„Die Selbständigkeit machte mir immer Angst!“, sagte der Mann im Coaching.

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Viele Menschen träumen von der Selbständigkeit. Endlich sein/e eigener Chef/Chefin sein. Eigene Ideen so umsetzen, wie man will. Sich in vieles nicht mehr reinreden lassen. Freie Zeiteinteilung. Mehr verdienen.

Das sind die häufigsten Vorstellungen, warum Menschen sich selbständig machen wollen. Doch viele träumen lange davon. Und tun es dann doch nicht. Aus Angst.

Welche unbewusste Angst bei meinem Klienten dahintersteckte, lesen und hören Sie hier.


 

„Ich habe auf Ihrem Blog gelesen, dass Sie auch mal Angestellter waren. Bei der Dresdner Bank und bei IBM. Und dass Sie sich dann selbständig gemacht haben als Werbetexter. Und später als Psychologe und Coach. Hatten Sie da auch Angst vor der Selbständigkeit?“, war die erste Frage meines Klienten im 3-h-Coaching.

„Damals mit dreiundzwanzig als Werbetexter war ich zu jung, um Angst zu haben. Und ich hatte keine Familie. Später hat sich das geändert. Und da gab es viele Nächte, wo ich wach lag und mir Sorgen machte“, berichtete ich.
„Und wie haben Sie die Angst besiegt?“ fragte der Klient.
„Gar nicht besiegt, das geht nicht. Ich habe ihr meine Aufmerksamkeit entzogen.“

Viele Menschen würden gern in die Selbständigkeit starten, haben aber Angst vor diesem Schritt und bleiben lieber in der Sicherheit des Angestelltendaseins. Doch diese Wahl kann trügen. Firmen werden aufgekauft oder fusionieren, die Geschäftsentwicklung zwingt zu Entlassungen oder mit dem neuen Chef versteht man sich nicht –  es gibt viele Gründe, den Job zu verlieren.

Kein Wunder also, dass manche Menschen von der Selbständigkeit träumen. Aber nur wenige setzen diesen Traum auch um. Warum eigentlich?

Die häufigsten Ängste vor der Selbständigkeit.

Natürlich sind diese immer individuell, hängen von der Situation und der Persönlichkeit ab. Aber diese Gründe höre ich immer wieder:

  • Die Angst zu scheitern.
  • Die Angst, dass das Geschäftskonzept doch nicht trägt.
  • Die Angst, sich um alles allein kümmern zu müssen.
  • Die Angst vor Ablehnung bei der Kundenakquise.
  • Die Angst, gegen die Konkurrenz nicht zu bestehen.
  • Die Angst vor Überforderung und Burnout.
  • Die Angst, dass das Familienleben darunter leidet.
  • Die Angst vor der Unsicherheit.

 

Zurück zu meinem Klienten, Wolfgang P., 49 Jahre alt, verheiratet, ein Kind.

„Ich bin Systemprogrammierer in einem mittelständischen Betrieb. Dort entwickle ich neue Software für meine Kunden. Außerdem bin ich für die Installation vor Ort zuständig. Eigentlich ist alles super. Mein Chef hält große Stücke auf mich, hat mich damals von einem Konkurrenten abgeworben. Mit den Kunden komme ich gut klar, weil ich nie die Geduld verliere.“

„Aber irgendwas stört Sie trotzdem?“

„Ja, wir sind hauptsächlich im Bereich der Standardsoftware erfolgreich. Ich würde mich aber gerne auch mit anderen Gebieten beschäftigen. Zum Beispiel mit künstlicher Intelligenz oder Geräten mit Sprachunterstützung. Aber auf dem Ohr ist mein Chef taub. Das bringe kein Geld, meint er. Das stimmt aber nicht, ich habe schon ein paar Kundenkontakte, die genau das wollen, aber in meiner momentanen Position kann ich das nicht weiterverfolgen.“

„Und jetzt überlegen Sie, sich selbständig zu machen, um Ihre eigenen Ideen umzusetzen.“
„Ja, aber nicht zum ersten Mal. Das mit der Selbständigkeit ist ein alter Traum von mir, den hatte ich schon, als ich mit zwanzig Informatik studierte.“
„Und warum haben Sie das nie realisiert?“, fragte ich.
„Aus Angst, aus purer Angst auch zu scheitern.“
„Auch?“
„Ja, genau wie mein Vater.“


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Bild: https://www.flickr.com/photos/migebert/6258043641/

Woher kommen Ängste?

So lästig oder unangenehm das Erleben von Angst ist, ohne Angst wäre die Menschheit schon längst untergegangen. Ängste sind wichtig, weil sie das Überleben sichern.

Dabei spielt das emotionale Zentrum des Gehirns, die Amygdala, die Hauptrolle. Jede neue Situation wird in der Amygdala verarbeitet daraufhin geprüft, ob und welche Erfahrungen ein Mensch damit schon mal gemacht hat. War die Reaktion bedrohlich, wird ein Cocktail von Hormonen, unter anderem Adrenalin und Cortisol ausgeschüttet und der Mensch erlebt starke Angst. Begleitet von Herzrasen, steigendem Blutdruck, schnellerem Atmen oder Schweißausbruch.

Wichtig zu wissen: Erlernte Angst ist genauso wirksam wie reale Angst.

Es spielt also keine Rolle, ob wir bestimmte angstmachende Situationen selbst erfahren haben, oder wir sie nur vom Hörensagen kennen. Kinder lernen etliche Ängste von ihren Eltern. Evolutionär betrachtet ist dies eine der wichtigsten Überlebensstrategien.

Ein Kind muss nicht selbst von einer Schlange gebissen werden, um zu lernen, dass bestimmte Schlangen gefährlich sind. Denn nur wenn es von anderen gelernt hat, sich auch vor Situationen zu fürchten, die es noch nicht selbst erlebt hat, weiß das Kind, wann es wegrennen muss.

„Welche Ängste gab es denn in Ihrer Familie?“, wollte ich wissen.
„Ich bin ziemlich behütet aufgewachsen, zusammen mit meinem Bruder, der drei Jahre jünger ist. Es gab eigentlich nur eine Angst, die Existenzangst meiner Eltern.“
„Wie kam das?“

„Meine Eltern hatten ein kleines Kino, weil mein Vater Filme über alles liebte. Er war mehr ein Cineast und kümmerte sich um die Filmauswahl und die Projektoren, aber er war kein Kaufmann. Um das ganze Organisatorische kümmerte sich meine Mutter. Finanzen, Kartenverkauf, Zusatzeinkommen über Eis und Knabberkram. Aber sie hatten immer Geldsorgen. Wenn das Wetter zu gut war, merkte man das sofort am Umsatz. Mal griff mein Vater bei der Filmauswahl daneben und außer ihm mochte kaum jemand den Film sehen.

„Und dann hat sich ja die Kinolandschaft stark verändert“, warf ich ein.
„Ja, als die Schachtelkinos und die Multiplexe aufkamen, wurde es ganz hart mit der Konkurrenz. Ein großes Kino in der Stadt wollte meinen Vater anstellen, aber aus Stolz weigerte er sich. Mein Vater verkraftete das schlecht, flüchtete in den Alkohol. Darüber zerbrach fast die Ehe meiner Eltern.“

Wolfgang P. war jetzt aufgewühlt. Es fiel ihm schwer, über das Scheitern seines Vaters zu sprechen.

„Daher rührt also Ihre Angst vor der Selbständigkeit, oder?“, fragte ich nach.
„Ja, das war mir früher gar nicht so klar. Aber jetzt, wo ich es Ihnen erzähle, ist die Parallele offensichtlich. Nach dem Informatikstudium haben sich zwei Kommilitonen selbstständig gemacht und wollten mich unbedingt dabei haben. Ich lehnte aber ab und bekam einen Job bei einem großen Systemhaus, bei dem ich heute noch bin.“

„Sie wollten es besser machen als Ihr Vater“, fasste ich seine Berufslaufbahn zusammen.
„Vor allem nicht dieselben Fehler machen wie er.“
„Das hat Sie aber nicht zufrieden gemacht in Ihrem Leben“,
stellte ich nüchtern fest.
„Nein, ich habe auf maximale Sicherheit gesetzt aber die Idee mit der Selbständigkeit hat mich nie verlassen.“ 
„Was sagt denn Ihre Frau zu Ihren Plänen?“
„Die unterstützt mich da. Wenn Du das machen willst, dann mache es, sagt sie. Dasselbe raten mir auch meine besten Freunde, die auch in der IT arbeiten.“

„Aber Ihre Angst ist immer stärker“, sagte ich.
„Ja, gegen die helfen auch nicht die besten Argumente“, fügte Wolfgang P. resigniert dazu.

Ich wartete.
Timing ist im Coaching – wie auch im Film – ganz entscheidend. Zu früh oder zu spät kann den ganzen Prozess verderben.

Ich wusste nicht genau, worauf ich wartete. Aber ich spürte genau, dass ich jetzt warten sollte. Auf etwas, was vom Klienten kommen musste. Eine Frage, ein Einfall, ein Impuls, eine Wendung, was auch immer. Im Grunde wartete ich auf ein Zeichen seines Unbewussten.

Sie sagten vorhin, dass Sie Ihre Angst damals nicht besiegt hätten, sondern ihr nur Ihre Aufmerksamkeit entzogen hätten. Was meinten Sie damit?“, nahm Wolfgang P. den Faden wieder auf.

Hier konnte ich anknüpfen, weil das der Punkt war, der beim Klienten hängengeblieben war. Auf diese unbewussten Signale gilt es, als Coach zu warten und nicht zu sehr seinen eigenen Fahrplan im Kopf haben.

„Ich glaube, Ihre Angst vor der Selbständigkeit ist so groß, weil Sie sie dauernd füttern“, sagte ich.
„Ich füttere meine Angst? Womit denn?“
„Mit Ihren ängstlichen irrealen Gedanken“, antwortete ich.
„Aber meine Ängste sind doch real.“
„Sind sie nicht. Es sind nur Gedanken.“

 

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Bild: ADragan iStock.com

„Glaube nicht alles, was du denkst!“

Dieser Satz hörte ich das erste Mal 1980 von Ole Nydahl, einem Lehrer des tibetischen Buddhismus, der mittlerweile etwas umstritten ist. Damals wurden Kurse über Meditation und Achtsamkeit noch nicht in allen Volkshochschulen angeboten, sondern in Wohnungen von Interessierten abgehalten.

Sinn dieses Satzes war es, deutlich zu machen, dass der Geist Gedanken zu allem möglichen Themen produziert. Und dass es auf einen „vernünftigen“ Umgang mit den Gedanken ankommt. Gedanken sind also keine Wahrheiten, sondern immer nur Meinungen über etwas.

Ich nahm an, dass ich, wenn ich das jetzt meinem Klienten erklären würde, das wenig bringen würde. Er wäre vermutlich verwirrt. Deswegen entschied ich mich für ein anderes Vorgehen.

„Haben Sie schon mal vom „Inneren Team“ gehört?“, fragte ich.
„Nein, noch nie.“
„Das ist ein Persönlichkeitsmodell, in dem verschiedene Anteile in uns als eigenständige Unterpersönlichkeiten angesehen werden. Das „innere Kind“ ist zum Beispiel so ein Anteil, genauso wie der Erwachsene. Diese Anteile sind immer polar angeordnet, das heißt, Sie haben einen Gegenpart. Jemand hat zum Beispiel einen „Verschwender-Anteil“, aber er hat auch einen „Sparsamkeits-Anteil“.

Der Klient war ganz aufmerksam, also erklärte ich das Modell weiter.

„Wichtig zu verstehen ist, dass die Anteile immer ihre eigene Sichtweise verteidigen wollen und daraus argumentieren. Deshalb einigen sich die Anteile in uns nie. Der „Perfektionisten-Anteil“ wird immer gut erklären, warum man das jetzt ganz hundertprozentig machen muss und sein Gegenspieler, der „Fünfe-Grad-Sein-Lassen“ hat überzeugende Gründe, warum nicht alles immer perfekt sein muss.
Bei den meisten Menschen ist ein Teil dominanter als sein Gegenspieler. Deswegen treffen Menschen unkluge Entscheidungen, weil sie sich mit einem inneren Anteil solidarisiert oder identifiziert haben.“

Beispiel: Ein Mensch will abnehmen.
Genauer gesagt, ein Teil in ihm will abnehmen. Hat gute Gründe, warum weniger Gewicht gesünder ist, zu mehr Wohlgefühl beiträgt. Der Abnehmteil hat auch schon einen Diätplan ausgearbeitet und will loslegen.
Aber es gibt einen Gegenspieler, der nicht abnehmen will, sondern Essen und Trinken genießen will.
Und die beiden können jetzt endlos miteinander streiten.


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Das „Modell des Inneren Teams“ lässt sich auf viele soziale Systeme anwenden.

Auf Familien, Teams, Orchester, Wandergruppen, Parteien, Regierungen. Überall gibt gegensätzliche Gruppen, Koalitionen, Flügel, Seilschaften, die miteinander diskutieren, streiten, um den richtigen Weg ringen.

Und überall einigen sich die polarisierten Anteile nicht. Weil ja beide Parteien gute Argumente, wenn auch ganz unterschiedliche Meinungen, Überzeugungen, Motive und Werte haben. Und jeder Anteil will das Beste für den Menschen – das Beste aus seiner begrenzten Sicht.

„Und was hilft mir das jetzt bei meiner Angst vor der Selbständigkeit?“, fragte etwas ratlos der Klient.
„Es zeigt Ihnen, dass nicht Sie die Angst haben, sondern Sie sich mit dem „Angst-Anteil“ identifiziert haben“.
„Verstehe ich nicht. Wie identifiziert?“, fragte Wolfgang P. verwirrt.

Ich war im Überschwang des Erklärens zu kopfig geworden und hatte meinen Klienten verloren. Deshalb schlug ich ihm ein Experiment vor. Nachdem er es sich bequem gemacht hatte und die Augen geschlossen hatte, sagte ich zu ihm:

„Ich bitte Sie, mal den Satz zu sagen:
„Ein Teil von mir hat Angst, sich selbständig zu machen – und ein anderer Teil von mir hat Lust, sich selbständig zu machen.“

Nachdem Wolfgang P, den Satz ausgesprochen hatte, konnte ich auf seinem Gesicht schon eine Veränderung beobachten. Seine Anspannung war verflogen und er lächelte ganz ruhig.

„Was haben Sie erlebt als Reaktion auf den Satz?“, fragte ich.
„Das war ganz eigenartig“, antwortete der Klient, „ich wurde plötzlich ganz ruhig. So, wie wenn ein innerer Kampf plötzlich zu Ende wäre. Wie kommt das?“
„Nun, Sie haben mit dem Satz anerkannt, dass es zwei widersprechende Anteile in Ihnen gibt. Einen, der Angst hat, dass Sie sich selbständig machen und einen, der genau das will.“
„Aber das führt doch zu nichts. Die beiden Teile werden sich nicht einigen und ewig weiter streiten. Aber welcher Teil bin dann ich?“
„Sie sind keiner von beiden.“
„Sondern?“


Warum am Ende eine/r sagen muss, wo’s lang geht.

Natürlich kann man immer abstimmen lassen, wenn in einer Gruppierung unterschiedliche Meinungen herrschen, man aber zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen muß. Doch Abstimmungen sind ergeben nicht immer eine gute Lösung , wie man an Volksentscheiden sehen kann. Denn auch nach einer Abstimmung muss eine/r die Verantwortung tragen.

Aber wie kommt es dann zu einer Lösung?

Meistens dadurch, indem es in jedem sozialen System ein weiteres Element gibt, das kein Teil ist, sondern eine logische Ebene darüber. Ein Element, das die Macht hat, zu entscheiden und die Verantwortung für alles weitere trägt.

  • In einem Orchester ist das der Dirigent.
  • In der Wandergruppe der Tourenführer.
  • In einer Familie die Eltern.
  • In einer Regierung die Kanzlerin.
  • In einem Team der Leiter.

Geht die Diskussion schon eine Weile oder dreht sich im Kreis, meldet sich der/diejenige und sagt sinngemäß: „Vielen Dank meine Damen und Herren für die engagierte Diskussion … wir machen es so!“

Und dann entspannen sich die Teile, grummeln vielleicht noch ein bisschen, aber tragen die Entscheidung mit.

Schwierig wird es immer in einem System, wenn diese „Chefposition“ nicht besetzt ist. Dann setzt sich entweder der lautstärkste Anteil durch oder es gibt ein endloses basisdemokratisches Palaver und man kommt doch zu keiner Entscheidung, die von allen mitgetragen wird.

„Ja, genau, das erlebe ich in mir. Dass es in einem Orchester oder in einer Regierung jemand gibt, der das Ganze dann entscheidet, verstehe ich. Aber wer sitzt bei mir auf dem Chefstuhl?“, fragte Wolfgang P.
„Niemand“, antwortete ich.
„Deshalb machen Sie mit der Entscheidung über die Selbständigkeit schon so lange rum.“
„Und wer sollte jetzt richtigerweise auf dem Chefstuhl sitzen?“,
fragte etwas ängstlich der Klient.
„Ihr ICH. Also Sie.“
„Und wo finde ich dieses ICH? Es scheint sich ja bei mir versteckt zu haben.“

Das Ich eines Menschen ist die Instanz (kein Teil) in der Persönlichkeit, die entweder dem Dialog der inneren Teammitglieder zuhört und später aktiv eingreift, um Entscheidung zu treffen.

„Vorhin, als Sie den Satz sagten und die plötzliche Ruhe in sich spürten, da waren Sie in Kontakt mir Ihrem ICH“, erläuterte ich.
„Sie waren der Beobachter, der nicht identifiziert war mit einer Meinung oder Sichtweise.“
„Aha“,
murmelte Wolfgang P.


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Bild: independentman https://bit.ly/3e3Lmm9

 

Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele?

Diese kuriose Überschrift ist der Titel eines Bestsellers und fast schon ein geflügeltes Wort. Hier habe ich mal darüber einen Artikel geschrieben. (Dort nenne ich das „Ich“ noch das „Selbst“)

Macht man sich auf die Suche nach den inneren Anteilen, kann man schon mal durcheinander kommen, was nun ein Teil ist und wer oder was das ICH. So erging es wohl auch meinem Klienten. Ich wollte es deshalb erfahrbarer machen für ihn, holte zwei Stühle aus dem Wartezimmer und platzierte sie vor ihn hin.

Neugierig verfolgte mein Klient das Ganze.

„Wie könnten Sie den Teil, der Angst hat vor der Selbständigkeit hat, nennen? Was wäre ein passender Name für ihn?“ fragte ich.
„Bedenkenträger!“ kam die Antwort unmittelbar.
„Dann setzen Sie sich jetzt mal auf den linken Stuhl und übernehmen Sie die Rolle des Bedenkenträgers.“
„Ich soll …?“ vergewisserte sich Wolfgang P.
„Ja, stellen Sie sich vor, Ihr innerer Kampf wäre ein Theaterstück und Sie haben jetzt die Rolle des Bedenkenträgers. Wie spricht er? Welche Gestik hat er?“

Der Klient zögerte einen Moment, überlegte kurz und fing sofort an mit lauter Stimme zu sprechen, nachdem er sich auf dem Stuhl niedergelassen hatte.

„Du hast dich da in was verrannt! Weißt du nicht, wie viel Leute sich schon selbständig gemacht haben und gescheitert sind? Du hast so eine sichere Position, das gibt man doch nicht auf wegen eines Spleens!“ 

So ging es zwei Minuten lang und wir hörten all die Argumente, die der Klient in seinen Gedanken seit Jahren wiederholte.

„Okay, das reicht erstmal“, unterbrach ich. „Und wie nennen Sie den Teil, der will, dass Wolfgang P. sich selbständig macht und sich das nicht ausreden lässt?“

 Wieder überlegte Wolfgang P. kurz und antwortete: „Das ist der Mutige!“
„Dann setzen Sie sich jetzt auf den anderen Stuhl und übernehmen Sie die Rolle des Mutigen.“

Jetzt sprach der Klient nicht mehr so laut und agitiert wie in der Rolle des Bedenkenträgers, sondern ruhiger, überlegter.

„Aber es gibt auch viele Selbständige, die es geschafft haben“, begann er. „Und ich habe ja einen Namen in der Branche. Man kennt mich und weiß, dass ich neue Ideen und Qualität liefere. Sonst hätten mich Kunden ja nicht auch darauf angesprochen, mich selbständig zu machen. Und außerdem – es ist nun mal mein Traum seit vielen Jahren.“

Der Klient hatte das Prinzip mit den Stühlen schnell verstanden und wechselte von sich auf den anderen Stuhl, als er ein Gegenargument in sich spürte.

„Aber von Träumen kann man nicht leben. Du musst auch an die Rente denken. Und was ist, wenn du mal krank wirst und selbständig bist. Dann ist dein Traum schnell gestorben.“ Das war wieder der Bedenkenträger.

So ging die Diskussion zwischen den beiden inneren Kontrahenten von Wolfgang P. noch eine Weile weiter, bis ich unterbrach. Und den Klienten bat, wieder in seinem Sessel Platz zu nehmen. Er war etwas aufgekratzt und schaute mich neugierig an.

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Auf dem Regiestuhl sollte der Regisseur sitzen.

Kein Schauspieler. Kein Beleuchter. Nicht der Produzent. Niemand vom Publikum. Alle diese Menschen haben unterschiedliche Ansichten, Motive und Wünsche für den Film. Doch wie der Film letztlich werden soll, muss der Regisseur entscheiden, denn es ist sein Film. Er trägt die Verantwortung.

Er kann sich mit anderen beraten, aber dann muss er allein entscheiden.

So ist es auch in unserer Psyche. Hier sollte das ICH die Regie führen. Kein Persönlichkeitsanteil. Kein Antreiber. Kein inneres Kind. Nicht der Bedenkenträger. Nicht der Sorglose. Sondern das ICH, das alle Argumente ruhig abwägt.

„Und wie sehen Sie jetzt die Sache mit der Selbständigkeit, nachdem Sie die verschiedenen Seiten in sich etwas kennengelernt haben?“, erkundigte ich mich.

Wolfgang P. schaute nachdenklich auf die beiden leeren Stühle.

„Ich finde, der Bedenkenträger da rechts, der übertreibt. Ich bin ja kein Anfänger und weiß ganz gut, selbst Risiken abzuschätzen. Und hundertprozentige Sicherheit gibt es nirgends, auch nicht in meiner Firma.  

Das Sichtbarmachen von inneren Anteilen hatte dem Klienten dabei geholfen, eine innere Distanz zu ihnen zu gewinnen. Solange diese sich nur als Stimmen im seinem Kopf meldeten, fühlten sie sich als seine Gedanken an. Und vor allem verlor er dadurch den Kontakt zum ICH.

Das Beobachten der Stimmen und das Externalisieren auf zwei Stühle half ihm, zu erleben, dass das beobachtende ICH der Regisseur ist. Dasselbe Ziel verfolgt man ja auch in der Meditation oder bei einer Achtsamkeitspraxis. In den Worten von Eckhart Tolle:

Ich bin nicht meine Gedanken, Emotionen, Sinneseindrücke und Erfahrungen.
Ich bin nicht der Inhalt meines Lebens.
Ich bin das Leben selbst.
Ich bin der Raum, in dem alle Dinge passieren.
Ich bin Bewusstsein.
Ich bin das jetzt.
Ich bin.


 

Ein Dreivierteljahr später bekam ich eine Mail von Wolfgang P.
Er habe noch mehrere „Stuhlkonferenzen“ mit sich gemacht und sei ganz begeistert von der Methode. Dabei sei ihm klar geworden, dass zum Selbständigsein auch gehört, dass man gern im Rampenlicht steht. Vorträge halten, Ideen vor Publikum präsentieren, Interviews geben und all das. Er könne das zwar, aber es würde ihn doch immer etwas Überwindung kosten.

Außerdem würde ihm dann Zeit fehlen, um eigene kreative Ideen zu sammeln und umzusetzen. Er habe noch mal mit dem Inhaber über seine Pläne gesprochen und der hätte ihm eine neu geschaffene Stelle als „Head of Innovation“ mit einem Team von zehn Leuten angeboten. Das hätte sich gleich sehr stimmig angefühlt, auch der „Bedenkenträger“ hätte keine Einwände gehabt. Die neue Stelle sei gut angelaufen und er sei froh, sich doch nicht in das Abenteuer Selbständigkeit gestürzt zu haben.


 


 

Hier lesen Sie weitere Fallberichte aus meiner Coaching-Praxis:

Business-Coachings

Life-Coachings

PS: Alle Fallgeschichten sind real, aber so verfremdet, dass ein Rückschluss auf meine Klienten nicht möglich ist und die Vertraulichkeit gewahrt bleibt.


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Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.

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