu Hause Zeit mit seiner Frau zu verbringen, die ihm in all den Jahren fremd geworden war, machte ihn noch deprimierter.
Für viele Menschen, die Organisationen voran stehen, wird die öffentliche Anerkennung, die mit einer Position an der Spitze einhergeht, zur bedeutungsvollsten Dimension ihres Lebens. Es wird oft zu ihrer Droge, ohne die sie nicht leben können.
Auch Hermann F. hatte früh den Sog gespürt, sich mit einer machtvollen Institution zu identifizieren. Für solche Menschen kann der Eintritt ins Rentenalter wie ein Schock wirken. So wie für den Drogenabhängigen der kalte Entzug. Denn mit dem Leben als Rentner verschwinden all diese Anker von einem Tag auf den anderen.
„All das, was mir über Jahrzehnte so wichtig war, ist jetzt weg“, beschrieb Herrmann F. seinen erlebten Verlust.
„Der Dienstwagen mit Chauffeur, die Flüge in der ersten Klasse, die Aufmerksamkeit des Personals, der Respekt eines Teams – alles weg! Jetzt gehe ich morgens zum Bäcker, und wenn der schlecht drauf ist, begrüßt er mich nicht einmal.“
Es ist vor allem dieser Verlust an narzisstischer Zufuhr, der Menschen wie Hermann F., den Ruhestand vergiftet.
Zusätzlich schmerzlich kann die Erkenntnis sein, was der Preis für die Karriere war. Meist ein Mangel an persönlichem Leben oder eine Entfremdung zum Partner oder den Kindern. Auch der Kontakt zu Freunden und die Zeit, um Kontakte und Interessen nach außen zu entwickeln, kam meist zu kurz. Mein Klient berichtete:
„Ich sehe es an Managern, die in derselben Situation sind wie ich. Der Verlust an Status und Aufmerksamkeit bringt sie dazu, ihren Rücktritt immer wieder zu verschieben, um an der Macht zu bleiben und das Rentenalter so lange wie möglich hinauszuzögern. Aber das wollte ich nie. Ich wusste immer, dass es ein Leben außerhalb der Arbeit gibt. So dachte ich.“
„Und jetzt haben Sie so viel freie Zeit und wissen nicht, was damit anfangen.“
„Genau. Immer mal wieder sitze ich da und überlege: Was soll ich machen? Eine Weltreise? Den Kilimandscharo besteigen oder endlich den Jakobsweg gehen? Nochmal studieren? Archäologie würde mich reizen – aber wozu? Den Motorradführerschein machen, habe ich überlegt. Oder Fallschirmspringen? Aber all das reizt mich nicht wirklich.“
Den inneren Konflikt erlebbar machen.
Eine Situation, wie sie Herrmann F. erlebt, ist nicht einfach zu lösen. Weder für ihn selbst, noch für wohlmeinende Partner oder Freunde, auch nicht für einen Coach. Denn die meisten Menschen machen in einer solchen Situation hilfreich gemeinte Vorschläge.
- „Warum probierst du nicht …“
- „Du könntest ja auch …“
- „Wir brauchen bei uns im Verein noch jemanden, der …“
- „Hör auf zu grübeln, genieß doch einfach dein Leben.“
Natürlich ergebnislos, denn solche Gedanken hatte der Klient auch schon zuhauf – und hat sie mit guten Argumenten widerlegt.
Vor- und Ratschläge sind hier unpassend, weil das eigentliche Problem tiefer sitzt und der Klient es selbst noch nicht erkannt hat. Deshalb habe ich eine Methode entwickelt, mit der Coachees erleben können, um welches Thema, das meist ein Lebensthema ist, es sich eigentlich handelt.
Dazu ist es wichtig, die Aufmerksamkeit des Klienten vom Verstand wegzulenken. Denn der Autopilot, das System, das wir im Alltag zu neunzig Prozent nutzen, ist ungeeignet, um tiefere Schichten der Persönlichkeit zu erreichen. Dafür braucht es Achtsamkeit.
Deshalb bat ich Hermann F., es sich bequem in seinem Stuhl zu machen, die Augen zu schließen und einen Satz laut nachzusprechen – und dabei genau auf seine inneren Reaktionen wie Körperempfindungen, Gefühle und Gedanken zu achten. Ich bat ihn, den Satz zu sagen:
„Ich muss nichts mehr beweisen.“
Seine Reaktion war sofort da.
„Das stimmt nicht!“ stieß der Klient erregt hervor.
„Das hat noch nie gestimmt. Mein ganzes Leben lang musste ich etwas beweisen. Das war immer mein Antrieb.“
„Wie meinen Sie das?“, wollte ich wissen.
„Ich habe einen drei Jahre älteren Bruder. Für den war ich nur der Kleine. Und er ärgerte mich oft, indem er behauptete, dass ich Angst hätte, irgendwas ihm nachzumachen. Einmal waren wir im Schwimmbad und er übte Sprünge vom Drei-Meter-Brett. Natürlich fing er wieder davon an, dass ich das nicht könnte, weil ich mich nicht traute.“
„Und da wollten Sie es ihm beweisen?“ vermutete ich.
„Ja genau. Ich stieg die Treppe hoch zu dem Brett und als ich oben war, erschrak ich, wie hoch das war. Und da runterspringen ins Wasser? Ich hatte solche Angst, dass ich mir in die Hosen machte. Zum Glück sah man das an meinen nassen Beinen nicht. Unten stand mein Bruder mit seinen Kumpels und schaute hoch. Jetzt wieder vom Turm runtersteigen und eingestehen, dass ich Angst hatte. Das konnte ich nicht. Und ich sprang.“
„Das war wohl Ihre wichtigste Lebensstrategie“, sagte ich.“ Die Angst wegzudrücken und beweisen, dass Sie es doch können.“
„Ja, so war das auch bei meinem ersten Auslandsposten in Japan. Ich kannte weder die Sprache noch die Mentalität der Menschen dort. Alle rieten mir ab, mich auf ein solches Abenteuer einzulassen. Aber ich habe mich reingekniet und es durchgezogen. Und es ging gut. Ich hatte es wieder allen bewiesen.“
Lebensthemen und die dazugehörigen Strategien lösen sich selten ganz auf. Vor allem, weil sie dem Klienten unbewusst sind, reagiert er daraus ohne den Zusammenhang zu erkennen. Sie hängen fast immer mit schmerzlichen Erlebnissen in der Kindheit zusammen.
„Ihrem Bruder wollten Sie beweisen, dass Sie dasselbe können wie er, daß Sie nicht der Kleine sind. Gab es noch mehr Erlebnisse, wo Sie etwas beweisen wollten?“
„Jede Menge. Ich war Legastheniker und stotterte außerdem, wenn ich aufgeregt war. Das machte meinem Vater große Sorgen. Von ihm hörte ich öfters, dass er zu meiner Mutter sagte, dass er nicht wisse, ob und was aus mir mal werden würde.“
In meinem Coaching will ich auch immer deutlich machen, wie sehr Entscheidungen und Lebensstrategien von damals bis ins heutige Leben hinein wirken.
„Wenn ich Ihre Ziele heute so höre, Weltreise, Kilimandscharo, Jakobsweg, Archäologie, Motorradführerschein oder Fallschirmspringen, frage ich mich, ob Sie damit auch etwas beweisen wollen?“
Hermann F. dachte kurz nach und antwortete:
„Wahrscheinlich will ich mir beweisen, dass ich noch nicht zum alten Eisen gehöre.“
„Aber Sie gehören doch zum alten Eisen, mit 68 Jahren. Oder etwa nicht?“, widersprach ich.
„Hmm“, brummte er.
„Die Frage ist, was das bedeutet, zum alten Eisen zu gehören. Oder besser gesagt, welche Bedeutung Sie dem geben.“
„Na, dass man nutzlos ist. Nicht mehr gebraucht wird.“
„Aber für Alteisen wie für andere Metalle gibt es einen Markt. Das wird immer noch gehandelt.“
„Das sagt meine Frau auch ab und zu. Du wirst noch gebraucht. Und ich denke, dass sie recht hat. Aber ich weiß nicht, wofür. Es klingelt ja nicht dauernd das Handy bei mir und ich bekomme auch keine Jobangebote mehr. Und ich weiß auch gar nicht, was ich eigentlich will.“
Verlusterfahrungen sind ein wichtiger Auslöser von Depressionen.
Eine Ehe geht zu Ende. Jemand wird aus seiner Wohnung, in der er ein Leben lang lebte, gekündigt. Der Verlust des Arbeitsplatzes. All das kann mutlos machen und ein Gefühl der Sinnlosigkeit hervorrufen.
Nach Zahlen des Bundesverbands der Betriebskrankenkassen leidet tatsächlich keine Bevölkerungsgruppe häufiger unter Depressionen als die Rentner. Mehr als 16 Prozent macht die Krankheit zu schaffen. Unter den berufstätigen Versicherten dagegen waren es nicht einmal neun Prozent, also fast die Hälfte.
„Aber wenn es nichts mehr zu beweisen gibt für mich, was soll ich dann tun?“, fragte mich etwas verzweifelt der Klient.
„Wenn ich morgens aufwache, muss ich doch was tun. Muss ich doch wissen, was ich als nächstes tun will.“
„Und wenn nicht?„, fragte ich neugierig.
Ein Leben ohne Ziele – geht das?
Dass man im Leben Ziele braucht, ist Teil unserer Kultur. Ich habe das auch lange geglaubt und mir jedes Jahr kurz-, mittel- und langfristige Ziele gesetzt. Doch die meisten Ziele, die wir haben, sind entweder nicht unsere eigenen, schränken uns ein, sind unerreichbar oder mit Versprechen verbunden, die niemals eingelöst werden.
Das Ziel, gesund die Rente zu erreichen, war so ein Ziel für Hermann F. gewesen.
Aber es geht auch ohne Ziele.
Denn Ziele begrenzen auch unsere Möglichkeiten und Erfahrungen. Wenn Sie am Wochenende wandern gehen wollen und sich dafür ein Ziel setzen, kommen Sie vermutlich auch dort an. Aber was würde passieren, wenn Sie ohne ein Ziel einfach drauflos wandern? Und nach einer Viertelstunde an einer Kreuzung abbiegen. Und nach einer halben Stunde noch einmal.
Also, Sie ändern willkürlich die Richtung. Nach zwanzig Minuten oder einer Stunde werden Sie mit Sicherheit irgendwo sein! Sie haben bloß nicht gewusst, wo Sie landen würden.
Der Vorteil dieser Herangehensweise ist: Wenn Sie sich innerlich öffnen, werden Sie an Orte kommen, die Sie sich bis jetzt nicht einmal vorstellen konnten. Wenn Sie öfter ohne Ziele leben, werden Sie Neuland betreten. Sie werden auch einige unerwartete Dinge lernen. Nicht immer wird es Ihnen gefallen, wo Sie landen. Aber es ist ungemein befreiend.
Wie kommt die Gans aus der Flasche?
Es gibt Coachings, die sehr überraschend enden.
Das Coaching mit Herrmann F. war so eines. Er wusste, dass er mit seiner bisherigen Denkweise nicht weiterkam, wusste aber auch keine neue. Und ich auch nicht. Ich spürte nur, dass es einen transformatorischen Sprung brauchte in seinem Leben.
Das geht meist am besten mit einer Metapher oder einer Geschichte. Deshalb erzählte ich Herrmann F. eine Geschichte, die ich das erste Mal von Osho (vormals Bhagwan), einem spirituellen Lehrer, der mal einige Jahre wichtig für mich war, gehört hatte.
Ein Schüler bat einmal den Zen-Meister, ihm das alte Koan von der Gans ist in der Flasche zu erklären. Das tat dieser:
„Eine kleine Gans wird ein eine Flasche gesteckt und darin gefüttert und gemästet. Die Gans wird immer größer und größer und füllt bald die ganze Flasche aus. Jetzt ist sie zu groß, sie passt nicht mehr durch den Flaschenhals. Der Flaschenhals ist zu eng.
Wie kannst du die Gans aus der Flasche rausholen, ohne die Flasche kaputtzumachen und ohne die Gans zu töten?“
Die Frage ist unlösbar, so scheint es.
Herrmann F. hatte ein Leben lang gelebt, indem er sich Ziele setzte und diese zu erreichen wollte.
Der Vorschlag, dass man auch ohne Ziele leben könne, hilft nicht, weil er glaubt, Ziele haben zu müssen. Dieses automatische Reagieren ist die Gans.
Und die Flasche sind unsere zementierten Überzeugungen und Glaubenssysteme, die jeder von uns hat. Die wir irgendwann im Laufe unseres Lebens entwickelt haben und die wir nicht angepasst haben.
„Jetzt kommt die Auflösung“, sagte ich zu meinem Klienten.
„Die Frage war: „Wie kannst man die Gans aus der Flasche rausholen, ohne die Flasche kaputtzumachen und ohne die Gans zu töten?“
In der Zen-Geschichte wird das Rätsel so aufgelöst:
Tagein, tagaus meditiert der Schüler angestrengt. Aber so sehr er die eine oder andere Möglichkeit abwägt, er findet keinen Weg. Das Rätsel ist auf normalem Weg nicht zu lösen. Er ist müde und völlig erschöpft.
Da kommt ihm plötzlich die Offenbarung. Plötzlich versteht er, dass es dem Meister gar nicht um die Flasche oder die Gans gehen kann. Er muss etwas anderes meinen.
Die Flasche ist der Verstand und du bist die Gans.
Und wenn du dich nur mit dem Verstand identifizierst, fängst du an zu glauben, dass du drinsteckst. So wie die Gans in der Flasche. Er rennt zum Meister, um zu sagen, dass die Gans raus ist. Und der Meister sagt:
“Du hast es begriffen. Jetzt lass sie draußen! Sie war nie drin!“
„Wie bitte? fragte Herrmann F. sichtlich verwirrt. „Das soll die Auflösung sein?“
„Ja, genau!“, antwortete ich. „Die Flasche sind unsere gesellschaftlichen Konditionierungen. Unsere übernommenen und ungeprüften Überzeugungen und Werte. Sind unsere unreflektierten Vorstellungen von richtig und falsch. Was wir tun dürfen und was nicht. Also Ihre Vorstellung, dass Sie zum alten Eisen gehören, wenn sie nicht noch etwas Großes hinkriegen. Oder dass Sie jetzt als Rentner unbedingt noch ein paar Ziele brauchen.“
Was ich machte, war riskant. Ich spürte, dass der Klient schwankte zwischen der Enttäuschung, keinen vernünftigen Lösungsweg aufgezeigt bekommen zu haben und der Verwirrung darüber, was ich ihm eigentlich sagen wollte.
Aber ich hoffte, dass das Unbewusste des Klienten helfen würde.
Denn das Unbewusste arbeitet mit Bildern, Assoziationen, logischen Sprüngen, was man ja an seinen Träumen beobachten kann. Ich hoffte auf eine Mini-Erleuchtung bei Herrmann F. Einen Erkenntnissprung. Ein spontanes Erfassen , dass das, was er lange für „die Wahrheit“ gehalten hatte, seine Landkarte war – und nicht die Landschaft.
Dass er emotional begriff, dass Probleme nicht wirklich existieren, sondern wir diese erschaffen durch unsere Erwartungen und Wünsche. Die Natur kennt ja auch keine Probleme. Und dass er wirklich nichts mehr beweisen musste und auch keine Ziele brauchte, um gut durch den Tag zu kommen.
Die zwei Coachingstunden waren um und ich fragte den Klienten, wie es ihm gehe und wie er sich fühle.
„Ziemlich verwirrt aber gut. Irgendwie gelassen. Ich werde über die Geschichte mit der Gans nachdenken.“
„Besser nicht nachdenken“, antwortete ich.
Drei Monate später schrieb mir Hermann F. eine Mail. Er sei in den ersten Tagen ziemlich verärgert über mich gewesen. So viel Geld für keinen konkreten Tipp und eine alberne Geschichte über eine Gans.
Im Internet habe er noch etwas zu der Gans-Geschichte gelesen:
Aus buddhistischer Sicht symbolisiere die Gans das Bewusstsein, den freien Geist, die eigentliche Realität, während die Flasche den Geist (mind) repräsentiert. Will man die Freiheit des Bewusstseins erfahren, müsse man sich immer wieder davon abhalten, rationale Fragen zu stellen und logische Lösungen zu generieren.
Das übe er jetzt, indem er meistens bewusst keine Pläne mache für den Tag, sondern einfach nur dasitze, bis ihm eine Idee komme, was er jetzt tun will. Am Anfang sei er sich dabei oft komisch vorgekommen und seine Frau habe sich auch schon Sorgen gemacht. Aber es ginge ihm sehr gut damit.
Er habe auch bei Osho, den ich erwähnt hatte, nachgeschlagen und habe einen Spruch von ihm gefunden, den er für sich abgewandelt habe:
Das Leben (= Rentenalter) ist kein Problem, das ich lösen muss.
Es ist ein Geheimnis, das ich leben darf.
Ich schrieb zurück: „Gans meine Meinung.“
Dieser Fallbericht stammt aus meinem neuen Angebot „Senior-Coaching“.
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PS: Alle Fallgeschichten sind real, aber so verfremdet, dass ein Rückschluss auf meine Klienten nicht möglich ist und die Vertraulichkeit gewahrt bleibt.
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