„Warum werde ich nie wütend?“, fragte die Frau im Lebensthemen-Coaching.

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Unterdrückte Wut ist Wut, die da ist aber von dem Menschen nicht gefühlt wird, weil sie abgespalten oder verdrängt wurde. Solche Menschen wirken auf den ersten Blick recht angenehm. Erst mit der Zeit zeigt sich, dass die unterdrückte Wut seltsame Bahnen findet. 

„Ich weiß gar nicht, ob ich wirklich ein Problem habe und ob Sie mir helfen können“, begann die Klientin im 3-h-Lebensthemen-Coaching. Ruth C. war 37 Jahre alt, arbeitete in einem Reisebüro, verheiratet, keine Kinder.

„Aber irgendetwas beschäftigt Sie so, dass Sie mich doch angeschrieben haben“, antwortete ich.
„Ja, weil ich jetzt schon zweimal von einer guten Freundin hörte, dass das nicht normal ist, wie ich bin.“
„Was genau meinen denn Ihre Freundinnen damit?“
„Dass ich nie wütend werde. Selbst in Situationen, wo ich verstandesmäßig betrachtet, guten Grund hätte, wütend oder ärgerlich zu reagieren.“
„An welche Situationen denken Sie?“
„Na, zum Beispiel wenn sich jemand an der Supermarktkasse vordrängt oder letzten Monat, als mir jemand von hinten ins Auto fuhr und mich beschimpfte, dass ich schuld sei. Der Punkt war, ich stand bei Rot an der Ampel und er fuhr mir hinten drauf. Und solche Situationen passieren mir öfters. In der Fußgängerzone rempelt mich jemand an, auf der Autobahn zeigt mir jemand den Vogel und schneidet mich, obwohl ich ganz vorschriftsmäßig fahre.“
„Und was erleben Sie in diesen Momenten?“
„Ich bin vor allem verwirrt, irgendwie diffus im Kopf. Ich weiß, dass das gerade seltsam ist, was geschieht aber ich bin wie gelähmt, kann nicht reagieren, jedenfalls nicht mit Ärger oder Wut.“
„Und wie finden Sie es, dass Sie nie wütend werden?“
fragte ich auf der Suche nach einem Ansatzpunkt für ein Anliegen des Klienten.

Ohne Anliegen kein Auftrag, ohne Auftrag kein Coaching.

Die Klärung des Anliegens, aus dem sich meist der Auftrag ergibt, ist wesentlich für einen guten Coachingprozess. Denn Hilfe ohne Auftrag geht immer schief, wie ich hier beschrieben habe.

Anliegen sind

  • Beschreibungen einer unerwünschten Situation, die öfters auftritt
  • Unerfüllte Wünsche des Klienten
  • Konkrete Hindernisse, Beschwernisse oder Mangelzustände, die der Klient immer wieder erlebt
  • Eine oder mehrere problematische Situationen, die der Klient erlebt hat oder die ihn beschäftigen.

Klienten sind meistens ungeübt im Formulieren eines klaren Anliegens oder gar eines Auftrags. Insofern ist die Klärung des Anliegens zu Beginn des Coachings ein wichtiger Bestandteil der gemeinsamen Arbeit. Hinzu kommt, dass ein „gutes“ Anliegen einen hohen „Kittelbrennfaktor“ haben sollte. Denn vor allem dann hat der Coachee ein starkes Motiv, sich auf die Coachingarbeit einzulassen und danach – eventuell – auch etwas zu ändern.

Woran erkennt man einen hohen Kittelbrennfaktor?
An der Dringlichkeit, die der Klient erlebt. Heißt konkret:

  • Durch eine Vorsorgeuntersuchung das Risiko von Darmkrebs zu verringern – geringer Faktor.
  • Dröhnende Zahnschmerzen – hoher Faktor.
  • Infos über die Gefahren des Klimawandels – geringer Faktor.
  • Notiz, dass es zu Engpässen und Preiserhöhungen bei der Gasversorgung kommt – hoher Faktor.
  • Häufige Unzufriedenheit der Partnerin – geringer Faktor.
  • Partnerin berichtet über eine Affäre und äußert Trennungsabsichten – hoher Faktor.

Bei Ruth C. spürte ich noch keinen hohen Kittelbrennfaktor. Gemeinsam mit der Klientin wollte ich herausfinden, was sie umtreibt, beschäftigt und letztlich zu mir gebracht hat.

Ist unterdrückte Wut besser als ausgedrückte Wut?

Auf meine letzte Frage antwortete Ruth C.:

„Ich finde das eigentlich gut, dass ich nie wütend werde. Es gibt schon genug Aggression und Wut auf der Welt, da ist es doch gut, wenn nicht alle Menschen gleich ausflippen und rumschreien.“
„Wie meinen Sie das?“
„Na ja, egal wohin Sie schauen. Im Straßenverkehr, in den öffentlichen Debatten oder die vielen Kriege weltweit. Alle sind wütend, beschuldigen immer den Anderen und wollen mit ihrer Meinung Recht haben.“
„So, zu diesen Leuten wollen Sie nicht gehören!“
„Nein, auf keinen Fall!. Gehöre ich auch nicht. Das sind für mich Primitivlinge, die stecken geblieben sind auf einer niederen Stufe des Menschseins.“
„Da könnten Sie glatt wütend werden über diese Primitivlinge.“
„Ha, Sie wollen mich provozieren!“,
lachte Ruth C. auf. „Das schaffen Sie nicht! Das haben schon ganz andere versucht und nicht geschafft! Ich werde einfach nicht wütend.“

Ich war etwas überrascht über die Schärfe, die jetzt in unser Gespräch gekommen war  – und auch wieder nicht. Der letzte Satz klang außerdem wie ein Triumph. Doch um was ging es bei diesem Kampf? Wer sollte besiegt werden – und warum?

Was ist unterdrückte Wut?

Unterdrückte Wut ist Wut, die automatisch und unbewusst vermieden wird. Dahinter steckt oft der Wunsch, unangenehme Gefühle im Zusammenhang mit Stress, Konflikten und Spannungen zu vermeiden. Menschen, die mit unterdrückter Wut zu kämpfen haben, sagen häufig: „Ich werde nie wütend!“ Vor allem deshalb, weil sie sich ihrer Wut nicht bewusst sind.

Doch Wut ist eine Emotion, die alle Menschen erleben. Schon Babies und Kleinkinder, die noch keine Abwehrmechanismen haben, erleben Wut – und äußern sie unmittelbar und ausdauernd. Oft als Reaktion auf Situationen, die als verstörend, stressig oder unfair empfunden werden.

Es gibt verschiedene Arten, wie Menschen reagieren, wenn sie wütend sind. Unterdrückte Wut ist Wut, die nicht ausgedrückt wird, weil Menschen sie unbewusst ignorieren oder sie grundsätzlich vermeiden wollen, oft aus Angst oder auch aus Scham.

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Ursachen und Auslöser unterdrückter Wut.

Unterdrückte Wut kann aus vielen Gründen auftreten, aber traumatische Erfahrungen in der Kindheit sind die häufigste Ursache. Nach dem Erleben eines Traumas fühlen sich viele Menschen verwirrt, traurig oder beschämt und geben sich selbst die Schuld für das, was passiert ist. Das führt dazu, dass sie die Wut über das Geschehene verinnerlichen und abspalten.

Auch kulturelle Normen spielen eine Rolle dabei, wie Menschen lernen, Wut auszudrücken, wobei Mädchen oft lernen, dass es inakzeptabel ist, Wut auszudrücken.

In einigen Fällen haben Sie sich als Kind vielleicht das Verbot gehört oder gespürt, Ihre Wut zu fühlen oder darüber zu sprechen. Wenn Sie beispielsweise in einer Familie aufgewachsen sind, in dem emotionaler Ausdruck beschämt oder kritisiert wurde, haben Sie möglicherweise den Glauben verinnerlicht, dass es nicht sicher ist, über Ihre Gefühle zu sprechen.

Das führt dazu, dass Sie Emotionen unterdrücken, anstatt sie auszudrücken. In einem anderen Fall assoziieren einige Menschen, die in einer Familie mit einem missbräuchlichen Elternteil aufgewachsen sind, Wut möglicherweise mit Angst oder der Gefahr vor vergifteten Beziehungen.

Es gibt jedoch meist nur einzelne Ursache für das Unterdrücken von Wut. Mehrere genetische und umweltbedingte Faktoren können ebenfalls dazu beitragen, wie Menschen Emotionen ausdrücken und verarbeiten.

Einige der häufigsten Ursachen und Auslöser unterdrückter Wut sind:

  • Zurückgewiesen zu werden, weil man in der Vergangenheit Ärger geäußert hat
  • Chronisches Trauma erlebt
  • Die Tendenz haben, Emotionen zu intellektualisieren
  • Anderen immer gefallen zu wollen
  • Eine Autoritätsposition zu haben, die eine stoische, neutrale Persönlichkeit erfordert
  • Ein hohes Maß an Scham
  • Probleme mit Impulskontrolle und Emotionsregulation
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Was passiert mit unterdrückter Wut?

Unterdrückte Wut kann sich auf viele Arten zeigen und subtile Veränderungen bewirken, wie Menschen fühlen, denken und sich verhalten.

Manche Menschen bemerken diese Veränderungen erst, wenn ihre Wut extreme Ausmaße erreicht oder sie jemanden angreifen. Viele Menschen, die Wut unterdrücken, berichten, dass sie frühe Anzeichen von Wut übersehen haben. Sie spüren dann nicht, dass ihre Herzfrequenz höher wurde, ihr Blutdruck steigt oder sie generell spät bemerken, dass sie angespannt, unruhig oder nervös sind.

Menschen, die Wut unterdrücken, werden oft defensiv, wenn sie beschuldigt werden, wütend zu sein.

Sie wollen um keinen Preis zugeben, wenn sie frustriert sind, selbst wenn es für andere Menschen offensichtlich ist. Diese Abwehrhaltung erschwert es ihnen, ihre Wut kennenzulernen und mit der Zeit zu akzeptieren. Stattdessen spielen sie ihre Gefühle herunter, ignorieren oder leugnen sie.

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„Sie sagten vorhin, dass Sie oft auf aggressive Leute treffen, wie erklären Sie sich das?“
„Ganz verstehe ich das auch nicht aber es ist schon auffällig. Zum Beispiel lief ich mit einem Kollegen auf der Straße, als ein Bettler uns aufforderte, ihm fünf Euro zu geben. Wegen des unfreundlichen Tons des Bettlers und der Höhe des Betrags weigerten wir uns beide und gingen weiter. Der Mann verfolgte uns, packte mich am Mantel und beschimpfte mich aufs Übelste. Aber nur mich, obwohl mein Kollege ja auch kein Geld gegeben hatte. Und sowas passiert schon öfters.“
„Und wie erklären Sie sich das?“
„Schwer zu sagen, aber es ist, als würde ich solche Leute unbewusst anziehen, die ihre Wut an mir auslassen.“
„Hört sich so an, als ob Sie Ihre Aggression ganz in den Schatten verdrängt haben und sie Ihnen deswegen in anderen Menschen begegnet.“
„Verstehe ich nicht“,
sagte die Klientin etwas ungehalten. „Was habe ich mit dem blöden Bettler gemeinsam?“

Wenn die unterdrückte Wut in den Schatten gedrängt wird.

Der Begriff des „Schatten“ wurde erstmals von dem Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung (1875 – 1961) in die Psychologie eingeführt. Damit bezeichnete er unbewusste Persönlichkeitsaspekte, mit denen sich ein Mensch nicht identifizieren will und sie sogar vehement ablehnt. Doch der Schatten verschwindet nicht, der Mensch trägt ihn weiter latent in sich.

Der Schatten enthält nach Jung alles, was dem positiven, bewussten Selbstbild des Menschen und seiner gesellschaftlichen Maske widerspricht. Es sind un- oder teilbewusste Persönlichkeitsmerkmale, Verhaltensweisen oder auch Gefühle, die man nicht haben oder bei sich sehen möchte. Ich fand es hilfreich, der Klientin dieses Konzept zu erklären.

„Das Konzept des Schattens von C. G. Jung besagt: Alles, was Sie in der Außenwelt ablehnen, vielleicht sogar abstoßend finden, ist auch in Ihnen enthalten. Es ist Ihnen bloß nicht bewusst, weil Sie es vor langer Zeit ins Unbewusste verdrängt haben.

Wenn diese Dinge nicht auch in Ihnen vorhanden wären, würden sie Ihnen gar nicht auffallen – Sie würden gar nicht damit in Resonanz gehen. Gerade wenn sie aber starke Gefühle – egal ob positive oder negative – in Ihnen auslösen, ist das ein Zeichen dafür, dass es sich vermutlich um verdrängte innere Anteile handelt.“

„Sie meinen, dass ich nie wütend werde, hat damit zu tun, dass ich zwar Wut in mir habe, sie aber verdrängt habe – und andere Menschen darauf reagieren?“
„Das wäre die Hypothese. Aber erzählen Sie doch mal: Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrem Leben mit Wut gemacht?“

„Erfahrungen mit Wut? Nur negative! Meine Eltern haben jeden Tag miteinander gestritten, wirklich jeden Tag. Und zwar heftig, da flogen auch schon mal Teller durch die Gegend. Meist ging es darum, dass mein Vater viel trank, und dann Sachen, die er erledigen sollte, vergaß. Auch schlug er uns Kinder öfter, wenn er besoffen war. Da meine Mutter klein und zierlich war, traute sie sich nicht, dagegen anzugehen. Dreimal verlor er auch seine Arbeit wegen der Trinkerei und meine Mutter musste noch einen zweiten Job annehmen.“
„Muss eine schlimme Zeit für Sie gewesen sein, oder?“
„Ja, für mich und meine Schwester, die drei Jahre jünger ist. Als Kinder verkrochen wir uns immer im Bett, wenn es wieder losging und beteten, dass das aufhört. Es wurde erst etwas besser, als mein Vater auf Montage arbeitete und unter der Woche immer mal tagelang weg war. Aber wenn er zurückkam oder am Wochenende gab es dann wieder Streit und Schreierei.“

„Wie haben Sie das ausgehalten?“
„In der Etage unter uns wohnte eine sehr nette Familie, auch mit zwei Kindern in unserem Alter. Das war so eine warme freundliche Atmosphäre bei denen. Zu denen sind wir oft geflüchtet. Aber am Abend mussten wir ja doch immer zurück zu meinen Eltern.
Zum Glück konnte ich mit sechzehn ausziehen, weil ich eine Lehre als Bürokauffrau in einer anderen Stadt anfing. Dort fand ich eine christliche Clique, die sich viel mit den Weltreligionen beschäftigte und wie man negative Emotionen in der Welt überwinden kann.“
„Das hat sie vermutlich stark angezogen, dass Menschen auch ganz anders miteinander umgehen können als Ihre Eltern.“

„Ja, das hat mich fasziniert. Dort bin ich auch auf Ostermärsche mitgegangen, habe später eine Ausbildung in gewaltfreier Kommunikation gemacht. Seit der Zeit meditiere ich auch zweimal täglich und lebe vegetarisch.“
„Mit anderen Worten, Sie haben viel dafür getan, dass Sie nicht so werden wie Ihre Eltern.“
„Ja, das war wohl ein starker Antrieb hinter all dem.“
„Und dann müsste es Ihnen ja heute rundum besser gehen.“
„Das denke ich auch, aber leider habe ich oft Kopfschmerzen, fast schon Migräneanfälle, wenn der Stress im Büro zu groß wird. Ich kann auch schlecht für mich einstehen oder mich abgrenzen. Dadurch fühle ich mich oft ausgenutzt.“

Negative Auswirkungen unterdrückter Wut.

Wenn Wut unterdrückt wird, kann sie sich aufstauen und negativ auswirken. Wut an sich ist nicht schädlich oder schlecht, aber ohne ein Ventil oder eine Möglichkeit, sie auszudrücken, sind Menschen oft nicht in der Lage, sie einfach „loszulassen“, besonders wenn der Auslöser etwas ist, dem sie oft begegnen.

Zu den schädlichen Wirkungen unterdrückter Wut gehören: Bluthochdruck, Depression, chronischer Stress, Herzprobleme, Schlaflosigkeit und ein geringes Selbstwertgefühl.

Obwohl viele Menschen Wut negativ beurteilen, hat Wut eine wichtige regulatorische Funktion. Sie ist ein großer Katalysator für Veränderungen auf der persönlichen und sozialen Ebene (Kittelbrennfaktor). Außerdem ist sie ein Verteidigungsmechanismus gegen äußere Kräfte, die die persönliche Integrität bedrohen oder gefährden.

Warum wir oft nicht in der Balance leben.

Das ganze Leben findet statt zwischen entgegengesetzten Polen. Heiß und kalt. Oben und unten. Hart und weich. Yin und Yang.

Direkt an den Polen ist das Leben immer anstrengend und unangenehm. Wo es sehr heiß oder sehr kalt ist, lebt es sich nicht so gut wie in dem großen Raum zwischen den Polen, also in einer gemäßigten Klimazone.

Auch psychisch geht es uns am besten, wenn wir die ganze Bandbreite einer Polarität leben können.

  • Wenn wir stark sein können und wenn wir uns schwach zeigen dürfen.
  • Wenn wir sparen können und uns manchmal auch etwas gönnen.
  • Wenn wir etwas perfekt machen können, wenn es darauf ankommt – und wenn wir fünfe gerade sein lassen können, wenn das Ergebnis auch achtzigprozentig durchgeht.

Die größte Freiheit und Zufriedenheit erleben wir, wenn wir uns – je nach Situation – locker zwischen den jeweiligen Polen bewegen können.

Doch diesen Zustand erreicht niemand auf allen Gebieten. Denn durch Erziehung, persönliche Anlagen und Entscheidungen und äußere Umstände bevorzugen wir oft unbewusst einen einzigen Pol. Kommen immer zu spät. Können schlecht zuhören. Sind gnadenlos streng mit uns selbst. Wollen es allen anderen Recht machen.

Bei Ruth C. war die Balance zwischen wütend und friedlich deutlich verschoben. Sie lehnte Wut aufgrund ihrer biographischen Erfahrung mit ihren Eltern so stark ab, dass sie nie wütend wurde – und dass aber auch gut fand.

Erwachsensein heißt auch, sich von den Eltern innerlich abgelöst zu haben. Weder es genauso zu machen wie sie, noch exakt das Gegenteil. Im ersten Fall ist es Anpassung, im zweiten Fall Rebellion. Aber beide Formen sind noch nichts Eigenes.

Die Frage war, ob Ruth C. das ändern wollte – und warum. Das wollte ich mit meiner Anliegenfrage herausbekommen und sagte:

„Sie haben gesagt, dass Sie nie wütend werden und dass Sie die Nachteile dadurch auch sehen. Sie haben eine Verbindung zur Ihrer Herkunftsfamilie gezogen, in der es immer sehr laut und aggressiv zuging. Deshalb haben Sie sich früh mit der Nachbarsfamilie angefreundet, in der es friedlicher zuging. Später haben Sie sich vielen gewaltlosen Feldern zugewandt – um nur nicht so zu werden wie Ihre Eltern. Habe ich das so richtig wiedergegeben?“
„Absolut richtig.“
„Dann kommt jetzt meine wichtige Frage: Was wollen Sie jetzt genau hier?“

 

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Die Klientin dachte eine Weile nach und antwortete dann:

„Ich sitze in der Klemme. Ich will eigentlich nicht wütend werden, sehe aber, dass das ständige Unterdrücken meiner Wut auch keine Lösung ist. Gleichzeitig habe ich Angst, dass wenn ich mich meiner Wut nur ein bißchen nähere, sie mich überflutet und ich Amok laufe, weil ich sie die ganzen Jahre ja aufgestaut habe. Verstehen Sie, was ich meine?“
„Ich glaube, ja. Sie sehen Ihre Wut wie ein wildes Tier, das lange eingesperrt war und sich rächen könnte, wenn es jetzt freigelassen würde.“
„Ja, so ähnlich. Und wer garantiert mir, dass das nicht passiert?“

Wir waren an einer entscheidenden Stelle im Coachingprozess angekommen. Die Klientin spürte, dass eine Veränderung notwendig war – und hatte gleichzeitig Angst davor. Doch um etwas zu verändern, müssen wir die persönliche Komfortzone verlassen – und etwas riskieren.

Die Komfortzone bei Ruth C. war die lange geübte Fähigkeit, ihre ärgerlichen und wütenden Impulse so gründlich zu verdrängen, dass sie nicht mehr spürbar waren. Sie fühlte nicht mal mehr, wann sie wütend war.

In so einer Situation helfen meiner Erfahrung nach keine beschwichtigenden oder mutmachenden Sprüche à la: „Sie werden schon niemanden umbringen!“ oder „Wütend sein ist eine natürliche Reaktion, die brauchen Sie nicht zu verstecken.“

Stattdessen wollte ich bei der Klientin eine Veränderung in der Einstellung zu ihrer Wut anstoßen. Das funktioniert nicht gut, wenn man es nur über den Verstand versucht. Besser wirkt es als emotionale Erfahrung.

Deshalb bat ich Ruth C., es sich bequem zu machen, die Augen zu schließen und achtsam zu beobachten, welche Reaktionen in ihr abliefen, wenn sie folgenden Satz sagte:

„Die Wut ist mein Freund.“

„So ein Quatsch!“ entfuhr es Ruth C.
„Die Wut ist nicht mein Freund, sie ist mein Feind. Ich habe bei meinen Eltern gesehen, was die Wut anrichten kann. Ich will ja, dass sie verschwindet aus meinem Leben. Ich will sie ja loswerden. Die Wut wird niemals mein Freund!“

Die heftige Reaktion auf den positiven Satz zeigte mir, dass wir vermutlich den inneren Konflikt gut getroffen hatten. Klienten wollen ihre störenden Gefühle meistens weghaben, auflösen oder ins Gegenteil verwandeln. Aber Gefühle sind keine Feinde, sondern Reaktionen, die immer auch eine Bedeutung haben.

„Sie können Ihre Wut nicht so einfach loswerden oder zum Verschwinden bringen“, erklärte ich.
„Ihre Wut gehört Ihnen, gehört zu Ihnen. Aber Sie haben sie bisher erfolgreich unterdrückt. Doch sie ist immer noch da. Mittlerweile in der Form, dass andere Menschen auf Sie wütend reagieren, wie Sie erzählt haben.“
„Aber meine Wut macht mir Angst. Ich glaube, dass sie mein Leben zerstören kann, wenn ich sie nicht wegdrücke.“

„Genau, das ist der Punkt. Sie unterdrücken Ihre Wut, weil sie Ihnen Angst macht. So als sei sie tatsächlich ein wildes Tier, das man besser an die Kette legt und in einen Zwinger sperrt.“
„Und Sie schlagen jetzt vor, dass ich was mache?“, fragte Ruth C. ratlos.
„Sich mit Ihrer Wut befreunden. So wie Sie es mit einem aggressiven Hund von der Straße auch machen würden.“

„Aber warum soll die Wut mein Freund sein?“

„Weil sie Ihnen zeigt, wo Sie etwas partout nicht wollen. Wo jemand Ihre Grenzen überschreitet. Wo Sie etwas ungerecht finden. Wo Sie mit etwas nicht einverstanden sind, was gerade geschieht.“
„Und in den Situationen soll ich was tun? Ich kriege jetzt schon Herzrasen, weil mir ein paar Situationen eingefallen sind, als Sie sprachen. Und in den Situationen soll ich wütend werden?“

„Nein, überhaupt nicht. Sie sollen von außen beobachtet gar nichts tun. Sich nur an den Satz erinnern „Die Wut ist mein Freund“.
Und beobachten, was dabei in Ihnen abläuft. Ob Sie etwas von Ihrer Wut mitkriegen. Wo und wie sie sich zeigt. Vielleicht im Körper, vielleicht in einem inneren Bild, einer Stimme. Was die Wut Ihnen sagt. Was die Wut am liebsten machen würde. Äußerlich bleiben Sie ganz ruhig. Innerlich fangen Sie an, Ihre Wut kennenzulernen.“

„Klingt seltsam, aber macht mich neugierig“, sagte Ruth C.

„Schreiben Sie mir eine Mail, was daraus geworden ist. Und ich antworte Ihnen.“


Drei Monate später schrieb mir Ruth C. eine Mail.
Die ersten Tage habe sie gebraucht, um das Coaching innerlich zu verarbeiten. Zwischendrin sei sie unschlüssig gewesen, ob die Sitzung überhaupt etwas gebracht hätte. Dann sei ihr jedoch aufgefallen, dass sie Situationen klarer analysiere könne, wie sie sich danach fühlte. Und es wären ihr vermehrt Situationen aufgefallen, wo sie nach einer Situation sich schlecht gefühlt habe. Dann habe sie hinterfragt, ob sie in diesen Fällen sich geärgert habe – und hätte das in vielen Fällen bejahen können.

In einem zweiten Schritt habe sie zwei Persönlichkeitsanteile identifiziert, die dabei eine Rolle spielten und gegeneinander kämpften. Einen Teil, den sie „Friedensengel“ taufte, der grundsätzlich Konflikte vermeiden wolle und jeden aufkommenden Ärger wegrationalisiere.  Für den Gegenspieler hätte sie erst den Namen „Wüterich“ gewählt, der ihr aber dann zu negativ gewesen sei. Daraufhin fiel ihr der Name „Staatsanwältin„, der besser zu dem Teil passe, der darauf achte, dass ihre Grenzen eingehalten werden und der sich nicht scheue, in Konflikte zu gehen.

Mit dieser Vorgehensweise fühle sie sich sehr wohl, weil sie einen Zugang zu ihrem Innenleben gefunden hätte, für den der Satz „Die Wut ist mein Freund“ immer mehr zuträfe. In stressigen Situationen wäre sie jetzt immer seltener gelähmt, sondern könne beobachten, wie Friedensengel und Staatsanwältin agierten – und dann entscheiden, was sie für die richtige Strategie hielt.

Kolleginnen und Freundinnen hätten sie schon darauf angesprochen, dass sie in letzter Zeit ruhiger und gleichzeitig lebendiger wirke. Und so würde sie sich auch fühlen.

Ich schrieb zurück, dass ich ihr zu den Fortschritten gratuliere. Entscheidend sei, den inneren Beobachter ganz bewusst zu aktivieren. Alleine dieses Beobachten, was innerlich abläuft, hilft schon, sich aus der Situation rauszunehmen und die Wut reguliert sich dann fast von selbst.


 

Hier lesen Sie weitere Fallberichte aus meiner Coaching-Praxis:

Business-Coachings

Life-Coachings

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Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.

3 Kommentare

  1. Liebe Frau Messer,
    Sie haben Recht, Yin und Yang haben keine Pole aber einen Umkehrpunkt, wo eben das eine in das andere übergeht.
    Ich kenne mich leider nict mit dem gnostischen Kreis aus und kann dazu nichts sagen, aber mit dem Bild mit den unbequemen Extremen ist es ja gut erklärt, finde ich.

    Freut mich, dass Ihnen meine Beiträge gut gefallen.

  2. Ralf sagt

    Die Erklärungen in Ihrem Artikel sind eine sehr wichtige Lektion für die Probleme, die wir alle auf mentaler Ebene haben.
    Psychische Gesundheit ist sehr wichtig und wird oft unterschätzt.

  3. Anja Messer sagt

    Lieber Herr Kopp-Wichmann,
    Ihren Newsletter habe ich schon eine ganze Weile abonniert und mir gefällt die lebensweltliche Orientierung, sprich die Arbeitswelt, in der wir uns zurechtfinden müssen. Heute nun in ihrem Wut-Artikel sprechen, sagen Sie folgendes:
    „Das ganze Leben findet statt zwischen entgegengesetzten Polen. Heiß und kalt. Oben und unten. Hart und weich. Yin und Yang.

    Direkt an den Polen ist das Leben immer anstrengend und unangenehm. Wo es sehr heiß oder sehr kalt ist, lebt es sich nicht so gut wie in dem großen Raum zwischen den Polen, also in einer gemäßigten Klimazone.“

    Ich kenne mich nicht gut mit den östlichen Lehren aus, aber in meinem Verständnis hat das Yin und Yang keine Pole. Ich habe mich etwas mit dem gnostischen Kreis (Norelli-Bachelet) beschäftigt. Ist es nicht das, wovon Sie reden? Womöglich ist auch alles das Gleiche, mich interessiert auf jeden Fall Ihre Meinung zu diesen astrologischen Ansätzen.

    Freue mich, wenn Sie mir bei meiner Frage weiterhelfen,
    herzliche Grüße
    Anja Messer

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