„Das Katastrophendenken habe ich von meinem Vater“, sagte der Mann im Coaching.

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Beim Katastrophendenken neigt eine Person dazu, die schlimmstmöglichen Ergebnisse oder Konsequenzen für eine Situation anzunehmen, selbst wenn diese unwahrscheinlich oder unrealistisch sind. Was dahinter steckte und welcher Schlüsselsatz für ihn die Wende brachte, lesen Sie in diesem Fallbericht.

„Haben Sie denn keine Angst, wenn Sie hier abends wildfremde Menschen in Ihrer Praxis empfangen?“, raunte dunkel mein neuer Klient im 3-h-Coaching, Wolfgang G., 42 Jahre alt, Rechtsanwalt, verheiratet, zwei Kinder.
„Bis jetzt nicht, aber was haben Sie denn vor?“, antwortete ich.

Ich versuchte, die etwas düstere Atmosphäre, die Herr G. mit seiner Frage erzeugte, aufzulockern.

„Ich nicht – aber lesen Sie denn keine Zeitung?“
„Doch schon, aber vermutlich andere Inhalte als Sie.“
„Ha, vor zwei Jahren wurde ein Arzt in meiner Heimatstadt in seiner Praxis überfallen, auch abends. Den Täter hat man bis heute nicht gefasst.“

Die ersten Minuten im Coaching sind für mich immer aufschlussreich. Denn der Klient ist in einem fremden Raum mit einem fremden Menschen. Diese Unsicherheit bedeutet Stress und dann greifen Menschen unbewusst zu ihren bewährten Verhaltensmustern.

Und das typische Stressmuster von Wolfgang G. war, dass er schnell Gefahren witterte.

Wie entsteht Katastrophendenken?

Katastrophendenken,  auch als „Katastrophisieren“ bezeichnet, ist ein psychologisches Muster, bei dem jemand dazu neigt, sich auf negative oder katastrophale Gedanken und Szenarien zu konzentrieren. Dieses Denkmuster geht oft mit übermäßiger Sorge, Angst und Stress einher. Beim Katastrophendenken neigt eine Person dazu, die schlimmstmöglichen Ergebnisse oder Konsequenzen für eine Situation anzunehmen, selbst wenn diese unwahrscheinlich oder unrealistisch sind.

Auslöser für die düsteren Gedanken von Wolfgang G. war die Tatsache, dass er mich abends in meiner Praxis besuchte.

„Was führt Sie denn zu mir, Herr G.“, war meine Frage nach seinem Anliegen. „Ich nehme an, Sie wollen mir keine Alarmanlage verkaufen“.
„Meine Frau schickt mich. Sie sagt, dass sie das Leben mit mir bald nicht mehr aushält.“

Dass der Klient auf meinen kleinen Scherz nicht einging, schrieb ich seiner hohen Anspannung zu.

„Was machen Sie denn Schreckliches, dass Ihre Frau es nicht mehr lange mit Ihnen aushalten will?“
„Sie sagt, dass ich überall Schlimmes vermute und mich in Katastrophenphantasien verliere.“
„Und wie sehen Sie das?“
„Ich gebe zu, dass ich vielleicht manchmal etwas schwarz sehe – aber man weiß ja nie, was passieren könnte.“
„Haben Sie mal ein Beispiel dafür?“
„Na ja, wenn ich Kopfschmerzen habe und das passiert ja mal, denke ich eben sofort dran, dass das auch ein erstes Zeichen für einen Gehirntumor sein kann. Und wenn am anderen Tag die Kopfschmerzen weg sind, bin ich nicht unbedingt erleichtert. Oder wenn meine Frau in der Stadt ist und nicht gleich auf eine SMS von mir antwortet, denke ich sofort, sie geht fremd und verlässt mich.“

Durch welche Erlebnisse kann Katastrophendenken ausgelöst werden?

  1. Traumatische Ereignisse:
    Menschen, die traumatische Ereignisse wie Naturkatastrophen, Unfälle, Überfälle oder Verluste von Angehörigen erlebt haben, neigen möglicherweise dazu, sich stärker auf mögliche Katastrophen zu konzentrieren, da sie bereits negative Erfahrungen gemacht haben.
  2. Kindheitserfahrungen:
    Bestimmte Kindheitserfahrungen wie Vernachlässigung, Missbrauch oder das Aufwachsen in einem instabilen Umfeld können dazu führen, dass Menschen ein tiefes Misstrauen gegenüber der Welt entwickeln und sich ständig Sorgen über mögliche Katastrophen machen.
  3. Medienberichterstattung:
    Die ständige Berichterstattung über Katastrophen in den Medien kann Angst und Sorgen verstärken. Personen, die regelmäßig Nachrichten verfolgen, können sich leichter von den negativen Schlagzeilen beeinflussen lassen.
  4. Gesundheitsprobleme:
    Die Diagnose einer schweren Krankheit oder die Erfahrung von Gesundheitsproblemen können dazu führen, dass Menschen über mögliche negative Entwicklungen in Bezug auf ihre Gesundheit besorgt sind.
  5. Finanzielle Schwierigkeiten:
    Finanzielle Unsicherheit oder Schulden können dazu führen, dass Menschen sich Sorgen über finanzielle Katastrophen und den Verlust ihres Lebensstandards machen.
  6. Persönlichkeitsmerkmale:
    Einige Menschen haben von Natur aus eine pessimistischere Persönlichkeit oder neigen dazu, sich mehr Gedanken über mögliche negative Ereignisse zu machen.
  7. Soziale Einflüsse:
    Das soziale Umfeld und die kulturellen Einflüsse können ebenfalls eine Rolle spielen. Menschen, die in einem Umfeld aufgewachsen sind, in dem Katastrophendenken weit verbreitet ist, können eher dazu neigen, dieses zu übernehmen anstatt es zu hinterfragen.

Das Alter, in dem Katastrophendenken ausgelöst wird, kann ebenfalls variieren. Einige Menschen beginnen schon in der Kindheit oder Jugend, sich über mögliche Katastrophen Sorgen zu machen, während andere dies erst im Erwachsenenalter entwickeln.

„Wie war das bei Ihnen? Wann hat es angefangen, dass Sie überall Gefahren und Katastrophen befürchten?“, frage ich nach.
„Ich habe mein ganzes Leben lang Ängste und Sorgen gehabt. Es ist schwer zu sagen, wann das anfing, aber es gibt zwei entscheidende Kindheitserlebnisse, die meine Neigung zum ständigen Befürchten des Schlimmsten geprägt haben.“
„Erzählen Sie!“
„Ich erinnere mich, dass ich gerade sechs Jahre alt war, als mein Vater einen schweren Autounfall hatte. Er überlebte zwar, aber trug schwere Verletzungen savon. In den Monaten, als er im Krankenhaus lag und sich langsam erholte, war meine Mutter sehr besorgt und gestresst.“
„Das muss furchtbar für Sie gewesen sein. Wie hat Ihre Mutter reagiert?“

„Ich sah, wie sie weinte und nicht wusste, wie sie die Familie alleine versorgen sollte. Dieses Bild von meiner weinenden Mutter und die Gedanken, dass mein Vater sterben könnte, prägten mich sehr. Von da an hatte ich immer Angst davor, dass mir oder meinen Lieben etwas Schlimmes zustoßen könnte.“
„Sie sprachen von zwei Ereignissen, die Ihr Katastrophendenken verursacht hätten.“
„Ja, das zweite war der Hausbrand bei unseren Nachbarn. Ein paar Jahre später, als ich etwa zehn Jahre alt war, brach in unserem Nachbarhaus ein verheerender Brand aus. Die Flammen waren riesig, und ich sah, wie die Feuerwehr versuchte, das Feuer zu löschen. Die Familie in dem Haus überlebte zum Glück, aber das Haus wurde völlig zerstört. Seitdem hatte ich furchtbare Angst vor Bränden und bildete mir ein, dass unser Haus jederzeit in Flammen aufgehen könnte. Seit der Zeit muss ich immer, wenn ich aus dem Haus gehe, alle Lichtschalter dreimal kontrollieren und prüfen, ob der Herd auch wirklich ausgeschaltet ist. Meine Frau meint, dass ich psychisch krank sei mit diesen starken Ängsten. Stimmt das? Was ist Ihre Meinung?“, fragte Wolfgang G. mit einem ängstlichen Blick.

Ist Katastrophendenken schon eine Krankheit?

Katastrophendenken ist keine eigenständige psychische Krankheit, sondern ein psychologisches Muster, bei dem jemand dazu neigt, sich auf negative oder katastrophale Gedanken und Szenarien zu fokussieren.

Es ist ein häufiges Merkmal vieler psychischer Zustände, einschließlich Angststörungen, Depressionen und posttraumatischer Belastungsstörungen. Hier sind einige wichtige Punkte zu beachten:

Gelegentliches Katastrophendenken ist ein normaler Teil des menschlichen Denkens. Jeder kann von Zeit zu Zeit besorgniserregende Gedanken haben, insbesondere in stressigen oder herausfordernden Situationen.

Katastrophendenken wird problematisch, wenn es übermäßig wird und das tägliche Leben beeinträchtigt. Wenn jemand ständig negative Szenarien erwartet und dies zu Angst, Stress oder sozialer Isolation führt, könnte professionelle Hilfe erforderlich sein.

„Was haben Sie denn schon unternommen gegen Ihr Katastrophendenken?“, wollte ich von dem Klienten wissen.
„Einiges. Angefangen habe ich mit autogenem Training. Das hat anfangs gut funktioniert. Dann habe ich eine Verhaltenstherapie gemacht. Da hat der Therapeut versucht, mit mir positive Sätze einzuüben, wenn die Angst kommt. Aber das hat nicht wirklich geklappt.“
„Wie schätzen Sie denn selbst Ihre ängstlichen Gedanken ein?“,
fragte ich Wolfgang G.
„Das ist ja das Verrückte. Ich bin eigentlich ein vernünftiger Mensch und weiß selbst, dass fast alle meiner Befürchtungen übertrieben oder grundlos sind.“
„Ja, mit der Amygdala kann man schlecht diskutieren“,
antworte ich.
„Amygdala? Den Begriff habe ich schon mal gehört. Was ist das nochmal?“

Die Amygdala: der Rauchmelder in unserem Gehirn.

Ich versuchte, es möglichst anschaulich zu erklären:

„Angenommen, Sie gehen durch den Wald und plötzlich ist ein bedrohliches Knurren zu hören. Sofort wird Ihre Amygdala aktiviert und meldet: „Achtung, Gefahr!!!“ Der laute Ton lässt unser Herz rasen und unsere Muskeln anspannen. Sie sind bereit zur Flucht oder zum Kampf. Die Amygdala ist im Grunde Ihr Schutzengel, der Ihnen mitteilt, dass etwas nicht stimmt, noch bevor wir es selbst erkennen können. Es sorgt dafür, dass wir wachsam und bereit sind, um uns vor möglichen Gefahren zu schützen.“

„Und was bedeutet das in meinem Fall?“, fragte Wolfgang G.
„Die Amygdala wird alarmiert, wenn sie denkt, dass die aktuelle Situation ähnlich genug zu früheren Erfahrungen ist. Je ähnlicher die Situation ist, desto stärker kann die Reaktion der Amygdala sein. Sie arbeitet wie ein Rauchmelder in Ihrem Gehirn und reagiert, wenn sie glaubt, dass es Anzeichen für eine mögliche Bedrohung gibt.“
„Und was hat meine Amygdala durch den Unfall meines Vaters und den Brand bei den Nachbarn geschlossen?“
„Gute Frage. Was glauben Sie, was Sie daraus gefolgert hat?“

„Mhm, dass das Leben gefährlich ist.“ antwortete leise Gerhard G.
„Ja, oder noch genauer, dass auch wenn alles ruhig ist, etwas Schlimmes passieren kann. Denn der Unfall Ihres Vaters und der Hausbrand geschahen ja ohne Vorzeichen“, erklärte ich dem Klienten.
„Verstehe, aber viele Menschen erleben doch Unfälle oder Unglück. Aber nicht alle reagieren mit diesem Katastrophendenken, oder?“
„Nein, d
ie genaue Schwelle für diese Übereinstimmung kann von Person zu Person unterschiedlich sein. Einige Menschen reagieren empfindlicher auf potenzielle Gefahren, während andere weniger empfänglich dafür sind.“
„Und bei mir ist es aber keine leise Stimme, die mich warnt …“
„…sondern ein dröhnendes Megaphon, das Sie nicht ignorieren können.“

Wie kann man Ängste reduzieren?

Viele Menschen haben mit Ängsten zu kämpfen. Sie sind ein häufiger Anlass, eine Psychotherapie zu beginnen. Daher gibt es unterschiedliche Ansätze, Ängste zu reduzieren:

  • Selbstreflexion: Versuch, die Ursachen der Ängste zu verstehen
  • Akzeptanz: Man betrachtet Ängste als einen normaler Teil des Leben.
  • Atemtechniken und Entspannung: Diese können helfen, das Nervensystem zu beruhigen.
  • Achtsamkeitstechniken können helfen, den Fokus auf den gegenwärtigen Moment zu lenken

Das wichtigste Prinzip aus meiner Sicht ist dabei das Mittel der Distanzierung.

Was heißt das?
Es macht einen Riesenunterschied im Erleben, ob ich sage: „Ich habe Flugangst“ oder wenn ich sage: Ein Teil von mir hat Flugangst. Und ein anderer Teil von mir weiß, dass Fliegen die sicherste Art der Fortbewegung ist.“

Im ersten Fall identifiziere ich mich mit meiner Angst: „Ich habe Flugangst.“ Es gibt null Distanz zwischen mir und der Angst. Ich bin gleichsam die Angst.

Im zweiten Fall kann ich beobachten, dass es in mir zwei Stimmen gibt. Die Stimme der Angst – und die Stimme der Vernunft. Beide haben gute Argumente für ihre Position. Deswegen können sie auch unendlich miteinander streiten. Keiner würde den anderen Teil überzeugen können.

Zum Glück gibt es noch eine andere Instanz in uns. Das ist kein Teil, sondern eine logische Ebene über den Teilen. Und das ist das ICH, der Erwachsene in uns. Und der kann beiden Stimmen zuhören – und dann – entscheiden.

„Und was mache ich jetzt, wenn die Angst sich meldet?“, wollte Wolfgang G. wissen.
„Was machen Sie denn bisher?“
„Ich nehme die Angst ernst und überlege, was passieren könnte.“
„Also, Sie haben Kopfschmerzen und überlegen, dass das ein Symptom für einen Gehirntumor sein könnte.“
„Ja, genau.“
„Und hat dieser Gedanke einen Einfluss darauf, ob Sie einen Gehirntumor haben oder nicht?“,
fragte ich.
„Natürlich nicht. Das könnte ich nur durch eine ärztliche Untersuchung herauskriegen. Aber das traue ich mich nicht.“
„Warum nicht, dann hätten Sie doch Klarheit.“
„Ja, hätte ich. Aber genau davor habe ich ja Angst. Dass etwas Schlimmes passieren könnte.“
„Verstehe, es genügt Ihnen, Angst zu haben. Und die Angst bringt Sie nicht dazu, sich Klarheit zu verschaffen.“
„Ich weiß, es ist verrückt. Das sagt meine Frau ja auch.“
„Angenommen, Sie haben Kopfschmerzen und der Gedanke, dass das auf einen Gehirntumor hinweisen könnte, taucht auf. Und wenn Sie jetzt diese Angst wegschieben würden mit dem Gedanken »Ach, so schlimm wird es schon nicht kommen. Bestimmt ist es nur Kopfweh« Wie wäre das für Sie?“

Ich versuche an dieser Stelle des Coachings Herrn G. zum Mentalisieren einzuladen.

Die Fähigkeit des Mentalisierens ist wichtig für die Beziehung zu uns selbst wie auch zu anderen Menschen. Dabei untersuchen wir, wie wir unser Erleben durch  Gedanken und Gefühle, Absichten und Überzeugungen organisieren. Es bezieht sich auch auf die Fähigkeit, die Gedanken, Emotionen und Handlungen anderer Menschen besser zu verstehen.

„Statt an einen Gehirntumor zu denken, anzunehmen, es könnte auch einfach ein Kopfschmerz sein? Das wäre mir zu riskant.“, antwortete Gerhard G.
„Es könnte ja doch sein, dass ich Krebs habe. Und dann würde ich mir Vorwürfe machen, dass ich leichtsinnig ein Warnsymptom übersehen hätte.“
„Interessant. Sie füllen also die Ungewissheit, ob es nur Kopfschmerz ist oder mehr, mit Ihrer größten Angst, dass Sie an Krebs sterben könnten.“
„Na ja, ich mache das ja nicht bewusst“,
und nach einer Pause fuhr Wolfgang G. fort, „aber es ist vermutlich schon so.“
„Heißt das, dass Ihr Katastrophendenken eine Art Schutzmaßnahme ist? Ein Schutz davor, leichtsinnig oder oberflächlich gedacht zu haben?“
„Hmm, so habe ich das noch nie betrachtet – aber ja, da is was dran. Auf eine mögliche Katastrophe vorbereitet zu sein, gibt mir ein Gefühl von Sicherheit.“

„Wie ging das Leben Ihres Vaters eigentlich weiter?“, wollte ich wissen.
„Gar nicht. Es ging gar nicht weiter“, antwortete Gerhard G., „ein Jahr nach dem Unfall hat er sich umgebracht.“
„Oh, das tut mir sehr leid. Wissen Sie den Grund?“
„Ja, ich kenne den Grund, weil er einen Abschiedsbrief hinterließ. In dem stand, dass er die Ungewissheit, wie sein Leben jetzt weitergehen soll, nicht aushalte. Er war ein Leben lang gläubig gewesen, aber dieser unverschuldete Unfall habe in ihm jedes Vertrauen zerstört.“
„Wie war das für Sie, diese Schlussfolgerung Ihres Vaters, die ja dann zu seinem Ende führte, zu lesen?“
„Ich konnte das irgendwie nachvollziehen. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“
„Sie meinen, man solle etwas Unerfreuliches schnell zu Ende bringen, anstatt das Unangenehme endlos zu verlängern?“
„Ja, so kann man sagen.“
„Aber Sie haben sich ja für die zweite Möglichkeit entschieden?“
„Was meinen Sie?“
„Na ja, durch Ihr Katastrophendenken belasten Sie Ihr Leben enorm. Und das schon seit Jahren. Ein Erschrecken ohne Ende.“‚
„Aber ich kann dieses Denken nicht einfach abstellen.“
„Ja, das glaube ich Ihnen. Und zwar aus dem Grund, weil dieses Katastrophendenken eine wichtige Funktion für Sie erfüllt.“
„Verstehe ich nicht. Welche Funktion?

„Ich denke, das finden Sie selbst heraus. Stellen Sie sich doch mal vor, Ihr Katastrophendenken wäre morgen früh verschwunden. Wie durch ein Wunder. Sie würden aufwachen, ohne düstere Gedanken und fortan würde es Ihnen sehr, sehr gut gehen. Wie wäre das für Sie?“

Warum ich im Coaching gern mit hypothetischen Fragen arbeite.

Mit hypothetischen Fragen kann man experimentell eine “Als-Ob-Realität” entwerfen, die an die inneren Ressourcen des Klienten andockt. Am bekanntesten ist die Wunderfrage von Steve de Shazer: „Wenn ein Wunder geschehen würde, die und das, was Sie heute als Problem erleben, wäre verschwunden, was würden Sie dann tun?)

Auch bei Gerhard G. wurde deutlich, welchen versteckten Nutzen sein Katastrophendenken für ihn hatte. Es war seine beste Lösung für einen inneren Konflikt, der ihm bisher nicht bewusst war.

„Ich glaube, ich hätte starke Schuldgefühle, wenn es mir richtig gut gehen würde.“
„Schuldgefühle inwiefern?“
„Meinem Vater gegenüber. Weil er unverschuldet diesem Unfall erlegen ist, der dann zu seinem Selbstmord führte. Ich finde das so traurig und tragisch.“
„Das ist es auch, traurig und tragisch.Und weil Sie so sehr innerlich noch mit ihm verbunden sind, dürfen Sie bis jetzt Ihr Leben auch nicht genießen, sondern belasten es mit Katastrophenphantasien. Das ist auch sehr traurig und tragisch.“

Der Klient war ganz still geworden. Auf seinem Gesicht konnte ich nicht sehen, was er gerade fühlte. Bis eine einzelne Träne über seine Wange rollte.

„Macht Sie ziemlich traurig, hm?“
„Ja, ich bekomme eine Ahnung, wie sehr ich mit meinem Vater innerlich noch verbunden bin.“
Sie sind weniger verbunden mit ihm als an ihn gebunden – oder sagen wir besser: gefesselt.
„Wie meinen Sie das?“

„Nun, Sie wissen, dass Ihre Katastrophenängste unrealistisch sind, können aber nicht damit aufhören. Weil Sie dadurch versuchen, sich ähnlich unglücklich zu machen wie er es Ihrer Meinung nach war.“
„Aber wie kann ich damit aufhören? Ich habe gerade ein inneres Bild, dass ich mit einem Bein in seinem Grab stehe.“
„Ein sehr treffendes Bild. Das auch bedeutet, dass Sie runter vom Friedhof müssen. Um wieder ganz in Ihr Leben treten.“
„Wie macht man das?“

Warum erleben manche das eigene Glück als Schuld?

Wir waren an einer entscheidenden Stelle des Coachings. Ich nenne diesen Moment „Engpass“.

Wie der Name schon sagt, gibt es am Engpass wenig Freiraum. Der Engpass bestimmt, ähnlich einem Flaschenhals, wieviel Output möglich ist. Im Coachingprozess ist der Engpass meistens eine fehlende innere Erlaubnis des Klienten.

Den Engpass kann man nur indirekt ansteuern, denn es handelt sich um unbewusste Vorgänge. Deshalb werden bestimmte Situationen für den einen Menschen zum Problem, wo ein anderer kein Problem sieht.

Bei meinem Klienten bestand der innere Konflikt darin, dass er nicht genügend abgelöst war von seinem Vater. Bekannt ist so eine Dynamik als „Überlebensschuld.“ Dieser Begriff wurde erstmals für KZ-Opfer, die von extremen Schuldgefühlen betroffen waren.  Ihr ganzes Denken galt dabei der Frage:

„Warum habe ich das Unheil überlebt, während die anderen –
Eltern, Kinder, Geschwister, Freunde – daran zugrunde gingen?

Auch in anderen Zusammenhängen zeigt sich dieses Vergleichen von Erlebnissen, das aber nie befriedigend beantwortet werden kann. Denn die Erklärung mit Schicksal, Zufall, Pech oder Glück sind für den Betroffenen zu einfach.

Dass jemand die innere Position „Ich habe überlebt und du nicht“ schuldhaft erlebt anstatt mit entsprechender Trauer und irgendwann auch einem Lösen, muss eine wichtige Funktion haben. Nach meiner Erfahrung verarbeitet damit jemand seine eigene Ohnmachtserfahrung.

In meinen Coachings habe ich Menschen erlebt, die den frühen Verlust eines langjährigen Schulfreundes, die Behinderung eines Geschwister oder auch der Bankrott des Vaters dazu führen können, dass man sich schuldig fühlt. Man ermpfindet sein eigenes Glück als Schuld.

Schon Sigmund Freud entdeckte einst während einer Therapie einen Widerstand gegen die Genesung, als er bemerkte, dass sich der Gesundheitszustand einer Person nach einer erfolgreichen Therapie plötzlich verschlechterte. Er nannte dies eine negative therapeutische Reaktion und vermutete auch hier eine unbewusste Schuld.

Nicht zum Nachdenken anregen, sondern zum Erleben führen.

Das ist einer meiner Grundsätze, den ich in meiner Coaching-Fortbildung vermittle.

Es wäre wenig hilfreich, wenn ich Gerhard G. die obigen Überlegungen mitteilte. Im besten Fall bekäme ich als Antwort ein „Klingt interessant, muss ich mal drüber nachdenken“. Im ungünstigsten Fall aber ein verwirrtes „HÄHH?

Unbewusste Verstrickungen sollte man dem Klienten nicht mitteilen – sondern ihn erleben lassen. Denn das gefühlsmäßige Erleben einer schlichten Tatsache hat immer eine enorme Überzeugungskraft. Dann brauche ich als Coach keine Argumente. Sondern der Klient überzeugt sich gewissermaßen selbst, dass wir auf der richtigen Fährte sind.

Wie macht man das?

Ich schlage dazu einen passenden Schlüsselsatz vor, den der Klient langsam ausspricht – und dabei achtsam beobachtet, welche Reaktionen in ihm ausgelöst werden. Ein Schlüsselsatz ist meist eine schlichte Tatsache. Zum Beispiel:

  • „Mein Leben gehört mir.“
  • „Ich bin ein erwachsener Mann.“
  • „Ich habe Grenzen.“

Im Alltagsbewusstsein ausgesprochen bewirkt so ein Satz meist ein neutrales Zustimmen. Einfach, weil ja jeder Satz eine Tatsache beschreibt. Doch im achtsamen Zustand – mit geschlossenen Augen – öffnet der Klient sich seiner inneren Welt. Und da kommen von irgendwoher ganz andere Reaktionen. Eine unangenehme Enge im Hals, eine seltsame Trauer, ein resigniertes „Schön wär’s!“

Und als Coach weiß ich dann, dass wir auf der richtigen Spur sind. Und der Klient ist überrascht und ahnt ebenfalls, dass hinter dieser Reaktion sich eine wichtige Information für ihn verbirgt.

„Sie hatten vorhin das innere Bild, dass Sie mit einem Bein im Grab Ihres Vaters stehen“, knüpfte ich wieder an.
„Ja, das stimmt. Eigentlich ein gruseliges Bild.“
„Kann man so sagen. Und ich sagte, das dieses Bild auch bedeutet, dass Sie runter vom Friedhof müssen. Um wieder ganz in Ihr Leben zu treten.“
„Aber wie macht man das?“,
wiederholte der Klient seine Frage.

Jetzt war der Moment für den passenden Schlüsselsatz da. Und ich sagte zu Gerhard G.:

„Ich bitte Sie, mal die Augen zu schließen … sich einen Moment nach innen zu konzentrieren …
und sich Ihren Vater vorzustellen … und zu ihm den Satz zu sagen:
»Papa, du bist tot – und ich lebe noch ein bisschen.«

Bei der Auswahl des Schlüsselsatzes leiten mich zwei Überlegungen.

  1. Welcher Satz ist einerseits zwar wahr, trifft aber beim Klienten vermutlich auf Widerstand?
  2. Trifft der Satz den von mir vermuteten inneren Konflikt des Klienten?

Aufschluss darüber gibt die unmittelbare Reaktion des Klienten. Bei Gerhard G. war es der richtige Schlüsselsatz, denn er reagierte mit einem entgeisterten Gesicht.

„Das … das kann ich nicht sagen“, stammelte er.
„Warum nicht?“, erkundigte ich mich sanft.
„Das klingt, als würde ich über ihn triumphieren. Du bist tot und ich lebe noch!“
„Das war nicht ganz der Satz, den ich vorschlug.“
Und nach einer Pause sagte ich:
„Der Satz war: Du bist tot – und ich lebe noch ein bisschen.“
„Aber da ist doch gar kein Unterschied!“
„Doch, das ‚bißchen‘ ist der Unterschied.“

Bei der Arbeit mit dem Unbewussten kommt es oft auf Kleinigkeiten an. Das richtige Wort, die richtige Betonung, das richtige Tempo. Nach einer Weile probierte Gerhard G. nochmal den Satz.

Diesmal sprach er den Schlüsselsatz richtig aus. Und wurde prompt traurig.

„Aber warum berührt mich der Satz so? Ich verstehe das nicht.“
„Nun, bisher war Ihre Überzeugung »Papa, Du hast kein schönes Leben gehabt und dann darf ich auch keines haben.«
Deswegen haben Sie mit Ihren Katastrophenphantasien Ihr Leben ständig verdunkelt. Aus Loyalität zu ihm. Und mit dem neuen Satz drücken Sie aus, dass es keine Schuld gibt, die Sie wiedergutmachen müssen. Sondern, dass Sie anerkennen, was ist: Du bist tot und ich lebe noch ein bisschen.“

Lesen Sie zum selben Thema einen weiteren Beitrag von mir: „Wozu Menschen aus Loyalität und Treue fähig sind.“


 

Nach einem halben Jahr bekam ich eine Mail von Gerhard G.
Unsere Coachingsitzung und der Satz wären ihm noch lange nachgegangen. Mit der Zeit sei der Satz immer tiefer in ihn eingesunken und ein friedvolles Gefühl erzeugt.
Dann sei ihm die Idee gekommen, das Grab seines Vaters aufzusuchen. Dort zu stehen und den Satz zu sagen, wäre nochmal schwierig gewesen. Aber nach einigen Anläufen ging es dann immer leichter.
Manchmal ertappe er sich jetzt noch beim Katastrophisieren. Dann sage er schnell innerlich den Schlüsselsatz und seine Angst komme ihm dann lächerlich vor.

Ich schrieb ihm zurück: „Ihre Katastrophenangst war nicht lächerlich, sondern Ihre einzige Verbindung zu ihrem Vater – im gemeinsamen Leid. Schön, dass Sie jetzt auf eine bessere Weise mit ihm verbunden sind.“


Hier lesen Sie weitere Fallberichte aus meiner Coaching-Praxis:

Business-Coachings

Life-Coachings

PS: Alle Fallgeschichten sind real, aber so verfremdet, dass ein Rückschluss auf meine Klienten nicht möglich ist und die Vertraulichkeit gewahrt bleibt.


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Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.

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