„Ich bin immer für alle da aber keiner für mich“, sagte die Frau im Coaching.

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Allgemein
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Bild: saiko3p iStock.comIn

Inn diesem Fallbericht erfahren Sie:

  • Warum Menschen, die es allen recht machen wollen, beliebt sind.
  • Warum sie aber einen hohen Preis dafür zahlen.
  • Welche Entstehungsgeschichte hinter einem solchen „Helfersyndrom“ stecken kann.
  • Und wie dabei eine Verdünnungstechnik hilft.

„Wie geht es Ihnen in diesen verrückten Zeiten?“, fragte ich die neue Klientin im 3-h-Online-Coaching, Margot B. 52 Jahre, ledig.
„Mir geht es gut“, war die muntere Antwort.
„Aber Sie sehen etwas müde aus. Geht’s denn Ihnen gut?“, erkundigte sich die Klientin.

Ich hatte tatsächlich wegen einer Erkältung schlecht geschlafen und überlegte kurz, ob ich das erwähnen sollte, ließ es aber bleiben.

„Wir können das Coaching auch verschieben, wenn’s Ihnen nicht gutgeht. Kein Problem für mich!“, schlug Margot B. vor.

Der Vorschlag klang gutgemeint, ich empfand ihn dennoch als etwas übergriffig. Normalerweise sorgt sich der Coach um die Klientin, hier war es umgekehrt. Was war hier los? Um dem Ganzen wieder einen professionellen Rahmen zu geben, fragte ich, um welches Problem es denn ginge.

„Ich bin immer für alle da aber keiner für mich“, antwortete die Klientin.
„Wie meinen Sie das?“
wollte ich wissen.
„Ich bin seit zwanzig Jahren Disponentin in einer Spedition. Anfangs war die klein, ist aber mit den Jahren sehr erfolgreich gewachsen. Ich verantworte dort die Einteilung der Fahrer und die Verwaltung des Fuhrparks. Außerdem kümmere ich mich um Auftragsannahme und Angebotsbearbeitung, bin aber auch Ansprechpartner für die Probleme unserer ausländischen Fahrer, wenn die eine Wohnung brauchen oder Stress mit Behörden haben.“
„Das sind ja mindestens drei Jobs“,
warf ich ein.
„Das finde ich auch, bezahlt werde ich aber nur für einen“,
lachte Margot auf.
„Und wieso ist keiner für Sie mal da?“
„Ich habe letztens meinen Geburtstag in der Firma gefeiert. Kuchen gebacken und abends Sachen zum Grillen besorgt und natürlich viel Bier. Die ganze Zeit war ich am Rödeln. Aber als ich später auch eine Wurst essen wollte, war keine mehr da. Den Abwasch habe ich dann auch noch bis in die Nacht gemacht. Und am anderen Morgen stand ich natürlich wieder ab 7.30 Uhr auf der Matte.“
„Haben Sie denn jemand gebeten, Ihnen zu helfen?“ fragte ich.
„Klar. Aber als Antwort bekam ich nur zu hören: Du machst das schon, Margot! So läuft das bei jedem Geburtstag, den ich dort feiere. Es ist der totale Stress!“

„Warum tun Sie sich das an?“
„Weil die Leute in der Firma meine Familie ist.“
„Aber in einer Familie hilft man sich doch auch gegenseitig, oder nicht?“ fragte ich die Klientin.
„Nicht in meiner Familie“,
war die nüchterne Antwort.


 

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Bild: Engin Akyurt

Wenn die Mutter depressiv wird.

„Ich habe meine Mutter nie lächeln sehen“, erzählte Margot B.
„Als mein Vater uns verließ, rutschte sie in eine chronische Depression und das wirkte sich jeden Tag auf mich und meine jüngere Schwester aus.

Unter „mütterlicher Depression“ ist oft eine „postpartale Depression“ gemeint oder umgangssprachlich der „Baby-Blues“. Bei meiner Klientin war der Auslöser aber die Trennung der Eltern. Für Kinder bedeutet Scheidung eine zusätzliche Belastung, vor allem wenn die betroffenen Kinder mit dem erkrankten Elternteil allein zurückbleiben.

Depressive Mütter sind oft zurückgezogen, unkonzentriert und unglücklich. Diese Symptome klingen sehr nach einer „normalen“ Depression, und das sind sie auch. Was sie für Mütter am meisten unterscheidet, sind die tiefgreifenden Auswirkungen, die sie auf ihre Kinder haben können.

„Ich lernte schnell, dass wir uns nicht auf meine Mutter verlassen konnten, weder emotional noch körperlich. Mit 7 Jahren wurde ich praktisch zur Haushälterin unserer kleinen Familie. Ich machte meiner Mutter jeden Morgen Toast und Kaffee. Dann kochte ich das Mittagessen für uns drei, bügelte alles und sorgte dafür, dass meine Schwester ihre Hausaufgaben fertig bekam.“

Kleine Kinder brauchen für ihre gesunde Entwicklung tägliche, beständige und ansprechende Interaktionen mit einer primären Bezugsperson. Mütter, die unter chronischer Depression leiden, haben aber Schwierigkeiten, solche Dinge zu tun wie mit den Kindern in den Park zu gehen, Bücher zu lesen oder auch nur zu reden.

Das Fehlen dieser wichtigen täglichen Interaktionen kann langfristige negative Folgen für die Gehirnentwicklung und die allgemeine Gesundheit haben. Das Leben mit einer depressiven Mutter kann auch die Entwicklung der Stressbiologie eines Kindes beeinflussen, was zu einem erhöhten Maß an Angst und zurückgezogenen Emotionen führt, die über einen längeren Zeitraum anhalten.

Kinder hinterfragen das Verhalten der Eltern nicht. Sind diese unglücklich, wütend oder depressiv, suchen sie die Gründe dafür meist bei sich selbst und versuchen alles, die Situation zu verbessern.

„Oft saß wie ich vor der verschlossenen Schlafzimmertür, las irgendwas und hoffte, dass sie herauskommen würde, um mich zu sehen. Ich habe Hunderte von Bildern für sie gemalt, in der Hoffnung, dass irgendetwas, was ich tun könnte, sie dazu bringen würde, Zeit mit mir zu verbringen und mit mir zu sein. Das ist aber nie passiert.“

Gelingt das nicht gleich, denkt das Kind: Ich muss mich noch mehr anstrengen, damit meine Mutter wieder glücklich wird. So ändert sich die Rollenverteilung: Die Kinder übernehmen die Verantwortung für das Funktionieren der Familie, bemühen sich um das seelische und häufig auch leibliche Wohl der Eltern.

Diese sogenannte Parentifizierung kann, wenn sie nur leicht oder vorübergehend stattfindet, dem Kind zu mehr Selbstwert verhelfen. Es entwickelt durch die übertragenen Aufgaben Eigenständigkeit und Verantwortungsgefühl. Sind die Aufgaben aber zu schwer oder lang andauernd, können sich gravierende Langzeitfolgen zeigen. Zum Beispiel geringer Selbstwert, Ablösungs- und Identitätsprobleme, Depressionen bis hin zu Suizidtendenzen.

 

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Bild: Andrea Picaquadio

Wenn der Blick immer auf andere gerichtet ist.

So erhellend der Blick in die Vergangenheit ist, um Lebensthemen und ihre Entstehung zu verstehen, umso wichtiger ist es, zu klären, warum diese frühen Erlebnisse heute noch so stark wirken.

„Sie sprachen davon, dass Sie immer für alle da sind aber keiner für Sie. Wie machen Sie das eigentlich?“ fragte ich Margot B.
„Wie ich das mache? Ich mache da gar nichts, die anderen sind einfach egoistisch und kommen gar nicht auf die Idee, dass ich auch mal Hilfe brauchen könnte“, war die etwas ärgerliche Antwort.

„Ich weiß, dass Sie das so erleben, aber wenn Sie weiterhin überzeugt sind, dass nur die anderen schuld sind, dass Sie immer wieder ausgenutzt werden, bleiben Sie in der Opferrolle. Sind Sie den anderen praktisch ausgeliefert. Vielleicht können wir gemeinsam herausfinden, was Sie dazu tun, dass keiner für Sie da ist“, versuchte ich, meine Frage zu entschärfen.

Das Ansprechen des eigenen Anteils an einer Situation ist nie angenehm. Weil es viel leichter, anderen die Schuld an einer Situation zuzuschieben. Diese Strategie beherrscht jeder Oppositionspolitiker.

Aber erst durch diese Konfrontation kommt man aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Und nur hier, in der Gegenwart können wir etwas verändern. Und dazu ist es wichtig, dass wir herausfinden, wie wir dazu beitragen, dass eine Situation, die uns nicht gefällt, überhaupt entsteht.

Menschen, die immer für andere da sind, haben oft diese Gemeinsamkeiten:

  • Sie setzen die Bedürfnisse der anderen über ihre eigenen.
    Ihr Blick ist zu oft darauf gerichtet, was andere brauchen könnten – und zu selten auf sich selbst gerichtet: Was brauche ich gerade? Was wünsche ich mir?
  • Sie haben Angst vor Zurückweisung.
    Sie halten ihre Wünsche zurück, weil sie ein Nein zu einer Bitte als ein Nein zu ihrer Person interpretieren.
    Sie erleben, dass wenn jemand ihre Bitte nicht erfüllt, das als Liebesentzug.
  • Wenn jemand Ihnen einen Gefallen tun möchte, lehnen sie das ab. 
    Um möglichst wenig Zurückweisung zu erleben, haben sie früh gelernt, nichts zu wünschen und sich unabhängig von anderen zu machen.
  • Sie ziehen hilfsbedürftige Menschen magisch an.
    Bei neuen Kontakten, die sie ausnutzen wollen, gehen sie nicht auf Abstand, sondern in die Helferrolle.
  • Sie betrachten ihre Hilfe als selbstverständlich.
    Mit dem Kommentar „Das ist doch selbstverständlich, jeder hätte da geholfen“ werten sie ihr Tun ab und vermitteln auch anderen, dass ihre Hilfe selbstverständlich sei.

 

Das Helfersyndrom ist die Sucht, gebraucht zu werden.

In seinem Buch „Die hilflosen Helfer“ unterteilt der Psychoanalytiker und Autor Wolfgang Schmidbauer das Helfersyndrom in fünf Komponenten:

  1. Das abgelehnte Kind.
    Schwierige Situation in der Herkunftsfamilie oder unreife Eltern führen dazu, dass das Kind abgelehnt, seine Bedürfnisse vernachlässigt werden.
  2. Die Identifizierung mit dem Über-Ich (Ich-Ideal)
    Um dieses aufrechtzuerhalten haben sie einen starken inneren Kritiker in sich, der eigene Schwächen und Hilfsbedürftigkeit konsequent verachtet und verleugnet.
  3. Die narzisstische Unersättlichkeit
    Helfer sehen sich gern als unersetzlich, denn Gebraucht-Werden verleiht Anerkennung und Bestätigung. Hilflose Helfer brauchen diese „Droge“ und können deshalb oft ihre Belastungsgrenzen nicht wahrnehmen oder respektieren.
  4. Die Vermeidung von Gegenseitigkeit
    Nur die distanzierte Nähe in einer helfenden Situation ist für diese Menschen aushaltbar. Wünsche an andere werden nicht geäußert, sondern gesammelt, und dann als geballter Vorwurf lautstark geäußert: „Was hab ich nicht alles für euch getan, und das ist der Dank!“
  5. Die indirekte Aggression.
    Aufkommender Ärger wird nicht direkt gegenüber den Mitmenschen angesprochen oder ausgedrückt, sondern indirekt gegen sich selbst gerichtet und verdrängt.

Bei sich zu erkennen und zu akzeptieren, dass sich hinter der Hilfsbereitschaft ein „egoistisches“ Motiv versteckt, ist nicht einfach und wird deshalb auch von Betroffenen lange „erfolgreich“ verdrängt. Erkennt der „hilflose Helfer“, dass hinter seiner Aufopferungsbereitschaft auch starke eigene Interessen stehen, kann man gemeinsam untersuchen, wie dieses Bedürfnis nach Bestätigung und Geliebtwerden auf andere Weise gestillt werden kann.

 

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Bild: Nadezhda1906 iStock.com

Gefangen im Grundkonflikt „Versorgung und Autarkie“

Sind wir in einem seelischen Grundkonflikt gefangen, gibt es für uns nur ein strenges Entweder-Oder, aber kein vermittelndes Sowohl-Als-auch, das uns angemessen auf Situationen reagieren lässt.

Zum Konflikt kommt es durch die Ambivalenz aus dem Wunsch nach Versorgung („Bitte sorge für mich“) und der gleichzeitigen Abwehr dieses Wunsches durch eine Maske von Selbstgenügsamkeit und Anspruchslosigkeit („Ich schaffe das auch allein.“)

Margot B. bittet niemanden um Hilfe, lehnt sogar entsprechende Angebote ab, auch jetzt in der Coachingsituation. Im Beruf betreibt sie Selbstausbeutung und spielt die Rolle der unersetzlichen Mitarbeiterin („Ich bin immer für alle da“). So delegiert sie ihre eigene Abhängigkeit nach außen. Sie hilft lieber anderen,  anstatt selbst um Hilfe zu bitten oder nachzufragen. Das Leben ganz im Sinne des Über-Ichs schützt das Ich davor, sich selbst hilflos oder abhängig zu fühlen.

„Wie leben Sie eigentlich privat? Was machen Sie in Ihrer Freizeit?“ fragte ich die Klientin.
„Ich lebe allein – mit meiner blinden Katze. Die habe ich aus dem Tierheim. Ich war dort, um mir eigentlich einen Hund auszusuchen. Aber dann sah ich die blinde Katze dort in dem Käfig mit den vielen anderen. Als man mir sagte, dass die Katze schon vier Jahre hier sei, verspürte ich so einen Schmerz in der Brust, dass ich sie mitnehmen musste.“
„Was hat Sie denn so geschmerzt, als Sie die Katze sahen?“,
wollte ich wissen.
„Ich glaube, es war die Einsamkeit der Katze, die ich spürte. Dieses Eingeschlossensein, weil sie blind war.“

„Vielleicht hat es Sie auch an Ihre Einsamkeit als Kind erinnert“, wagte ich eine vorsichtige Deutung.
„Quatsch! Sie interpretieren da zu viel rein. Die blinde Katze tat mir leid. Können Sie das nicht nachvollziehen?“ war die harsche Reaktion.

Ich war trotzdem überzeugt, dass meine Bemerkung richtig war – aber zu früh kam. Gleichwohl machte sie deutlich, wie sehr Margot B. weiche Gefühle bei sich verurteilte und abwehren musste. Obwohl sie ja gleichzeitig sich danach sehnte, Unterstützung zu bekommen.

Aber sich nach etwas sehnen ist gefahrlos, wenn man weiß, dass man es nicht bekommt.
Gefährlich wird es, wenn die Erfüllung des Wunsches droht.

„Hatten Sie denn mal eine Partnerschaft?“
Die Klientin lachte bitter auf. „Versucht habe  ich es. War sogar mal verheiratet – aber mit einem Trinker, wie sich bald herausstellte. Und auch sonst hatte ich kein Glück. Anscheinend ziehe ich nur die Verlierer an. Zeitweise hatte ich sogar drei Männer bei mir wohnen. Da lief aber nichts im Bett, ich habe die vor allem versorgt.“
„Also eher ein Männerwohnheim als ein Zuhause“, bemerkte ich dazu.
„Ja genau, als die mich auch noch beklaut haben, schmiss ich sie raus. Da ist mir meine Katze doch lieber.“

Menschen mit Helfersyndrom tendieren dazu, eigene Bedürfnisse zu verleugnen und lieber anderen zu helfen. Dabei suchen sie sich meistens Schwächere aus, um nicht selbst schwach zu erscheinen, sondern in der Position der Gebenden sich überlegen und mächtiger fühlen zu können.

Selbst abhängig von anderen zu sein löst bei ihnen meist ein Schamgefühl aus. Eigene Schwächen und Hilflosigkeit wollen sie sich nicht eingestehen, sondern suchen diese lieber beim Gegenüber. Gerade Menschen, die emotional instabil und tendenziell eher depressiv sind, sind gegenüber dem Helfersyndrom anfälliger.

Hierin spüren sie Genugtuung und Bestätigung, was wiederum ihr geringes Selbstbewusstsein aufwertet, ihre Schwächen kompensiert und von den eigenen Problemen ablenkt.

Bild: Milada Vigerova

 

Welche emotionale Erfahrung fehlt diesem Menschen?

Das ist die Frage, die mich während eines Coachings die meiste Zeit beschäftigt. Die Klientin weiß nicht genau, was ihr fehlt, denn sie hat gelernt, den Mangel zu kompensieren durch eine funktionierende Strategie. Sie ist immer für andere da.

Dazu stelle ich mir die Klientin als Kind in ihrer Familie vor. Erfrage, höre und überlege, welche normalen, positiven Erfahrungen in seiner Entwicklung gefehlt haben und in welchem Alter diese Erfahrungen entscheidend gewesen sein könnten. Denn in jeder lebendigen Entwicklung gibt es Zeitfenster, also eine Zeitspanne, in der eine wichtige Erfahrung gemacht werden muss.

Wichtige Erfahrungen, die Kinder brauchen, sind zum Beispiel:

  • Wurden sie von ihren Eltern akzeptiert und gemocht?
  • Gab es verbale und körperliche Zuneigung?
  • Haben sie sich geliebt gefühlt?
  • Fühlten sie sich sicher?
  • War das Klima optimistisch oder pessimistisch?
  • Durften sie ihre Meinungen und Gefühle äußern?
  • Haben sie Beispiele für Mut, Zusammenarbeit und Fürsorge gesehen?
  • Sahen sie Erwachsene, die Fehler zugeben und korrigieren?
  • Wurden sie ermutigt, Hindernisse zu überwinden, ihr Bestes zu geben und mit anderen zu teilen?
  • Wurde von ihnen erwartet, dass sie sich wie Erwachsene verhalten?

Aus den Antworten auf diese Fragen schließ ich auf die fehlende emotionale Erfahrung, die sich als Lebensthema bis jetzt durch das Dasein dieses Menschen zieht.

Bei Margot B. nahm ich an, dass sie schon von klein auf durch die Depression der Mutter wie eine kleine Erwachsene funktionieren musste. Das hat sie tapfer gemeistert – aber es hatte seinen Preis. Durch ein Experiment mit einem dazu passenden Satz wollen wir herausfinden, welche fehlende emotionale Erfahrung sich durch das Leben der Klientin zieht.

Entscheidend dabei ist die Kooperation des Unbewussten der Klientin, mit Nachdenken funktioniert das nicht. Deswegen bat ich Margot B., es sich bequem zu machen, die Augen zu schließen, den folgenden Satz auszusprechen – und auf Ihre spontanen Reaktionen dabei zu achten.

„Ich bitte Sie, mal den Satz zu sagen:
»Ich brauche dich.«

Als Margot B. den Satz sagte, hörte es sich so an, an müsste sie ihn fast herauswürgen.
„Boah, mir ist ganz schlecht!“, stieß sie hervor.

Ich suche immer Sätze aus, von denen ich annehme, dass sie auf Widerstand stoßen, weil das zeigt, wo der Schmerz sitzt.

Als Kind hat Margot B. bestimmt öfter zu ihrer Mutter gesagt, dass sie sie braucht, fand aber damit kein Gehör, denn die Mutter brauchte ja sie. Auf diese Weise lernte sie, der Mutter zu geben, was sie selbst gebraucht hätte.

Das prozedurale Gedächtnis erklärt, dass man sich immer daran erinnert, was man einmal gelernt hat. Das gilt fürs Fahrradfahren  genauso für unser Verständnis der Welt und das Netz der Beziehungen. In der Kindheit haben wir gelernt, wie wir uns Liebe sichern können (lieb sein, fleißig sein, toll sein, still sein etc.) Diese Lektionen vergessen wir nicht, wenn wir älter werden, auch wenn sie nicht mehr unsere beste Verhaltensmöglichkeit sind.

Menschen, die in mein Coaching kommen, merken, dass sie in einem bestimmten Gefühls- oder Beziehungsmuster feststecken. Sie wissen, dass diese alten Muster zwar noch gut funktionieren – aber auch ihren Preis haben. Wie sie sich anders verhalten können, wissen sie allenfalls theoretisch. Sie trauen sich aber nicht, das auszuprobieren.

„Haben Sie diesen Satz – Ich brauche dich – schon mal zu jemand gesagt?“, erkundigte ich mich.
„Nein! Noch nie! Ich will ihn auch zu niemand sagen.“
„Warum nicht?“
„Weil der Satz ausdrückt, dass ich schwach bin. Dass ich Hilfe brauche.“
„Und was daran wäre so schrecklich? Jeder braucht doch mal Hilfe“,
sagte ich.
„Eher beiße ich mir die Zunge ab, als dass dieser Satz über meine Lippen kommt“, verkündete Margot B.

Am Engpaß sitzt die Klientin fest. Das alte Verhalten passt nicht mehr oder fordert einen zu hohen Preis. Aber ein anderes Verhalten ist ihr zu riskant, weil sie es nicht kennt oder stark ablehnt.

Um hier weiterzukommen, benutze ich manchmal die Verdünnungstechnik.

Genauso wie in der Homöopathie schütte ich ganz viel Wasser in den Satz, bis fast nichts mehr von der Ursubstanz übrig ist. Ich schlug Margot B. – wieder in Achtsamkeit – einen veränderten Satz vor.

„Ich bitte Sie, mal den Satz zu sagen:
»Irgendwann … in vielen Jahren … brauche ich dich … vielleicht … ein winziges bißchen … «“

Margot B. sagte den Satz und lächelte.
„Das geht! Den Satz nehme ich mit.“


 

Nach sechs Monaten bekam ich eine Mail von der Klientin.
Es ginge ihr gut und der Satz mit dem „Irgendwann“ sei ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Sie habe ihn sich öfters am Tag gesagt und er habe sie hoffen lassen. Dann habe sie sich vorgestellt, den Satz zu einer guten Freundin zu sagen.

Zwei Wochen habe sie mit sich gerungen, ob sie den Satz ihrer Freundin auch in Wirklichkeit sagen könnte. Sie habe sich das dann auch getraut, weil sie ein Experiment daraus machte und zur Freundin sagte: „Angenommen, ich würde zu dir sagen: Irgendwann brauche ich dich auch mal ein bißchen. Wie würdest du reagieren?“

Dir Freundin sei ganz gerührt gewesen und sagte, dass sie sich darüber sehr freuen würde. Dass Margot doch nicht immer die Starke sein müsse. Und dass sie sie gerne öfter unterstützen würde.

Seitdem sei sie mit der Frage beschäftigt, wann dieses „irgendwann“ sein solle.

Ich antwortete ihr, dass sie allein das bestimme.


 

Hier lesen Sie weitere Fallberichte aus meiner Coaching-Praxis:

Business-Coachings

Life-Coachings

PS: Alle Fallgeschichten sind real, aber so verfremdet, dass ein Rückschluss auf meine Klienten nicht möglich ist und die Vertraulichkeit gewahrt bleibt.


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Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.

8 Kommentare

  1. Saya sagt

    Es war sehr heilsam für mich das zu lesen, da ich auch auf dem Weg bin mich von emotionaler Co-Abhängigkeit und Helfersyndrom zu befreien. Bei mir ist tatsächlich erst dieses Jahr der Groschen gefallen bzw. war ich bereit zu sehen, dass selbst immer wieder Situationen und Beziehungen kreiert habe, in denen ich mein Muster und die eigene Abhängigkeit weiterleben konnte, obwohl ich innerlich eine Abhängigkeit abgelehnt habe und es mich unglücklich gemacht hat, weil ich meine eigene Bedürfniserfüllung so stark zu verachten gelernt habe, dass ich gleichzeitig Helfer und hilflos war.

    Der Hinweis mit der narzisstischen Selbsterhebung und der Vermeidung von echter gegenseitiger Nähe in der Helferrolle aufgrund von der Helfer/Opfer Dynamik war nochmal sehr interessant. Und ich habe bei dem Aussprechen des Satz „ich brauche dich“ auch unfassbaren Widerstand gespürt und dann einen starken Schmerz in der Brust und im Hals als ich es mehrmals gesagt habe.

    Da so ganz reinzufühlen sich selbst nicht zu erlauben jemanden zu brauchen (und das dann auch deswegen im Außen gespiegelt zu bekommen) tat echt weh und hat mich zum weinen gebracht. Auch anzuerkennen, dass ich lange gedacht habe „ich bin nicht gut genug und werde nicht wertgeschätzt obwohl ich so viel gebe“. Dabei war das sozusagen meine fehlende Abgrenzung von Menschen die zu viel von meiner Energie erhalten und fehlende Zuwendung zu mir selbst.

    Ich habe mir dann ganz bewusst vorgestellt dass mein inneres Kind zu mir sagt ich brauche dich und das ich es halte und tröste. Jetzt fühle ich mich freier 🙂 Der Tip mit der Verdünnungstechnik ist auch super.

    Danke für den Podcast, Sie haben ein tolles Gespür dafür, auf den wunden Punkt zu drücken und die Zusammenhänge sehr verständlich erklärt 🙂

  2. Freut mich, liebe Anna, dass Ihnen Ihnen meine Podcasts so gut gefallen.
    Ihr letzter Satz beschreibt sehr gut, wie man für sich und andere auf eine gute Weise sorgen kann.

  3. Anna sagt

    Ich freue mich über jeden neuen Podcast. Aus den meisten Geschichten kann ich auch eigene Anteile erkennen….
    Bei Anhören dachte ich so, es geht nicht nur um die Angst mit seinen Bedürfnissen abgewiesen zu werden sondern auch um die Angst „falsche“ Hilfe zu bekommen oder auch schlichtweg man hat den Modus gar nicht empfangen zu können, weil man es nicht kennt.
    Ich bin aufgewachsen in einem Umfeld in dem emotionale Bedürfnisse gerne mit Essen erfüllt werden oder auch sich den nächsten Mann, der vermeintlich Hilfe braucht, an den Hals zu werfen. Beides Kompensationsmodelle mit Suchtgefahr und garantiertem Unglück. Einfach sitzen bleiben, zuhören, nachfragen, sich einfühlen (in sich und dem anderen), verstehen und spüren um was es geht, Gemeinschaft herstellen, das würde ich mir öfters wünschen.

  4. opavlog sagt

    În Ihrer Beschreibung habe ich meine Mutter erkannt. Ein Aspekt haben Sie allerdings übersehen, die Menschen mit Helfersyndrom schaffen Abhängigkeiten, sie wollen gar keine Hilfe zur Selbsthilfe geben.

  5. În Ihrer Beschreibung habe ich meine Mutter erkannt. Ein Aspekt haben Sie allerdings übersehen, die Menschen mit Helfersyndrom schaffen Abhängigkeiten, sie wollen gar keine Hilfe zur Selbsthilfe geben.

  6. Christiane Rind Krampitz sagt

    Das prozedurale Gedächnis lässt uns eher das bekannte Elend als Erwachsener wählen, zB toxische Partner, als ein unbekanntes Elend. Es ist in der Tag sehr schwierig, das dem Klienten so nahe zu bringen, dass er/sie selbst es spürt und erkennt, ohne darin eine Kritik liegt.
    Tolles Coaching, habe das Lesen genossen. Vielen Dank!

    via LinkedIn

  7. Lala Wasser sagt

    Ich bin immer wieder über Ihre differenzierte Darstellung psychischer Vorgänge erstaunt, positiv natürlich 👍🏻

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