Unpünktlichkeit: Warum unpünktliche Menschen eigentlich pünktlich sind

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Persönlichkeit / Zeitmanagement
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Sie kennen das. Das Meeting ist für 15 Uhr angesetzt. Fünfzehn Teilnehmer sind eingeladen.  Fünf Minuten davor sind fast alle da. Als der Moderator um 15 Uhr beginnen will, sagen Sie: „Lassen Sie uns noch zwei Minuten warten. Herr Schiller und Frau Sommer kommen gleich.“

Klar, Sie kennen deren Unpünktlichkeit. Und tatsächlich: um 15.02 Uhr drücken sich beide Mitarbeiter zur Tür rein, hastig eine Entschuldigung murmelnd. Dann sagen Sie: „Es fehlt noch Herr Stuhler, aber der kommt frühestens in zwanzig Minuten, da fangen wir besser an.“

Und tatsächlich: Um 15.22 Uhr kommt Herr Stuhler herein, erzählt was von einem dringenden Anruf mit der Tochtergesellschaft in Singapur und Strategieplänen für 2015 bis 2020.

Was ist da los? Können Sie hellsehen?

Natürlich nicht, Sie kennen nur Ihre Pappenheimer und deren Unpünktlichkeit. Jeder kennt solche Menschen, die zu Geburtstagseinladungen „pünktlich“ eine Stunde zu spät kommen. Oder selbst bei Prüfungsterminen es nicht schaffen, genau zur vereinbarten Zeit aufzutauchen.

Was ist da los?

„Das Symptom ist die Lösung.“

Mit diesem Satz arbeite ich in meinen Persönlichkeitsseminaren, um die Ursache von störenden Erlebnis- oder Verhaltensweisen aufzudecken, die jemand trotz Anstrengung bisher nicht ändern konnte. Verhaltensweisen wie:

  • Vor Vorträgen fürchterlich aufgeregt zu sein.
  • Wichtige Aufgaben dauernd aufzuschieben.
  • Sich immer als Opfer zu fühlen.
  • Sich häufig mit Autoritäten anzulegen.
  • Zu selten nein zu sagen und sich abzugrenzen.
  • Alles  immer superperfekt machen zu wollen …

Die Überschrift ist nicht so leicht zu verstehen. Gemeint ist, dass Verhaltensweisen, die uns an uns selbst stören und die wir trotz etlicher Bemühungen nicht verändern können, sich verstehen lassen als eine Lösung für einen inneren, unbewussten Konflikt. Wie zum Beispiel Unpünktlichkeit.

Eine Lösung natürlich nicht für die äußere Situation, da kassiert man oft unangenehme Konsequenzen. Sondern als die beste Lösung für einen inneren Konflikt. Das Vertrackte ist: dieser Konflikt ist Ihnen unbewusst. Was bedeutet, dass Sie auch keine andere Verhaltensweise finden können, weil Sie gar nicht wissen, welchen Konflikt Sie mit Ihrem störenden Verhalten gerade „lösen“.

Zurück zur Unpünktlichkeit.

unpünktlich, unpünktlichkeit, verspätung, aufschieberitis, prokrastination, Wer regelmäßig zu Terminen ein paar Minuten zu spät kommt, ist nicht unpünktlich. Sondern sehr pünktlich, denn es braucht ja ein ausgezeichnetes Zeitmanagement, um zu jedem Meeting pünktlich zwei Minuten zu spät kommen! 😉

Mit mangelnder Orientierung über die Zeit hat das nichts zu tun. Sonst müsste das ja variieren. Oder derjenige könnte ja einfach zwei Minuten früher losgehen. Das weiß er natürlich – aber warum tut er es nicht?

Die Antwort lautet: weil ständige Unpünktlichkeit für diesen Menschen eine ganz wichtige Funktion hat. Oder anders ausgedrückt: weil sie einen inneren Konflikt löst.

Doch welchen inneren Konflikt löst jemand, wenn er immer ein paar Minuten zu spät kommt?

Meiner Erfahrung nach steckt dahinter ein Autonomiekonflikt. Derjenige muss bei festen Terminen seine Unabhängigkeit beweisen, indem er die Vereinbarung unterläuft. Er rebelliert dagegen „verplant“ zu werden – obwohl er der Terminvereinbarung ja meist selbst zugestimmt hat.

Wer achtsam untersucht, wie er es eigentlich hinkriegt, genau zwei Minuten zu spät zu kommen, wird etwas Erstaunliches entdecken.

Zwanzig Minuten vor dem Termin ist derjenige mit irgendetwas beschäftigt. Mails lesen, an einem Projekt arbeiten etc.

Wenn jetzt kurz vor dem Meeting-Termin der Blick auf die Uhr fällt und sich eine innere Stimme meldet, dass man jetzt abschließen und sich auf den Weg zum Besprechungsraum machen muss, passiert es.

Der „Unpünktliche“ kriegt ein unangenehmes Gefühl, ist hin und her gerissen, liest weiter seine Mails oder nimmt noch ein Telefonat an. Eine Minute nach 15 Uhr sieht er, dass es später geworden ist, rafft seine Unterlagen zusammen und schafft es gerade noch, „pünktlich“ um 15.02 Uhr zu erscheinen. Jedes Mal.

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Dahinter steckt Methode. Wenn man sich hierzulande zu einer bestimmten Uhrzeit verabredet, ist es ja nur praktisch, wenn alle da sind. Es bedeutet nichts. Es geht ja auch anders.

„Primitive“ Völker, wo niemand eine Uhr hat, haben auch Meetings. Da lautet die Vereinbarung „Wir treffen uns bei Sonnenuntergang am Berg!“ Das klappt auch prima.

Der notorisch „Unpünktliche“ empfindet die Vereinbarung „15 Uhr Meeting, Raum 123“ aber nicht als nützliche Information, sondern als EINSCHRÄNKUNG SEINER FREIHEIT. Jemand will ihm vorschreiben, wann er seine Mails lesen darf, ob er noch diesen Anruf entgegennehmen darf, wann er sein Zimmer zu verlassen hat.

Und wer ein Autonomieproblem hat, der rebelliert jetzt. Er will sich nicht dem Diktat der Zeitvereinbarung beugen, da müsste er ja gehorchen, sich unterwerfen. Niemals! Er ist doch ein freier Mensch, das wollen wir doch mal sehen!

Der notorisch Unpünktliche muss dauernd beweisen, dass er ein freier Mensch ist. Deshalb überhört er die innere Stimme, die ihn an das pünktliche Aufbrechen erinnert, trödelt noch ein bisschen herum, bis er um 15.01 Uhr beschließt: Jetzt gehe ich los! Ich hab ja noch das Meeting. Er erscheint dort – pünktlich zwei Minuten später – und drückt damit aus: Hier bin ich. Aber zu meiner Zeit!

Der hier beschriebene Vorgang ist dem „Unpünktlichen“ immer völlig unbewusst. Es ist seine beste Lösung für seinen inneren Autonomie-Konflikt. Auf seine ständige Unpünktlichkeit angesprochen, wird er ganz andere Erklärungen liefern:

  • „Ich hab halt immer so viel zu tun.“
  • „Da kam noch ein Anruf.“
  • „Der Stress! Der Stress!“
  • „Ich bin halt so. Das war schon in der Schule so.“

Doch der Fragende wird solche Antworten selten akzeptieren, denn die anderen Meetingteilnehmer haben auch viel zu tun, beantworten auch ihre Mails. Nehmen aber einen Anruf, wenn es klingelt, wenn sie gerade aus dem Büro zum Meeting gehen, nicht mehr an. Weil sie wissen, dass sie dann zu spät kämen.

Solche inneren Konflikte entstehen meist in der Kindheit oder frühen Jugend, wo wir täglich in einer abhängigen Position lernen, wie es in der Welt zugeht. Und dort entwickeln wir auch unsere Strategien, mit solchen Situationen umzugehen und Gebote, Vorschriften etc. zu unterlaufen.


Noch zwei Arten von Unpünktlichkeit.

könig_xs_VRD - Fotolia Da war noch Herr Stuhler, der grundsätzlich immer 20 Minuten später zu Besprechungen erscheint. Und dann was erzählt von einem dringenden Anruf mit der Tochtergesellschaft in Singapur oder einem Telefonat mit dem Landtagsabgeordneten.

Diese Menschen haben ein Statusproblem. Sie brauchen einen Auftritt.

Würden sie 5 Minuten vor Meetingbeginn schon da sein, mit den anderen Teilnehmern sich unterhalten und warten, dass es anfängt, bekämen sie schon bei dieser Vorstellung ein unangenehmes Gefühl:

ICH UNTER ALL DEN NORMALOS IN DER MASSE SITZEN??? Da sieht mich ja keiner, da geh ich ja unter. Da bin ich ja einer von denen. Und woran soll man dann erkennen, dass ich wichtig bin???

Die dritte Gruppe von „Unpünktlichen“ ist natürlich nie unpünktlich.
Einfach weil sie zu jedem verabredeten Termin schon mindestens eine Viertelstunde früher da sind. Haben schon ihre Unterlagen gelesen und geordnet, die Tagesordnung auswendig gelernt – sind also tiptop vorbereitet.

Für sie ist schon die Vorstellung, erst drei Minuten vor Sitzungsbeginn zu erscheinen, unvorstellbar und total unangenehm. „So kurz vor knapp? Und wenn dann was dazwischen kommt, ich was vergessen habe oder nochmal aufs Klo muss?“

Diese Menschen haben eine panische Angst, Fehler zu machen oder unangenehm aufzufallen. Wenn Sie sich tatsächlich mal verspäten würden und zwei Minuten nach Besprechungstermin rein kämen, würden sie rot anlaufen, sich in Grund und Boden schämen und nichts von der Sitzung mitkriegen. Weil sie die ganze Zeit damit beschäftigt wären, über ihr Versäumnis und dessen schreckliche Folgen nachzugrübeln.


Unpünktlichkeit hat nichts mit der Zeit zu tun.

Deshalb greifen auch oft übliche Zeitmanagement-Seminare zu kurz. So nützlich die dort vorgestellten Tools sind, man kann die Zeit nicht managen. Höchstens sich selbst. Das klappt meist auch – wenn die angewendeten Methoden keinen inneren Konflikt berühren. Denn dann ist man zwar entschlossen, die guten Tipps anzuwenden – aber es klappt nicht. Warum?

Weil das gezeigte „störende“ Verhalten die beste Lösung ist. Nicht für die äußere Situation, sondern für den inneren, unbewussten Konflikt.

Dieser Ansatz, problematische Verhaltensweisen anzugehen, ist erst einmal ungewöhnlich. Aber wenn man ihn mal verstanden hat und anwendet, versteht man viele seltsame Verhaltensweisen besser:

  • Wie ein Verteidigungsminister und ein Bundespräsident es innerhalb weniger Wochen schafften, ihre Karriere gründlich zu ruinieren.
  • Warum es so schwer ist, sich das Rauchen abzugewöhnen.
  • Warum Aufschieber sich jedes Mal schwören: „Morgen fang ich an!“

Der Betroffene hat meist kreative Erklärungen. Sie wissen es jetzt besser: weil das seltsame Verhalten für den Betreffenden die beste Lösung ist.

Über Unpünktlichkeit hat auch die SÜDDEUTSCHE mal ein Interview mit mir gemacht. Hier können Sie es lesen.


 

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Foto: © mr.markin, VRD Fotolia.com

Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.