Das Akzeptieren von schmerzlichen Veränderungen erfordert menschliche Reife. Leben wir doch oft mit dem Glauben, dass heute fast jedes Problem lösbar ist. Gerade in der Corona-Pandemie müssen wir fast täglich erfahren, dass die Wirklichkeit stärker ist als unsere Pläne, Hoffnungen und Wünsche. Wie schwer es sein kann, unangenehme Veränderungen zu akzeptieren, schildert dieser Fallbericht.
„Was mich am meisten aufregt an dieser Corona-Scheiße ist, dass es so ungerecht dabei zugeht“, polterte mein neuer Klient im 3-h-Coaching. Sven M., 63 Jahre alt, geschieden, keine Kinder.
„Was meinen Sie genau damit?“, wollte ich wissen.
„Na, das ist doch klar. Es trifft immer die Kleinen. Die Großen sitzen in ihrem warmen Nest, haben ihren sicheren Job und können die Sache aussitzen.“
Ich verkniff mir die Bemerkung, dass Corona auch vermeintlich große, reiche, mächtige Menschen treffen kann. Denn wenn jemand so geladen ist, kommt man ihm mit Argumenten selten bei.
„Und Sie zählen sich zu den Kleinen“, vermutete ich.
„Ja klar. Ich war Pilot bei einer ausländischen Fluggesellschaft. Bis vor einem Dreivierteljahr waren wir gefragte Leute, konnten uns praktisch aussuchen, wo wir fliegen. Und jetzt? Bin ich gekündigt. Auf dem Arbeitsamt kann man nichts mit mir anfangen, dort gelte ich als ungelernte Arbeitskraft.“
Warum Corona akzeptieren so schwierig ist.
Wie in vielen Branchen hat die Corona-Pandemie auch in der Luftfahrtbranche tiefe Spuren hinterlassen. Derzeit transportieren die Fluggesellschaften rund zehn bis zwanzig Prozent der Passagiere, verglichen mit der Zeit vor der Krise. Viele Flugzeuge stehen auf großen Parkplätzen herum. Es ist fraglich, ob und wann man sie je wieder braucht.
Sven M. hatte noch Glück. Aufgrund seines Alters und seiner langen Betriebszugehörigkeit konnte er in den vorzeitigen Ruhestand gehen. Bei wenig gekürzten Bezügen. Ich verstand, dass der Klient enttäuscht war, weil seine Lebensplanung über den Haufen geworfen war. Aber das erleben ja Millionen Menschen, dass Corona uns viel abverlangt. Und das schon sehr lange – mit der ungewissen Aussicht, ob und wann unser Leben mal wieder „normal“ sein wird.
Eigentlich bin ich ein empathischer Mensch und kann mich gut in andere einfühlen. Doch bei allem Mitgefühl störte mich etwas daran, wie Sven M. über seine Situation sprach.
„Worüber beklagen Sie sich? Sie wurden mit einem goldenen Handschlag verabschiedet. Das Glück hat nicht jeder in Coronazeiten“, fragte ich den Klienten.
„Dass man mich nach zwanzig Jahren Zugehörigkeit zur Airline einfach so abserviert. Das regt mich auf.“
„Wieso abserviert? Ihre Gesellschaft verdient kaum noch Geld und muss sparen. Unter anderem, um Ihre Pensionszahlungen in Zukunft leisten zu können. Man wollte Sie ja weiter für Frachtflüge beschäftigen aber diese Option haben Sie abgelehnt“, hielt ich dagegen.
„Das war keine Option, das war eine Frechheit. Weiter ackern, aber für weniger Geld. Und bei Frachtflügen gibt es strenge Quarantäneauflagen in den meisten Ländern. Das wollte ich mir in meinem Alter nicht mehr antun.“
Puhh, das könnte anstrengend werden, dachte ich. Hatte ich einen Nörgler vor mir? Jemand, dem man es nie rechtmachen kann? Und der sich weigert, notwendige Konsequenz seines Handelns zu akzeptieren?
Im Internet war ich mal zufällig auf eine Seite gestoßen mit den absurdesten Beschwerden von Touristen über ihre Urlaubserfahrungen. Da war beispielsweise zu lesen:
- „Bei unserem All-Inclusive Urlaub waren die Cocktails im Flieger nicht inkludiert.“
- „Niemand sagte uns, dass es dort Fische im Wasser gibt. Unsere Kinder hatten Angst.“
- „Der Strand war viel zu sandig. Als wir ins Zimmer kamen, mussten wir alles putzen.“
- “ Wir haben am Strand eine Ray Ban-Sonnenbrille für fünf Euro gekauft und mussten dann feststellen, dass sie gefälscht war.“
- „Der Sand sah nicht so aus wie in der Broschüre. Dort sah er gelb aus, unserer Meinung nach war er aber weiß.“
- „Niemand sagte uns, dass es dort so viele Ausländer gibt.“
Enttäuschungen zu akzeptieren haben manche nie gelernt.
Vielen Menschen fällt es schwer, mit Enttäuschungen, unangenehmen Gefühlen oder einem Verlust umzugehen.
„Das darf doch nicht wahr sein!“ ist oft die erste reflexhafte Reaktion. Danach kommt dann, je nach Persönlichkeit Protest („Das lasse ich mir nicht gefallen!“) Jammern („Warum passiert das ausgerechnet mir?“) oder beleidigter Rückzug („Dann macht Euren Kram doch alleine!“)
Das Akzeptieren von Enttäuschungen lernt man zuerst in der Kindheit.
Bei der Auswahl, wer im Krippenspiel die Maria übernehmen darf. Beim 100-Meter-Lauf im Schulsport. Oder wenn die Familie „Mensch-ärgere-dich-nicht!“ spielt. Da kann es vorkommen, dass der Siebenjährige nach verlorenem Spiel wütend das Brett vom Tisch fegt und in seinem Zimmer verschwindet. Denn in seiner Erlebniswelt ist Verlieren erst mal nicht vorgesehen. Es kratzt am kindlichen Größenwahn.
Dass im Leben nicht alles glatt läuft und Frustration und Enttäuschung dazu gehört, muss man lernen. Eltern, die wohlmeinend ihrem Kind alle Wettbewerbssituationen ersparen wollen tun ihm damit keinen Gefallen, sondern entziehen ihm wichtige Lernerfahrungen.
„Mein Eltern waren in allem ziemlich streng, vor allem mein Vater. Bei Tisch musste man kerzengerade sitzen und reden durfte man nur, wenn man gefragt wurde. Es zählte nur die beste Leistung. Zum Glück fiel mir die Schule leicht und ich hatte immer gute Noten. Ganz im Gegensatz zu meiner Schwester. Die war notenmäßig guter Durchschnitt, die hat er eigentlich verachtet.
Er war Leiter der Qualitätssicherung in einer Farbenfirma. So kompromisslos wie er im Job sein musste, war er auch zu Hause. Für ihn gab es nur entweder-oder. Das habe ich sicher von ihm geerbt“, lachte der Klient.
„Und wie kamen Sie auf die Pilotenlaufbahn?“
„Das war mein Traum schon von ganz klein. Wie bei vielen Jungen. Ich habe die Ausbildung dann in Südafrika gemacht, weil wir lange Zeit dort gelebt haben.“
„Waren Sie mal verheiratet?“ wollte ich wissen.
„Ja, viermal. Als Pilot findet man ja leicht Anschluss.“
„Lassen Sie mich raten: Es waren alles Stewardessen.“
„Ja, ganz klassisch. Aber es hat immer nur ein paar Jahre gehalten.“
„Woran lag es denn jeweils?“, fragte ich neugierig.
„Ich lasse mir ungern was vorschreiben. Gesetze der Natur akzeptiere ich. Regeln von Menschen nicht. Ich hasse es, wenn mir jemand sagt, wie etwas laufen soll. Da werde ich ganz bockig, ziehe mich zurück und sitze die Situation aus.“
„So wie jetzt?“
„Wie meinen Sie das?“
Corona bedeutet, das Warten in Unsicherheit zu akzeptieren.
Dieser Zustand ist auch ohne Pandemie nicht leicht zu ertragen. Das Warten auf das Ergebnis einer verdächtigen Gewebeprobe oder auf den Bescheid einer entscheidenden Klausur ist immer eine bange Zeit. Doch die Wartezeit in diesen Fällen ist begrenzt.
Mit Corona ist das anders. Fast alles ist ungewiss. Wann man geimpft wird. Wie viele andere sich auch impfen lassen. Wie sich die Infektionsrate entwickelt. Ob noch andere Mutanten auftauchen. Und wann wird das alles vorbei sein? Wird es das überhaupt jemals? Fragen, die niemand verlässlich beantworten kann. Keine gute Zeit für Menschen, die gern in entweder-oder Kategorien leben.
„Wie verbringen Sie Ihre Tage derzeit?“ fragte ich den Klienten.
„Ich bin natürlich viel zu Hause und versuche, keinen Lagerkoller zu bekommen, was nicht einfach ist. Früher fand ich Einkaufen total lästig, heute ist es eine willkommene Abwechslung. Ansonsten habe ich drei Tageszeitungen abonniert. Bis ich die durch habe, ist es Nachmittag.
Am schlimmsten ist es abends, wenn mir klar wird, dass ich eigentlich nur die Zeit totgeschlagen habe. Dann helfen mir ein paar Gläser Rotwein, aber das ist auf die Dauer ja auch keine Lösung.“
„Ihnen fehlt wohl eine richtige Aufgabe“, stellte ich fest. „Eine sinnvolle Beschäftigung, die Ihrem Tag eine Struktur gibt.“
„Das sagen meine Freunde auch. Aber ich wehre mich dagegen. Außerdem weiß ich nicht, was ich tun könnte. Verglichen mit dem Gefühl des Fliegens ist doch alles nur Beschäftigungstherapie.“
Warum es manchen schwerfällt, Corona zu akzeptieren.
Die Pandemie zwingt uns, berufliche oder private Pläne aufzuschieben. Wir müssen Einschränkungen unserer Bewegungsfreiheit und Kontaktmöglichkeiten hinnehmen. Vielleicht auch finanzielle Verluste. Die meisten Menschen akzeptieren dies, weil sie den Ernst der Lage begreifen.
Doch eine beträchtliche Anzahl von Menschen überall auf der Welt rebelliert gegen diese Einschränkungen. Die einen lauthals mit Demonstrationen, die anderen leise durch Verweigerung, den verordneten Auflagen nachzukommen. Sie sind Opfer des Präventions-Paradox. Danach lassen Maßnahmen, die erfolgreich greifen, das Problem kleiner erscheinen als es ist.
Doch was ist, ist.
Gegen Tatsachen gewinnt niemand. Im Kampf der unterschiedlichen Meinungen gegen die Realität, gewinnt immer die Realität. Politiker , die Corona verleugneten, schicken tausende ihrer Bürger in den Tod, weil sie sich weigern, Fakten und ihre Folgen zu akzeptieren. Und stattdessen mit hanebüchenen Argumenten versuchen, die Fakten zu leugnen.
Was steckt dahinter?
Durch den technologischen Fortschritt glauben viele von uns, dass letztlich jedes Problem lösbar ist. Dass jedes mögliche Risiko mit entsprechendem Aufwand kontrollierbar sei. Wozu braucht es da noch eine Haltung der Akzeptanz?
Die Erde bald unbewohnt, weil zu viele Menschen, zu viel Dreck, zu viele Katastrophen? Kein Problem, wir ziehen um auf den Mars. Selbst das Ende des Lebens scheint einigen Wissenschaftlern nur ein Konstruktionsfehler der Evolution zu sein. Noch ein paar Jahrzehnte und die Wissenschaft hat den Tod abgeschafft, so glauben sie.
In so einem Klima wird das Virus, das uns massiv unsere Grenzen aufzeigt, als enorme Kränkung erlebt.
Bild: ergregory iStock.com
Was heißt Akzeptieren?
In einen Satz gegossen, kann man Akzeptanz so umschreiben: „Ich akzeptiere, dass es passiert ist und dass daran nichts zu ändern ist.“ Es gibt keine Hintertür, kein Wunder, kein Zaubertrick. Es ist passiert und daran lässt sich nichts ändern – und ich akzeptiere es.
„Ich versuche seit drei Jahren, meinen gestorbenen Mann loszulassen, aber es gelingt mir nicht“, berichtete mir mal eine Frau im Coaching. Doch Akzeptieren ist keine Willensentscheidung. Keine Konzentrationsaufgabe. Vielmehr ist es eine intensive Auseinandersetzung mit den Gefühlen, die die Veränderung oder der Verlust hervorruft.
Doch genau vor diesen Gefühlen versuchen Menschen, die etwas Unvermeidliches nicht akzeptieren wollen, sich zu schützen. Sie vermeiden die Gefühle, weil sie unrealistische Vorstellungen damit verknüpfen, die ihnen Angst machen. In meinen Coachings höre ich immer wieder diese Befürchtungen, was starke Gefühle angeht:
- „Wenn ich diese Wut zulassen würde, die ich auf meinen Exmann habe, hätte ich Angst, dass ich Amok laufe. Vielleicht würde ich ihn umbringen.“
- „Wenn ich an diese Trauer rankomme, die mein verstorbenes Kind betrifft, würde ich jahrelang nur trauern und wäre nicht mehr lebensfähig, könnte meine beiden anderen Kinder nicht mehr versorgen.“
- „Wenn ich diese Enttäuschung an mich heranlasse, würde ich mich ein Leben lang schämen für diesen Fehler. Weil ich den nie wiedergutmachen könnte. Das könnte ich nicht aushalten.“
- „Wenn ich diese Angst vor dem Sterben spüren würde, die mit dem Krebs einhergeht, würde mich jeglicher Lebensmut verlassen. Ich würde morgens überhaupt nicht mehr aufstehen.“
Das sind Aussagen von Menschen, die ihre Gefühle nicht kennen – und sie deshalb fürchten.
Akzeptieren heisst auch, dass bei jeder Entscheidung ich die Randbedingungen mitwähle.
- Entscheide ich mich für ein Auto, wähle ich damit auch die Benzinpreiserhöhungen, die Staus und die Parkplatzprobleme mit.
- Will ich das nicht und entscheide mich für den Bus, wähle ich mit, dass der Bus nicht kommt oder verspätet ist, dass ich keinen Sitzplatz bekomme etc.
- Will ich das nicht und fahre mit dem Rad, wähle ich mit, dass es geklaut werden kann, ich bei Regen nass werde und Autofahrer mir die Vorfahrt nehmen.
- Entscheide ich mich für ein Land, in dem die Demokratie gilt, wähle ich mit, dass ich mich an die Auflagen von Regierung, Gemeinde usw. zu halten habe.
Erwachsen sein bedeutet, zu wissen, dass es, egal wofür ich mich entscheide, es immer Randbedingungen geben wird, die mir nicht gefallen. Viele Menschen hadern mit ihren Entscheidungen, weil sie die Randbedingungen ablehnen.
Was Akzeptieren nicht ist.
Akzeptieren heißt nicht, dass wir es gut finden, es wollen oder es uns ausgesucht haben.
Akzeptieren heißt nicht, dass wir schwach sind und aufgeben.
Akzeptieren heißt nicht, dass etwas für immer so bleiben muss.
„Warum fällt Ihnen eigentlich die Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand so schwer?“, wollte ich von Sven M. wissen. „Wenn man sich für das Angestellten-Dasein entscheidet, akzeptiert man auch, dass der Arbeitgeber einem kündigen oder in den Ruhestand versetzen kann.“
„So genau weiß ich das gar nicht. Es ist so ein Gefühl, dass ich mich dann ganz aufgegeben hätte, wenn ich das akzeptieren würde. Solange ich dagegen ankämpfe, gibt mir das Kraft und hält mich irgendwie lebendig.“
„Vielleicht spielt es auch eine Rolle, dass Pilot von klein auf Ihr Traumberuf war und Sie ja enorm viel Zeit, Kraft und Energie in Ihren Job investiert haben. Da fällt das Loslassen naturgemäß schwerer, weil es auch Ihre berufliche Identität war.“
„Ja, da ist was dran.“
Kann man Akzeptieren lernen?
Die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) schlägt dafür drei Schritte vor.
Zuerst geht es darum, die Situation ohne Beschönigungen zu betrachten, zu analysieren und und sie grundsätzlich anzunehmen.
Danach soll man die dazugehörenden unangenehmen Gedanken und Gefühle zulassen. Die wurden meist bisher vermieden durch Schuldzuweisungen an sich selbst oder andere.
Schon durch diese beiden Schritte kann sich die Einstellung zu sich selbst und zur Situation ändern. Man wird offener für neue Sichtweisen. Im dritten Schritt geht es um eine intensive Auseinandersetzung mit den persönlichen Werten. Hier können Fragen hilfreich sein wie:
- „Was sind eigentlich meine Werte?
- Und wie könnte ich diese in der Bewältigung meiner Situation nutzbringend einsetzen?“
Das mag am Anfang noch abstrakt und wenig greifbar klingen. Aber es sind vor allem diese persönlichen Werte, die dem Klienten helfen, wieder aktiv zu werden und dem eigenen Handeln eine Richtung anzeigen.
Als ich diese beiden Schritte mit Sven M. ansprach, ergab sich Folgendes:
„Meine Werte? Kann ich gar nicht so genau sagen. Aber meine Unabhängigkeit, meine Freiheit war mir immer wichtig. Dass mir niemand sagen kann, das machst du jetzt so und so“, fiel dem Klienten als erstes ein.
„Das hat wohl mit der strengen Erziehung Ihres Vaters zu tun. Wo man bei Tisch noch nicht mal reden durfte. Davor sind Sie vermutlich ein Leben lang geflüchtet. Die gute ist Nachricht: Das haben Sie geschafft! Durch die Freistellung kann Ihnen niemand mehr etwas abverlangen. Die schlechte Nachricht: Sie langweilen sich mit Ihrer grenzenlosen Freiheit. Also muss es noch einen anderen Wert geben, der Ihnen wichtig ist. Welcher könnte das sein?“
Nach einer Pause von fünfzehn Minuten trafen wir uns wieder auf dem Bildschirm.
„Es wird Sie vielleicht überraschen, aber mir kam als zweiter Wert das „Dienen“ in den Sinn. Als Flugkapitän bringt man ja viele Menschen von A nach B und zwar möglichst sicher. Deshalb hat mich auch die Möglichkeit, als Frachtflieger weiterzumachen, nicht gereizt. Da könnte ich ja auch LKW fahren. Es ist mir aber wichtig, etwas für Menschen zu tun.“
Ich war tatsächlich überrascht über diesen zweiten Wert des Klienten. Doch wie könnte er daraus einen Weg für seine momentane Situation finden?
An dieser Stelle im Coachingprozess ist es aus meiner Sicht wichtig, keine schnellen Lösungen vorzuschlagen. Hilfreicher ist es, auszuhalten, dass es erst mal keine Lösung zu geben scheint. Denn wenn man jetzt als Coach kluge Vorschläge macht, erntet man meist nur Einwände. Ich warte dann einfach ab, wehre auch die Aufforderung, Vorschläge zu machen freundlich ab – und verlasse mich auf das Unbewusste des Klienten.
Warum akzeptieren können für ein zufriedenes Leben wichtig ist.
Akzeptieren bedeutet, seinen Frieden damit zu machen, dass wir unser Leben nur zu einem kleinen Teil bestimmen können. Und das betrifft jeden von uns. Schon, dass wir geboren werden, zu einer bestimmten Zeit an diesem Ort auf der Erde, haben andere entschieden. Raum und Zeit unserer Lebens sind uns also vorgegeben.
Das bedeutet nicht, dass jeder nicht versuchen kann, das Bestmögliche aus seinem Leben zu machen. Aber im Leben jedes Menschen wird es immer Dinge geben, die schwierig sind, unangenehm, schmerzlich, unabwendbar. Viele Menschen hadern mit dieser Tatsache und glauben, dass sie ein Anrecht auf ein besseres Schicksal haben.
Kurz gesagt: „Shit happens“. Beim Akzeptieren von schmerzlichen Erlebnissen spielen die Religionen eine wichtige Rolle. Denn der Glaube an etwas Höheres gibt Hoffnung, Religion motiviert durchzuhalten und auf bessere Tage zu hoffen, schreibt Prof. Dr. Ulrich Sachsse in diesem Beitrag.
Beim Stichwort „Schicksal“ wurde Sven M. ganz aufgeregt.
„Das heißt, dass wir im Wesentlichen dem Schicksal ausgeliefert sind. So wie ich jetzt Corona meinen ungewollten Ruhestand verdanke.“
„Na ja, das Schicksal gibt den Rahmen vor aber wir sind ihm nicht hilflos ausgeliefert“, erwiderte ich.
„Jetzt bin ich aber mal gespannt.“
„Nun, wir haben immer die Wahl, einer Situation, in die wir hineingestellt wurden, etwas Positives abzugewinnen.„
„Sagen Sie das mal einem Menschen, der aufgrund einer Falschaussage lebenslang im Gefängnis sitzt“, war der skeptische Einwurf des Klienten.
„Auch er hat die Wahl, sich am Fensterkreuz aufzuhängen oder sich für die Arbeit in der Gefängnisbibliothek zu bewerben.
Durch den technologischen Fortschritt haben viele die Illusion entwickelt, alles kontrollieren zu können. Doch das konnte noch nie ein Mensch. Wir können mehr wählen als ein Mensch im Mittelalter aber die Rahmenbedingungen unserer Existenz können wir uns auch nicht aussuchen.“
„Wenn ich meine Existenz nicht wählen kann und Unglück und Unsicherheiten nicht ausschließen kann, was kann ich denn dann noch wählen?“
„Sie können immer wählen, wie Sie mit einer gegebenen Situation umgehen wollen.“
„Danke für den Trostpreis. Das ist mir zu wenig“, sagte der Klient.
„Tja, mehr ist im Leben nicht möglich. Für niemanden. Apropos, zu wenig. Ich habe mal über einen Menschen geschrieben, der ohne Arme und Beine auf die Welt kam.“
„Ich nehme an, der hat sich nicht umgebracht.“
„Richtig. Er wurde Vortragsredner, speziell für benachteiligte Kinder und Jugendliche.“
Verläuft ein Coaching gut, öffnet sich langsam ein neuer Raum beim Klienten. Er erkennt seinen Engpass, der ja immer eine Engstelle im Denken und in der Vorstellung ist. Bei Sven M. war der Engpass, dass er seinen vorzeitigen Ruhestand nicht als etwas verstand, was Menschen eben in diesem Alter als Schicksal erleben. Aufgrund seines starken Wunsches nach Unabhängigkeit und grenzenloser Freiheit erlebte er den Ruhestand als eine Art Zwangsstilllegung. Und war gekränkt.
Die Kränkung verstellte ihm bis jetzt den Blick darauf, was er aus seiner Situation machen könnte. Stattdessen verharrte er im Nichtstun und brauchte gegen die aufkommenden depressiven Gefühle jeden Abend einige Gläser Rotwein.
„Bei allem Verständnis über Ihren etwas getrübten Abschied von Ihrem Traumberuf sehe ich in Ihrer jetzigen Situation auch eine Herausforderung, einen Weckruf“ , sagte ich zu Sven M.
„Da bin ich wieder gespannt.“
„Die Situation gibt Ihnen die Chance, sich noch einmal ganz neu zu bewähren, indem Sie sich eine neue Aufgabe suchen.“
„Ja, ja, ich weiß. Ich soll mir ein Ehrenamt suchen. Flüchtlingskindern Deutsch beibringen oder im Pflegeheim mit alten Opas spazieren gehen. Das raten mir meine Freunde auch. Aber wissen Sie was? Dazu habe ich null Lust. Das bin nicht ich!“
„Nun, vielleicht geht in dieser Situation nicht so sehr um die Frage „Wer bin ich?“ sondern vielmehr „Wer will ich gewesen sein?“. Ein Frührentner, der seine letzten Jahre mit dem Schicksal hadernd absitzt oder der danach Ausschau hält, wo er noch gebraucht werden könnte.“
„Sie träumen doch! Wer braucht einen alten Piloten, der nichts kann außer Fliegen und das nie wieder darf? In meinem Alter bin ich doch für jeden anderen Beruf unattraktiv. Außer für ein unbezahltes Ehrenamt vielleicht.“
Ich hatte einige Ideen, was ein fitter 63-Jähriger mit Auslandserfahrung und drei Fremdsprachen alles anfangen könnte. Aber ich hütete mich davor, diese zu äußern, denn Hilfe ohne Auftrag geht fast immer schief.
Was ich stattdessen meist mache, ich säe Ideen. Eine Technik von Milton Erickson, die ich 1977 von seinem Schüler Jeffrey Zeig lernte. Ich sagte also zu Sven M.:
„Ich habe keine Ahnung, wie Ihre Antwort auf die Frage „Wer will ich gewesen sein?“ lauten wird. Aber ich kann mir vorstellen, dass sie etwas mit Ihrem Unabhängigkeitsbedürfnis und Ihrem Wunsch, anderen Menschen zu dienen, zusammenhängen könnte.“
Und nach einer kurzen Pause warf ich noch ein:
„Oh, wir sind schon zehn Minuten über der Zeit. Wir müssen hier schließen.“
Sven M. war über das schnelle Ende der Sitzung etwas verwirrt. Nach sechs Wochen erhielt ich eine eMail von ihm.
Die Frage nach seinen Werten habe ihn nach unserem Coaching am meisten beschäftigt. Und die Frage, wie er „Freiheit“ und „Dienen“ zusammenbringen könne.
Dann habe er in der Zeitung gelesen, dass ein vermögender Pensionär einen persönlichen Sekretär suchte. Man sei sich schnell einig gewesen und die Chemie habe von Anfang an gestimmt. Für ihn organisiere er jetzt Reisen, verwalte dessen Immobilien und verbringe auch mal ein Wanderwochenende mit ihm. All das ginge auch gut unter Coronaauflagen.
Diese Aufgabe gebe ihm Struktur ohne ihn einzuengen. Mittlerweile hätten noch zwei Freunde des Pensionärs Interesse an dieser Dienstleistung gezeigt.
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PS: Alle Fallgeschichten sind real, aber so verfremdet, dass ein Rückschluss auf meine Klienten nicht möglich ist und die Vertraulichkeit gewahrt bleibt.
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