Am Ende der dritten Corona-Welle sehnen sich viele Menschen nach ihrem normalen Leben zurück. Erste Lockerungen versprechen auch, dass wieder alles wird wie früher. Aber wollen wir das eigentlich? Und wäre es gut für uns? Mein Klient in diesem Fallbericht ist darüber ziemlich verunsichert.
„Ich bin ziemlich erschöpft nach einem Jahr Pandemie. Homeoffice, keine Dienstreisen, dauernd zu Hause rumhängen. Ich merke, wie mich Corona an meine Grenzen gebracht hat“, sagte der Klient im 3-h-Coaching: Bernd A., 47 Jahre, Entwicklungsingenieur in einem mittelständischen Betrieb, verheiratet, keine Kinder.
„Aber wenn ich mir vorstelle, dass alles wieder wird wie früher, habe ich auch kein gutes Gefühl.“
Nanu, dachte ich. Wollen wir das nicht alle? Wieder Normalität, ohne Maske, bummeln gehen, einkaufen, Freunde treffen, in Urlaub fahren, wann und wie wir wollen? Irgendetwas schien mit meinem Klienten in der Pandemie passiert zu sein, dass er sich nicht wünschte, dass wir auf den Resetknopf drücken und unser altes Leben zurück bekommen.
„Wie sah denn Ihr Leben vor Corona aus, dass Sie es nicht mehr unbedingt zurückhaben wollen?“, fragte ich Bernd A.
„Auch stressig, aber ganz anders. Als Entwicklungsingenieur war ich gewohnt, fast jede Woche im Flugzeug zu sitzen. Abstimmungsmeeting in den USA, Produkteinführung in China, Koordinationstreffen mit Zulieferern in Europa. Ich war dauernd unterwegs. Ein Wahnsinn, wenn ich das heute bedenke.“
„Und seit einem Jahr machen Sie das meiste davon online aus Ihrem Homeoffice?“
„Ja genau, und das Verrückte, es gefällt mir viel besser, weil es viel entspannter ist. Ich schlafe besser, bin insgesamt ruhiger geworden, das sagt sogar meine Frau.“
„Und diese Hektik wollen Sie nicht unbedingt zurück?“ , vergewissere ich mich.
Naturkatastrophen wie die Corona-Pandemie haben ebenso wie Kriege oder Revolutionen weltweit Verhaltensveränderungen angestoßen, die sich vorher niemand hätte vorstellen können. Abstand im Supermarkt halten, kein Zugang zu Restaurants, Museen, Konzerten, Volksfesten, Fitnessstudios. Schulen und Kitas zu, die Kinder den ganzen Tag zuhause. Niemand hätte gewettet, dass das möglich oder durchsetzbar wäre.
Aber es ging. Und zwar in ganz kurzer Zeit.
Jetzt stehen wir kurz vor der Möglichkeit, schrittweise wieder ein normaleres Leben aufzunehmen. Aber wollen wir das? Mein Klient hatte da so seine Zweifel.
„Ich will wieder mein altes Leben zurück!“
„So habe ich während der Corona-Pandemie oft gedacht. Wenn nur der ganze Alptraum bald vorbei ist“, berichtete Bernd A.
„Aber irgendetwas lässt Sie jetzt zweifeln?“, hakte ich nach.
„Wie gesagt, die letzten Monate war unser Leben auch anstrengend, aber doch irgendwie erfüllender. Dadurch, dass ich soviel zu Hause war, sind wir als Paar näher zusammengerückt. Vorher war das gemeinsame Leben nur ein zusätzlicher Punkt auf meiner To-Do-Liste, den ich rechtzeitig einplanen musste. In unserem Freundeskreis ist ein Jugendlicher an Covid-19 gestorben, der Schwiegervater hat sich infiziert, wir wussten wochenlang nicht, ob er es schafft. All das hat mich wachgerüttelt. Hat mir gezeigt, dass wir alle so leben, als ginge es einfach immer so weiter.“
„Sie meinen, die Bedrohungen durch Corona haben Sie wachgerüttelt?“ fragte ich nach.
„Ja, ich finde, Corona hat uns alles gezeigt, wie verwundbar wir sind. Nicht nur die Cyberattacken russischer Hacker oder der Klimawandel bedrohen uns. Auch ein winziges, fast unsichtbares Virus kann unser ganzes modernes Leben an die Wand fahren. Und das weltweit, innerhalb von ein paar Wochen.“
Es ist immer das Außergewöhnliche, dass uns oft zum Nachdenken bringt. Pro Jahr sterben 230.000 Menschen in Deutschland an Krebs. Das ist keine Schlagzeile wert. Und durch die Fortschritte in der Medizin ist bei vielen Menschen der Glaube entstanden, dass fast alle Krankheiten heilbar sind.
Die Corona-Pandemie ist für Westeuropa die größte Krise nach dem 2. Weltkrieg. Und das in mehrfacher Hinsicht: medizinisch, ökonomisch und gesellschaftlich. Die gefühlte Sicherheit, in der viele Menschen nach dem Ende des Kalten Krieges gelebt haben, ist weg. Nicht die Angst vor dem Russen, sondern die Angst vor dem nächsten Virus bedroht uns.
Noch in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts machten viele Familien in den deutschen Großstädten die Erfahrung, dass ihre Kinder starben. Junge Erwachsene erlagen der Tuberkulose, die in Europa inzwischen besiegt ist. Angesichts der Kindersterblichkeit hieß es damals noch, erst mit dem Erreichen der Volljährigkeit könne man davon ausgehen, ein ganzes Leben vor sich zu haben. Seither aber wurde der frühzeitige Tod mehr und mehr als vermeidbar erfahren.
Corona hat uns gezeigt, dass gesichertes Wissen immer nur häppchenweise zu bekommen ist. Dass Vorhersagen über Ausmaß, Gegenmaßnahmen und einen möglichen „Sieg“ über das Virus kaum möglich sind und sich auch laufend verändern.
„Der erzwungene Stillstand durch Corona hat mir gezeigt, in was für einem Hamsterrad ich mich die letzten zwanzig Jahre befand. Für ein zweistündiges Meeting von München nach Hamburg fliegen? Kein Problem. Aber ich will, glaube ich, nicht einfach so weitermachen.“
„Gibt es noch mehr, was Sie von Ihrem alten Leben nicht mehr zurück haben wollen?“, fragte ich.
„Ich konnte lange mit dem Begriff Nachhaltigkeit in meinem Leben nichts anfangen“, antwortete Bernd A.
„Der Shoppingbummel am Wochenende war eigentlich unser Standardprogramm. Freunde in Stuttgart auf der Königsstraße treffen. Erst ein Aperitif in einer angesagten Bar, dann der Streifzug durch die verschiedenen Läden. Was wir kauften, brauchten wir eigentlich nicht. Aber wir hatten das Geld, also warum nicht?
Auch Kurzurlaubtrips haben wir öfters gemacht. Ein Brückentag in Sicht? Komm, wir fliegen Donnerstagabend nach Mallorca oder Sylt, Sonntagabend sind wir zurück! Jetzt, wo das so lange nicht mehr geht, spüre ich, wie hektisch mein Leben war. Sogar in der Freizeit. Dauernd musste was unternommen, gemacht, erlebt werden.“
Dem Klienten war durch die Pandemie etwas deutlich geworden, was ihm missfiel. Aber ich hatte noch nichts darüber erfahren, ob und wofür er dabei meine Unterstützung brauchte.
„Also die Pandemie hat Ihnen bewusst gemacht, welchen Preis Sie für Ihr bisheriges Leben zahlen. Und Sie sind sich unsicher, ob Sie so weiterleben wollen. Aber was wollen Sie jetzt hier?“
Bernd A. wurde ganz ernst. „Das Problem ist, dass ich mit meinen Gedanken in meinem Umfeld allein bin. Meine Eltern, meine Frau, meine Kollegen finden meine Bedenken sinnlos und gefährlich. Und jetzt komme ich ins Zweifeln, ob ich mich vielleicht in etwas verrenne.“
„Was sagen denn Ihre Eltern oder Ihre Frau?“, fragte ich den Klienten.
„Ich komme aus einer Unternehmerfamilie. Da gab es schon früher Streit mit meinem Vater, als ich Sympathien für die „Fridays for Future-Bewegung“ äußerte. Diese Leute hätten keine Ahnung vom richtigen Leben, würden vom Geld ihrer Eltern leben und wären faule Nichtsnutze, die viel Wind machen und unberechtigterweise viel Medienaufmerksamkeit bekämen. Er wurde richtig wütend und schrie herum. Als ich letztens mal äußerte, dass ich das Arbeiten im Homeoffice eine echte Alternative zu Büropräsenz und vielen unsinnigen Meetings fände, wurde er auch wieder ausfallend. Kam mit dem Argument, dass Geschäftsreisen für die gesamte Wirtschaft notwendig seien, weil sonst Fluggesellschaften, Hotels, Restaurants und Taxifahrer nichts mehr verdienen würden.“
„Wie ging es Ihnen, als Ihr Vater Sie und Ihre Gedanken so abkanzelte?“, fragte ich.
„Ach, ich bin das von klein auf gewöhnt. Er ist ein Patriarch der alten Schule. Sein Wort ist Gesetz. Widerspruch zwecklos. Meine Mutter hat das früh erkannt und hält sich zurück.“
„Und Ihre Frau ist auch nicht auf Ihrer Seite?“ wollte ich wissen.
„Nicht so richtig. Ihre Eltern waren auch Unternehmer und sie ist von klein auf Luxus gewöhnt. Natürlich wollte ich ihr das auch in unserer Ehe bieten. Habe sehr viel gearbeitet und wir konnten uns ein schönes Leben leisten. Daran will sie aber keine Abstriche machen. Sie litt sehr unter der Isolation während der Pandemie, wurde fast etwas depressiv und will jetzt alles nachholen.“
Wenn das alte Leben nicht mehr passt.
Das Uralt-Zitat von der „Krise als Chance“ gilt auch für die Corona-Pandemie. Die massiven Einschränkungen können einen auffordern, den Alltag aus einem völlig anderen Blickwinkel zu sehen. Die Krise lässt uns die Welt und uns selbst neu sehen, einschließlich dessen, was wir brauchen und was nicht – in unserer Tagesstruktur, unserem Zuhause, unseren Beziehungen und unserem Leben.
Es bietet die Möglichkeit, vieles loszulassen oder zu verändern, was nicht mehr für uns funktioniert oder stimmig ist.
„Was haben Sie in der Krise jetzt konkret verändert?“, fragte ich den Klienten.
„Ich denke, was ich vor allem lernen musste, das zu akzeptieren, was ist, anstatt gegen meine Vorstellung davon anzukämpfen, wie das Leben und die Welt sein sollten. Denn das führte nur zu Stress, Müdigkeit und Erschöpfung.
Ich habe neue Rituale gefunden in der Pandemie, zum Beispiel mache ich jetzt oft nach dem Aufstehen eine halbe Stunde Yoga nach einem YouTube-Video gegen meine Rückenschmerzen, weil der regelmäßige Besuch bei meinem Physiotherapeuten lange nicht möglich war.
Corona hat mich gelehrt, mehr im Moment zu leben. Was will ich jetzt gerade? Was geht jetzt gerade?
Früher hatte ich ein straffes Sportprogramm, zweimal die Woche ins Fitnessstudio. Zweimal pro Woche abends eine halbe Stunde joggen, um den Kopf freizubekommen. Heute spüre ich öfter nach, welche Form von Bewegung würde sich gerade gut anfühlen?“
„Das hört sich alles erst mal sehr positiv an“, befand ich.
„Ja, aber damit fingen meine neue Probleme an. Denn ich fragte mich, wo hat mich mein altes Leben gestresst? Was schätze ich jetzt an der neuen Langsamkeit? Und darf ich die überhaupt behalten? Wo war ich überall fremdbestimmt? Und wie sähe ein Leben aus, das ich mehr bestimme?
Ich hatte eine Ahnung, warum diese doch sinnvollen und kreativen Impulse meinen Klienten in Schwierigkeiten brachten.
„Was sagt denn Ihre Frau zu Ihrer neuen Nachdenklichkeit?“, wollte ich wissen.
„Sie will davon nichts hören und hält das für Spinnereien. Alle ihre Freundinnen und Bekannten wollten wieder ihr altes Leben zurück, und zwar möglichst schnell. Und das würde auch bald wieder kommen. Sie wälzt schon wieder Reiseprospekte.“
„Vielleicht bekommt Ihre Frau ja auch Angst, dass Sie mal nicht mehr so reibungslos funktionieren wie all die Jahre davor.“
„Ja, das glaube ich auch. Ich sprach mir ihr mal über meine Gedanken, ob ich wirklich in Zukunft fünfzig, sechzig Stunden pro Woche arbeiten will. Da wurde sie ganz stumm und eisig.“
„Und wie haben Sie das interpretiert?“, fragte ich Bernd A.
„Sie hat sich natürlich innerlich gefragt, ob und wie wir dann unseren bisherigen Lebensstil weiterführen können. Das schloss ich daraus, weil einen Tag später mein Vater anrief und sich erkundigte, wie lange ich gedenke, mich im Homeoffice auszuruhen. Das hat er wirklich gesagt!
Als ich ihm erklären wollte, dass ich mich dort nicht ausruhe aber tatsächlich darüber nachdenke, wie ich in Zukunft arbeiten will, explodierte er wieder. Es ginge in Krisenzeiten nicht darum, was man sich wünsche, sondern was notwendig sei. Und dass wir nach Corona uns alle wieder massiv anstrengen müssten, um das Versäumte aufzuholen, das sei doch sonnenklar.“
„Wie ging es Ihnen nach dem Telefonat mit Ihrem Vater?“ fragte ich Bernd A.
„Nicht gut. Ich war verunsichert. Ich merke ja, dass ich weniger zielorientiert bin, auch weniger leistungsorientiert. Dadurch wird mein Leben insgesamt ruhiger und entspannter aber es macht mir auch Sorgen. Was ist, wenn dieser Schlendrian sich auch auf andere Bereiche, vor allem auf meinen Beruf, auswirkt?“
In Ausbildungsgängen zum Psychoanalytiker ist das „Erstinterviewseminar“ eines der wichtigsten Bausteine. Darin sollen die Kandidaten lernen, zu erfassen, wie sich bereits im ersten Kontakt mit einem Patienten eine bestimmte „Szene“ entfaltet.
Diese entsteht durch die Art, wie die Beziehung aufgenommen und das Gespräch gestaltet wird. Denn hier sind meist schon frühe Hinweise auf die unbewussten Konflikte des Klienten verborgen. Damit solche Informationen wahrgenommen und verstanden werden können, ist es wichtig, den Kontakt zum Patienten nicht mit eigenen Interessen und Zielen zu bestimmen oder durch belanglose Fragen zu stören.
Hilfreich ist dazu die Entwicklung einer bestimmten inneren Haltung des Therapeuten. Daraus folgt eine besondere Art des Zuhörens, die der Psychoanalytiker Theodor Reik als ein „Hören mit dem dritten Ohr“ beschrieb. Dabei geht es um ein Zuhören, das sich nicht wortwörtlich auf das Gesagte bezieht, „sondern in die Fugen und Risse des Gesagten hineinhört, die eine Tür zu dem vorher nicht bewusst Gedachten eröffnen kann.“
Dasselbe gilt natürlich auch für das Gespräch im Coaching. Mir war bei Bernd A. aufgefallen, wie sehr ihn seine Gefühle und Überlegungen bezüglich der Konsequenzen durch Corona in einen inneren Konflikt brachten. Vor allem, weil er damit auf Widerstand bei seinen Eltern und seiner Frau stieß.
Aber er war auch schnell bereit, sich verunsichern zu lassen über seine Wünsche und Gefühle. Hier vermutete ich das Lebensthema des Klienten. Ich kam darauf, weil Bernd A. für sich den altmodischen Begriff „Schlendrian“ benutzt hatte.
„Sie sagten gerade »Was ist, wenn dieser Schlendrian sich auch auf andere Bereiche, vor allem auf meinen Beruf, auswirkt?«
Woher haben Sie diesen Begriff?“
Bernd A. schaute mich verdutzt an.
„Habe ich gerade «Schlendrian« gesagt? Wirklich? Das war eines der Lieblingsworte meines Vaters. Hör endlich mit dem Schlendrian auf … mit deinem Schlendrian verbaust du dir deine ganze Zukunft … überall im Unternehmen nur Schlendrian…“
Lebensthemen ziehen sich wie ein roter Faden durch unser Leben. Es sind Programme, Einstellungen und Strategien aus unserer Kindheit, mit denen wir heute noch als Erwachsene leben – ohne diese selbst oft wahrzunehmen, weil sie uns so vertraut sind, dass wir sie nicht erkennen können. Der Fisch ist der Letzte, der das Wasser entdeckt. Und ähnlich „blind“ sind wir für das, was uns täglich umgibt – unsere Lebensthemen.
„Vielleicht ist Ihr Schlendrian heute aber eine gute Gabe, die Ihnen hilft, Ihr Leben anders zu betrachten und neu zu bewerten. Vor allem bei Fragen wie »Will ich mein altes Leben wieder zurück« oder »Stimmen meine alten Ziele noch? Oder ist es Zeit für eine Kurskorrektur?«“, sagte ich zu Bernd A.
„Aber auch für eine Richtungsänderung brauche ich ein neues Ziel, oder nicht?“
„Ja, schon. Und was ist daran so schwierig, zu wissen, was Sie wollen?“, fragte ich verwundert.
„Ich weiß meistens nur, was ich nicht will“, antwortete Bernd A.
Wie man das Wünschen verlernen kann.
Viele Menschen kommen in mein Coaching, weil sie sich festgefahren fühlen und ihr Leben verändern wollen. Aber eines der ersten Hindernisse, auf das wir stoßen, ist, dass sie, wenn ich sie frage, wie ihr Leben aussehen soll, oft nicht wissen, was sie wollen.
Meist sind sie ambivalent in Bezug auf mehrere Möglichkeiten. Schwanken zwischen drei Jobangeboten. Sind seit Jahren in einer festen Beziehung, haben jemand Neues kennengelernt und wissen nicht, wer nun die/der Richtige ist. Selbst im Restaurant sind sie von der Auswahl auf der Speisekarte überwältigt und fragen andere, was sie sich bestellen.
Zu wissen, was man will, ist der erste und wichtigste Schritt, um für sich eine bessere Zukunft zu schaffen. Aber wie trifft man diese wichtige Entscheidung? Der Versuch, in einer Welt voller Möglichkeiten zu entscheiden, was man will, kann sich überwältigend anfühlen.
Meine Hypothese ist dann meist, dass jemand das Wünschen verlernt hat. Oder schlimmer noch, keinen Raum hatte, seine Wünsche zu entdecken und auszuprobieren. Denn jedes Kind kommt auf die Welt mit einer fast unbegrenzten Energie, alles auszuprobieren – und alles zu wollen. Natürlich braucht es da den regulierenden Einfluss der Eltern, manchmal auch Verbote (Stichwort: Herdplatte).
Irgendwo las ich mal, dass ein Kind bis zum dritten Lebensjahr 60.000 Mal Nein hört. Aber das Nein zu einem Kinderwunsch kann auch subtiler ausfallen. Zum Beispiel durch solche Elternsprüche, wie sie in der Zeitschrift BRIGITTE mal gesammelt wurden:
Dafür bist du noch zu klein.
Weil ich mehr Lebenserfahrung habe als du.
Es ist mir egal, was die anderen dürfen.
Du setzt die Mütze jetzt trotzdem auf.
Sonst gibt es keinen Nachtisch.
Andere wären froh, wenn sie das hätten.
Man muss auch mal was essen, was einem nicht so schmeckt.
Du musst wenigstens probieren.
Ich sage das nicht, um dich zu ärgern, sondern weil es besser für dich ist.
Irgendwann wirst du das verstehen.
Weil ich das sage.
Man muss nicht ständig Neues kaufen.
Ich kann auch nicht nur Sachen machen, die mir Spaß machen.
Das ist eben so im Leben.
Solange du deine Füße unter unseren Tisch…
Nur weil andere von der Brücke springen musst du das ja nicht auch.
Wir meinen es doch nur gut, Kind.
Das hat es früher bei uns nicht gegeben.
Warum – darum!
Wir wären früher froh gewesen…“
„Also, wenn du mich fragst…“
„Wie war das in Ihrer Familie mit dem Wünschen?“, wollte ich von Bernd B. wissen.
„Wie ich schon sagte, das Wort meines Vaters war Gesetz. Er entschied, was ein guter oder richtiger Wunsch war. Für Bücher und Musikunterricht war immer Geld da. Aber als ich mit fünfzehn ein Moped wollte, musste ich mir das mit Zeitungaustragen und Gartenarbeit verdienen.“
„Das heißt, obwohl Ihre Eltern reich waren, wurden Sie sehr knapp gehalten.“
„Ja, meine Schwester und ich werden auch nichts erben, weil die Firma in eine Stiftung überführt wurde. Erben sei unsozial, meint mein Vater. Er habe auch von Null angefangen. Als ich mit zwölf Jahren mal wissen wollte, ob ich etwas von der Firma erben würde, sagte er zu mir: Wenn du die Augen zumachst und das, was du dann siehst, das gehört dir!“
Manchmal genügt ein Satz oder eine einzige Szene, dass sich ein Lebensthema manifestiert. Dass ein Kind eine Entscheidung für sein Leben trifft, um mit einer belastenden Situation oder einem unangenehmen Gefühl zurechtzukommen.
„Erinnern Sie sich noch, was Sie in dieser Szene gedacht haben?“, fragte ich Bernd A.
„Ich erinnere mich glasklar daran. Ich dachte, dass ich mir nie wieder etwas von einem anderen Menschen wünsche oder erwarten werde.“
„Weil Sie von Ihrem Vater für Ihre Frage nach dem Erbe beschämt wurden.“
„Das kann gut sein, das Wort fiel mir dazu bisher nicht ein. Aber ich weiß noch, dass ich am liebsten mich aufgelöst hätte.“
Wenn innere Antreiber unser Leben bestimmen.
Schon früh im Kindesalter haben wir Verhaltensmuster entwickelt und Lebensregeln verinnerlicht, um auf die Erwartungen unserer Eltern oder andere Bezugspersonen zu reagieren und dadurch Liebe und Zuneigung zu bekommen. Und so agieren wir noch heute.
Die häufigsten Strategien sind im Konzept der „inneren Antreiber“ zusammengefasst.
Die Inneren Antreiber wirken sich deswegen negativ aus, weil sie auch in unpassenden Situationen einen Anspruch auf hundertprozentige Erfüllung stellen. So können wir beispielsweise nur bedingt beeinflussen, ob uns jemand mag. Schafft es jemand mit einem „Mach es allen recht“ Antreiber nicht, bei jemandem anzukommen, fühlt er sich unbehaglich.
Antreiber haben oft meist wenig mit einer angemessenen Reaktion auf gegenwärtige Ereignisse zu tun. Sie sind eher ein verinnerlichtes Verhaltensmuster, das nicht hinterfragt und reflektiert wird. Menschen, die als Kinder das Verhaltensmuster der Antreiber entwickelt haben, stellen sich innerlich diese Frage: „Was kann ich tun, damit ich wieder gemocht werde?“
Antreiber sind weder gut noch schlecht. Sie werden zur Stärke oder Schwäche, je nachdem ob sie zur aktuellen Situation passen oder nicht. Ein Chirurg, der im OP fehlerfrei arbeitet, handelt sinnvoll. Wenn er denselben Perfektionsanspruch auch zu Hause durchsetzen will, gibt es vermutlich Ärger.
„Sie sprachen vorhin davon, dass Sie überlegen, aus dem Hamsterrad der vergangenen Jahrzehnte auszusteigen. Aber wie sind Sie denn da eigentlich reingekommen?“, fragte ich Bernd A.
„In meiner Herkunftsfamilie rennen alle im Hamsterrad. Mein Vater leitete das Unternehmen, war außerdem im Stadtrat und in zahlreichen Vereinen. Meine Mutter kümmerte sich um die Familie, pflegte jahrelang ihre kranke Mutter und war noch bei der Telefonseelsorge. Meine Schwester ist ein Workaholic, ohne Beziehung, ohne Kinder, dafür schon zwei Burnouts.“
„Da war wenig Raum für Gefühle, für Wünsche, für Träume“, vermutete ich.
„Ich glaube, ich erkannte früh, dass es am besten ist, wenn ich mich pflegeleicht und unauffällig verhielt. Meine Schwester begehrte oft gegen meinen Vater auf und kassierte dann auch immer Ohrfeigen dafür. Ich lernte früh, welche Erwartungen man an mich hatte und die wollte ich dann auch nicht enttäuschen. Meine Eltern erwarteten gute Schulleistungen, tadelloses Benehmen und dass ich nichts von ihnen wollte“, berichtete Bernd A.
„Deswegen trifft es Sie jetzt auch so, dass Ihre Eltern und Ihre Frau sich nicht für Ihre Sinneswandel interessieren“, vermutete ich.
„Ja, mir ist klar geworden, dass ich auch meine Frau nach den Werten meiner Familie ausgesucht habe. Viel arbeiten und eine eindrucksvolle Fassade präsentieren. Wie es dahinter aussieht, interessiert nicht.“
„Sie sagten, dass Sie nicht wüssten, ob Sie Ihr altes Leben wieder zurück wollten. Aber war es denn wirklich Ihr Leben? War es nicht vielmehr die Lebensschablone Ihrer Eltern?“
„Zu dieser bitteren Erkenntnis bin ich mittlerweile auch gekommen. Aber wie findet man heraus, was und wie das eigene Leben ist, wenn man es nie so richtig erlebt hat?“, fragte Bernd A.
„Wir können mal ein Experiment dazu machen, haben Sie Lust?“
Ich experimentiere in meinen Coachings mit bestimmten positiven Sätzen, die das vermutete Lebensthema des Klienten aufdecken sollen. Die Sätze sind meistens positiv und beschreiben eine Erlaubnis oder eine Erfahrung, von der ich annehme, dass der Klient sie sich mal wünschte, aber verdrängen musste, weil sie zu Konflikten geführt hätte.
Bernd A. war sehr mit seinem inneren Antreiber „Mach es allen recht!“ identifiziert und spürte in seinem Leben keinen Freiraum, sich nicht so zu verhalten. Durch einen entsprechend ausgewählten Satz wollte ich ihn diese fehlende Erfahrung emotional erleben lassen – und seinen Widerstand dagegen.
„Ich bitte Sie, mal den Satz zu sagen:
»Ich muss nicht.«
Trifft mein Satz auf den inneren Engpass des Klienten, erlebt der Klient eine Reaktion in Form einer Körperempfindung, eines Gefühls oder eines Gedanken. Ein Mensch, für den es einfach ist, seine Wünsche zu äußern, wird den Satz ohne nennenswerte Reaktion sagen. Genauso als würde er sagen, dass er auf einem Stuhl sitzt. Als erlebte Tatsache.
Doch Bernd A. reagierte ganz anders.
„Es war wie ein unangenehmer Schauer, der durch den ganzen Körper lief. Und eine laute Stimme „Doch, du musst!“, berichtete Bernd A.
„Wessen Stimme war das, die sagte „Doch du musst!“ war meine rhetorische Frage.
„Ganz deutlich die meines Vaters.“
„Der Stimme geben Sie heute immer noch viel Macht“, stellte ich fest.
Drei Gründe, warum dieser Coachingansatz meistens gut funktioniert.
1. Im Zentrum steht die Selbsterforschung durch Achtsamkeit. Der Klient lernt, sein Erleben, seine Muster der Selbstorganisation aus der Position des „Inneren Beobachters“ wohlwollend zu beobachten.
Das ermöglicht die Desidentifikation. Ähnlich wie in der achtsamkeitsbasierten kognitiven Verhaltenstherapie der Depression (MBCT) kann man sich gegenüber den eigenen Gedanken distanzieren. „Man muss nicht alles glauben, was man denkt“.
2. Das Vorgehen ist auf die Erfahrung im gegenwärtigen Moment gerichtet. Sie wird zum Ausgangspunkt der Erforschung der biographischen Genese von Mustern der Selbstorganisation. So kann der Klient emotional (nicht rational) verstehen, welche wichtigen Erfahrungen ihm gefehlt haben und wie seine einschränkenden „Glaubenssätze“ entstanden sind.
3. Wirksame Veränderungsprozessen brauchen das Erleben einer „korrigierenden Erfahrung“. Der Klient erlebt, welche Erfahrung ihm fehlte und wie er diese in sein heutiges Leben integrieren kann. Auf diese Weise können wirksame „Neuentscheidungen“ an die Stelle der alten Glaubenssätze treten.
„Wie geht es Ihnen gerade? Wie fühlen Sie sich?“, erkundigte ich mich bei Bernd A.
„Körperlich, als wäre ein schweres Gewicht von meinen Schultern genommen worden. Vom Gefühl her irgendwie jünger, jugendlich. Ich könnte wie so ein Rumpelstilzchen hier herumhüpfen und vor mich hinkichern: „Ich muss nicht! Ich muss nicht!“
„Angenommen, Sie könnten das glauben, dass Sie nicht müssen, was müssten Sie dann nicht? Was fällt Ihnen ein?“ versuchte ich, das neue Gefühl mit neuen Absichten und Verhaltensweisen zu verknüpfen.
„Ich müsste es meinen Eltern nicht mehr recht machen, denn das schafft sowieso keiner. Und ich müsste auch nicht mein altes Leben, das so stressig war, weiterführen.“
Und nach einer Weile fügte er hinzu: „Und ich müsste auch nicht mehr meine Frau glücklich machen. Das schafft auch keiner. Jedenfalls ich schaffe es nicht.“
Wir waren am Ende des Coachings angelangt, als ich zu dem Klienten sagte:
„Ich bin gespannt, was Sie alles entdecken werden, was Sie nicht mussten und dennoch in der Vergangenheit getan haben. Und was Sie alles tun werden, jetzt wo Sie wissen, dass Sie nichts müssen – aber sich für etwas entscheiden können.“
Nach drei Monaten erhielt ich eine Mail von Bernd A.
Es ginge ihm gut und er habe in seinem Leben aufgeräumt. Seinen Job habe er gekündigt und sei auch aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen. Jetzt lebe er in ihrem Wochenendhaus im Schwarzwald und überdenke sein Leben. Mit seiner Frau habe er ab und zu Kontakt, aber das strenge ihn schnell an.
Der Satz „Ich muss nicht“ helfe ihm dabei, immer wieder zu sich zu kommen. So hätte er sich am Anfang morgens ertappt, wie er überlegte, was er alles tun könnte. Dann sei er aber immer gleich ärgerlich geworden, weil er wusste, dass er doch nur die Hälfte schaffen würde.
Stattdessen probiere er jetzt aus, wie es ist, weniger oder nichts zu tun. Das bedeute, keine Anrufe, nichts lesen, nichts aufräumen. Stattdessen sitze er im Garten, schaue den Bienen zu oder dem Regen anstatt wie früher, die Zeit zu nutzen.
Ich schrieb zurück, manchmal müsse man sich eine ganze Weile langweilen, bis die Kraft für etwas Neues komme. Dabei lerne man, sich selbst auszuhalten.
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