„Mein Vater? Ich habe nur einen Erzeuger“, sagte die Frau im Coaching.
Die Vater-Tochter-Beziehung ist der Grundstein für das Verhältnis, das Frauen zu Männern haben. Welche Folgen es haben kann, wenn der Vater von Mutter und Tochter nur als „Erzeuger“ erlebt wird, lesen Sie in diesem Fallbericht aus meiner Coaching-Praxis.
„Bei Ihnen kriegt man ja auch keinen Parkplatz!“ war der Begrüßungssatz der Klientin.
„Jetzt stehe ich da oben im Halteverbot und hoffe mal, dass keiner mich aufschreibt“, fuhr sie fort. „Ich komme zum Coaching, weil mein Chef Sie kennt und darauf bestand, dass ich Sie aufsuche. Er findet, ich sei mit unseren Kunden zu direkt.“
Vor mir stand Regina O., 46 Jahre alt, Pharmareferentin eines großen Arzneimittelherstellers, einsfünfundsechzig groß, mit einem für eine Frau sehr festen Händedruck und einem stechenden Blick.
„Na, dann kommen Sie doch erst mal rein“, sagte ich zu ihr.
Die ersten Minuten sind immer aufschlussreich in meinem 3-h-Coaching. Denn der Klient betritt für ihn unbekanntes Terrain. Er kennt mich zwar schon ein bißchen, aus dem Netz, von Mails. Aber jetzt ist es die erste persönliche Begegnung, in meinen Räumen und nicht auf neutralem Boden.
Das heißt, für den Klienten ist es eine unsichere Situation. Und Menschen reagieren ganz unterschiedlich darauf:
- Manche zeigen ihre Unsicherheit, indem sie leise sprechen und erst nach der zweiten Aufforderung sich trauen, hinzusetzen.
- Manche überspielen ihre Unsicherheit, indem sie betont dynamisch mich begrüßen, als würden wir uns schon ewig kennen.
- Manche tun so, als wäre die Situation für sie völlig alltäglich und benehmen sich so, als träfen sie sich mit einer guten Freundin in einem Café. So wie meine Klientin.
In meiner Coaching-Fortbildung trainiere ich die Teilnehmer darin, ihre intuitive Wahrnehmung zu vertiefen. Denn das Wesentliche, was zwischen zwei Menschen geschieht, teilt sich nicht über Worte mit. Darin sind wir fast alle geschickt, uns zu verstellen und einen guten Eindruck zu hinterlassen. Nein, das Wesentliche, vor allem dort, wo es um die Beziehungsgestaltung geht, wird nonverbal über das Verhalten kommuniziert.
„Sie sagten, Ihr Chef schickt Sie hierher. Was sollen Sie denn seiner Meinung nach ändern?“, fragte ich Frau O.
„Das habe ich ja schon gesagt, er meint, ich wäre zu direkt mit unseren Kunden“, war die Antwort.
„Aber kann man das denn ändern, frage ich Sie.“
Etwa fünf Minuten waren bis jetzt vergangen und ich bemerkte eine leichte Verärgerung in mir. Erst eine Beschwerde der Klientin, dann eine Zurechtweisung und jetzt eine theoretische Frage; ich bekam eine Ahnung, was ihrem Vorgesetzten Sorgen machte.
„Haben Sie mal ein Beispiel für Ihr angeblich zu direktes Verhalten?“, wollte ich wissen.
„Ja klar, er ist mal bei zwei Kundenterminen von mir mitgegangen und hatte hinterher eine ganze Liste mit Sachen, die er bei mir beobachtet hatte. Ich würde den Kunden nicht ausreden lassen, manchmal mit den Augen rollen, wenn der Kunde was sagt, meine witzig gemeinten Bemerkungen gefielen ihm auch nicht“, gab die Klientin an.
„Und was schließen Sie jetzt aus dem Feedback Ihres Vorgesetzten?“, fragte ich, um herauszubekommen, ob es einen Ansatz von Auftrag gab, was immer schwierig ist, wenn jemand zum Coaching beordert wird.
Auch bei dieser Klientin gab es nur Abwehr:
„Ja, Gott, die Menschen sind halt unterschiedlich. Der eine ist so, der andere so. Mein Chef ist meistens diplomatisch, man könnte auch sagen, konfliktscheu. Ich bin eben direkt. Das hat mir meine Mutter beigebracht. Und vor allem, meine Zahlen stimmen ja. Also, worüber regt er sich so auf?“
Die Vater-Tochter-Beziehung prägt eine Frau oft fürs Leben.
Die Fähigkeit zur Empathie, also wahrzunehmen, was in einem anderen Menschen vor sich geht, entwickelt sich sehr früh. Schon ganz kleine Kinder beobachten ihre Umgebung ganz genau, kriegen mit, was in anderen vorgeht und greifen oft helfend ein.
Wie der Vater in Beziehung zur Tochter sich verhält, ist dabei genauso wichtig wie der Kontakt der Mutter zur Tochter. Beide prägen die Beziehungslandkarte der Tochter.
Ich vermutete, dass dies keine Stärke meiner Klientin war und war neugierig, ob wir herausfinden könnten, woran das lag. Dazu stelle ich immer Fragen zur Herkunftsfamilie, denn dort lernen wir wichtige Fähigkeiten – oder eben nicht.
„Sie erwähnten vorhin, dass Ihre Mutter Ihnen die direkte Art beigebracht hat. Was meinen Sie damit?“, wollte ich wissen.
„Als Kind in unserer Straße spielte ich hauptsächlich mit Jungs. Und da ging es manchmal schon rauer zu. Als mich mal wieder ein Junge ärgerte und ich heulend nach Hause lief, tröstete mich meine Mutter nicht, sondern fuhr mich an, dass ich mich gefälligst wehren solle anstatt zu flennen. Körperlich ging das ja nicht, da war ich den Jungs unterlegen. Aber von da an, wenn mir einer dumm kam, ließ ich einen flotten Spruch los und hatte meistens die Lacher auf meiner Seite. So verschaffte ich mir mit der Zeit Respekt“, berichtete die Klientin sichtlich stolz.
„Da haben Sie ja ein frühes Survivaltraining absolviert“, vermutete ich.
„Stimmt, meine Mutter fand das toll. Sie war auch so. Als einzige Frau in einer Autowerkstatt machte sie dort die Auftragsabwicklung und musste sich auch immer durchsetzen.“
„Und wie fand das Ihr Vater?“, war ich jetzt neugierig.
„Mein Vater? Ich habe keinen Vater, nur einen Erzeuger“, war die trotzige Antwort.
Die Klientin erzählte, dass der Vater sich direkt nach der Geburt von der Mutter getrennt hatte, nie Alimente gezahlt hatte. Nie ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte.
„Haben Sie ihn denn nie vermisst?“, fragte ich nach.
„Wie soll man etwas vermissen, was man nie hatte?“, gab die Klientin als Antwort.
Denn natürlich vermisst jedes Kind einen fehlenden Elternteil. Vor allem dann, wenn es erlebt, dass andere Gleichaltrige auch mal vom Vater von der Schule abgeholt werden oder beim Abschlussfest bei anderen Kindern beide Eltern anwesend sind. Oder wenn es in der Klasse um den Beruf des Vaters geht und das Mädchen keine Antwort weiß.
Warum eine schwierige Vater-Tochter-Beziehung eine Hypothek ist.
Nichts über den eigenen Vater zu wissen, hinterlässt immer eine tiefe Wunde in Menschen. Denn emotional betrachtet, dient das Wissen, von wem wir abstammen, als sichtbarer „Beweis“ unserer Existenz.
Kennt man den eigenen Vater nicht, stellt das gefühlsmäßig fast immer die eigene Existenzberechtigung infrage. Sein Nichtvorhandensein und die gefühlte Ablehnung münden leicht in die Überzeugung, nichts wert zu sein. Nicht dazuzugehören zu den anderen Frauen oder Mädchen, weil einem etwas Entscheidendes fehlt.
Der Verlust des Vaters kann viele Ursachen haben:
- In meiner Generation und der davor war oft der Krieg die Ursache.
Väter kamen nicht mehr nach Hause, weil sie gefallen waren. Oder kehrten traumatisiert aus dem Krieg zurück und fanden sich nicht mehr zurecht. - Heute verlieren Kinder ihre Väter meist durch Scheidung oder Trennung.
Entweder weil der Vater das Interesse an seinem Kind verliert oder weil die Mutter es ihrem Ex-Mann heimzahlen will und das Umgangsrecht erschwert oder verweigert. - Noch häufiger weil Väter mehr mit ihrem Beruf verheiratet sind als mit ihrer Partnerin.
Zwar körperlich anwesend aber geistig und emotional weit weg. - Oder Väter, die aus eigener Vaterlosigkeit keine emotionale Bindung zu ihren Kindern aufbauen können.
- Ein Spezialfall sind Kuckuckskinder.
Hier ist der Vater nicht der biologischer Vater des Kindes, weil die Mutter es mit einem anderen Mann zeugte und das Kind und seinen sozialen Vater im Glauben ließ, miteinander blutsverwandt zu sein.
Das Kind fragt sich in bangen Stunden, was es hier soll, wenn sich selbst der eigene Vater so früh schon abgewendet hat. Dieser Schmerz ist so groß, dass es ihn verdrängen oder kompensieren muss. Möglicherweise durch eine Essstörung, durch strenge Leistungsorientierung, durch Abwertung alles Männlichen.
Mädchen die ohne Vater aufgewachsen sind, wollen ihre Verletzlichkeit nicht zeigen, oft noch nicht einmal selbst empfinden. Denn es könnte als Schwäche interpretiert werden. Um ihre Verletzlichkeit zu verbergen, entwickeln sie oft einen „Sei stark-Antreiber“ und präsentieren sich der Welt als „ewiges Mädchen“ oder als „kämpferische „Amazone“.
Jemand mit einem „Sei stark”-Antreiber:
- Gebraucht oft Worte, die die Botschaft andeuten:
„Meine Gefühle und meine Handlungen habe nicht ich zu vertreten, sondern sind durch äußere Einflüsse hervorgerufen worden“, d.h. Gefühle werden versachlicht.
„Sie machen mich wütend!”
„Das Buch langweilt mich zu Tode!“
„ … und dann kommt diese Nervosität!”
„Sein Verhalten hat mich gezwungen, zurückzuschlagen!“
„Das Milieu dieser Stadt ruft Gewalttaten hervor!” - Spricht von sich selbst, indem er er/sie meist das Wort „man“ oder entsprechende Ausdrücke verwendet, bei denen er zu sich auf Distanz geht.
„Solche Situationen bringen einen ganz schön unter Druck.”
„Da kriegt man ja beinahe Angst.”
„Das freut einen ja dann auch.”
(Zitate von vfp.de)
Wie die Vater-Tochter-Beziehung zum Lebensthema werden kann.
Ich überlegte, wie ich diesem schmerzhaften Thema bei der routinierten Abwehr der Klientin beikommen könnte. Auf direktem Weg ging das nicht. Also durch Fragen oder Andeutungen. Das Unbewusste der Klientin würde sie schützen und für vernünftige Antworten sorgen.
[bctt tweet=“Im Coaching muss man oft die psychische Abwehr des Klienten unterlaufen. Man muss unter dem Radar einfliegen.“ username=“RKoppWichmann“]Dazu brauche ich die Achtsamkeit der Klientin. Denn das Alltagsbewusstsein nutzt immer die bewährten Routinen der Selbstorganisation, d.h. es verhindert, dass schmerzhafte Gefühle berührt werden können. Doch Veränderung geschieht nicht über Einsicht. Eine starke emotionale Beteiligung zu dem Thema ist notwendig.
Aber zuerst brauchte ich noch ein paar Information über die Beziehung zwischen Vater und Tochter.
„Kennen Sie denn Ihren Vater?“, wollte ich zuerst wissen.
„Was heißt ‚kennen‘?“, antwortete die Klientin, „ich weiß genau, wo er wohnt. In einem kleinen Dorf im Elsaß. Als ich vierzehn Jahre alt war, wollte ich, dass meine Mutter mal mit mir zu ihm fährt. Da wurde sie ganz eisig und sagte, das könne ich ihr nicht antun. Sie fing an zu heulen, dass dieser Mann ihr Leben verpfuscht hätte und er das auch mit meinem Leben machen würde.“
„Was meinte Ihre Mutter damit, dass er ihr Leben verpfuscht hätte?“
„Er hat sie ja während der Schwangerschaft verlassen wegen einer anderen. Bei uns auf dem Dorf war sie damit geächtet. Sie ist nie darüber hinweg gekommen, hat sich auch nie wieder einem Mann genähert. Ging völlig in ihrer Arbeit auf, war aber zeitlebens unglücklich. Heute würde ich sagen, sie war depressiv. Sie bekam dann mit 65 Jahren Brustkrebs und verstarb nach einem Jahr. Kein schönes Leben, würde ich mal sagen.“
„Hat sich denn Ihr Vater nie von sich aus bei Ihnen gemeldet?“ wollte ich noch wissen.
„Nein, nie. Ich hätte ihn auch nicht treffen wollen. Er ist für mich gestorben. Meine Mutter und ich kamen auch prima ohne ihn zurecht“, antwortete Regina O.
Ich hörte, wie sich ihre Stimme verändert hatte und dachte, dass wohl eben ein Gefühl aufgetaucht war. Verzichtete aber darauf, es anzusprechen, weil ich annahm, dass die Klientin es abstreiten würde.
In den beiden ersten Lebensjahren hat der Vater eine wichtige Rolle. sagt der Psychiater Matthias Franz:
„In dieser Zeit entdecken Kinder die Welt, sie lernen laufen und sprechen“. Die Entdeckung der Dreiecksbeziehung Vater-Mutter-Kind sei in dieser Phase entscheidend. „Der Vater nimmt das Kind auf den Arm, zeigt ihm den Weg weg von der Mutter und hilft bei der Erkundung der Welt. Das Kind erkennt, dass das in Ordnung ist, dass es die Trennung von der Mutter und die besonders gegen Ende des zweiten Lebensjahres damit einhergehenden Ängste und Wutzustände überlebt.“ Das heißt, die Kinder lösen sich mithilfe des Vaters von der bis dahin „übermächtigen“ Mutter. Das Kind lernt mit seiner Hilfe selbstständig zu werden, ohne sich vor der Welt oder der Trennung von der Mutter zu fürchten. (Zitat: Berliner Kurier)
Die Folgen einer belasteten Vater-Tochter-Beziehung.
Dass der Vater in der Erziehung eine wichtige Rolle spielt, wurde lange vernachlässigt. Langzeitstudien zeigen, dass eine Kindheit mit nur einem Elternteil ein Leben lang negative Folgen haben kann. Dass ein Kind guten Kontakt zu beiden Eltern hat, spielt vor allem bei der Entwicklung der Bindungsfähigkeit eine entscheidende Rolle. (Hier ein längerer Buchauszug dazu.)
Für Mädchen insbesonders heißt das: Fehlt der liebevolle Kontakt zwischen Vater und Tochter kann es sein, dass das Mädchen dies als persönlichen Mangel seiner selbst und später seiner Weiblichkeit verarbeiten. Unbewusst glaubt das Kind:
- „Irgendwas stimmt nicht mit mir.“
- „So wie ich bin, bin ich nicht in Ordnung.“
- „Ich bin nicht richtig.“
- „Ich genüge nicht.“
- „Es liegt an mir, dass mein Vater nichts von mir wissen will.“
Dabei ist der Vater für ein kleines Mädchen, die wichtigste männliche Person, ist er doch „der erste Mann im Leben einer Frau“, der damit auch ein erstes, frühes Bild von Männlichkeit vermittelt.
Ist diese Beziehung belastet oder gestört, kann es sein, dass das Mädchen eine dieser drei Strategien wählt:
- Sie wird eine Gefalltochter.
Das Mädchen entwickelt Liebreiz und Anmut und versteckt alle aggressiven Regungen von sich. - Sie wird eine Leistungstochter.
Das Mädchen lernt, dass sie nur über maximale Anstrengung und Leistung männliche Aufmerksamkeit bekommt. - Sie wird eine Trotztochter.
Das Mädchen begegnet Männern mit Argwohn, offener oder versteckter Rebellion.
Die Vaterbeziehung kann fürs ganze Leben Segen oder Fluch sein, denn in der Partnerbeziehung setzt sich das erlernte Muster fort.
Diese Strategien dienen dazu, wenn schon keine Liebe, dann wenigstens männliche Aufmerksamkeit zu erhalten.
Führen diese Verhaltensweisen zum Ziel werden sie als bester Weg verinnerlicht. Denn es sind kompensatorische Umwege, die aus dem Mangel väterlicher Zuwendung entstanden sind. Meist prägen sie die falsche Identität bis ins Erwachsenenleben. Sie beeinflussen so das Selbstbewusstsein, die Gefühlswelt, die Liebesbeziehungen und die Berufswahl der Frau.
Wie heilt man eine schwierige Vater-Tochter-Beziehung?
Genauso wie die Beziehung zur Mutter kann die Vaterbeziehung das ganze Leben beflügeln oder belasten. Denn oft durch die entsprechende unbewusste Partnerwahl setzt sich das erlernte Muster (gefallen, leisten, trotzen) dort fort. Deshalb ist es wichtig, dass Vaterwunden heilen. Doch wie geht man das an?
Sicher nicht durch:
- Verdrängung.
„Was man nie hatte, kann man nicht vermissen.“ - Bagatellisierung.
„Andere wachsen ganz ohne Eltern auf.“ - Kontaktabbruch.
„Mein Vater ist für mich gestorben.“ - Verachtung.
„Mit dem Schwein will ich nie wieder etwas zu tun haben.“
Aber wie dann?
[bctt tweet=“Der erste Schritt zur Heilung ist, dass man sich eingesteht, dass es da eine Wunde gibt. “ username=“RKoppWichmann“]Das ist nicht einfach, muss man sich doch bewusst machen, wie man den eigenen Vater erlebt hat oder heute noch erlebt. Ist er in der Erinnerung uninteressiert, gleichgültig, gefühllos, kontaktscheu, kränkend, verletzend, abweisend oder gar gewalttätig? Dann kann es gut sein, dass das Mädchen (oder der Junge) sich ein Leben lang nach der Liebe des Vaters sehnt.
Zum Bewusstmachen im Coaching gehört auch, dass man den eingefrorenen Schmerz ein Stück „auftauen“ lässt. Denn nur über die Emotionen ist Heilung möglich. Dazu gehören auch Phantasien und Ängste.
Denn auch wenn das Kind nichts vom Vater weiß, weil er unbekannt, verschollen oder verstorben ist, geistert er als Figur in der Phantasie des Kindes. Barbra Streisand drückt diese oft lebenslange Sehnsucht in diesem Lied aus dem Film „Yentl“ überzeugend aus.
Um die Vaterwunde zu heilen sind nach dem Zulassen des Verlustes die weiteren Schritte Spurensuche, Gefühlsarbeit und Versöhnung.
Zurück zu meiner Klientin.
Ich hatte noch nicht genau genug verstanden, wie ihre angeblich „direkte“ Art mit ihrer Biografie zusammenhing. Sicher hing ihre etwas ruppige Art mit dem Bedürfnis zusammen, sich niemals schwach zu fühlen oder anderen so zu erscheinen.
- In meiner Straße musste sie länger nach einem Parkplatz suchen.
Das war sicher etwas anstrengend und nervig. Aber anstatt das zu sagen, machte sie mir daraus einen Vorwurf. - Auf meine Frage, was sie ändern wolle, reagierte sie gereizt.
- Die Frage nach dem Vater blockte sie ab. Was man nie hatte, vermisst man nicht.
„In welchen Situationen werden Sie denn so direkt mit Kunden? Das habe ich noch nicht verstanden.“
Den zweiten Satz fügte ich absichtlich dazu, um klar zu demonstrieren, dass es an mir lag, dass ich etwas noch nicht kapiert hatte – und nicht an ihrer Schilderung.
Intuitiv hatte ich richtig gehandelt, denn ihre Antwort führte uns endlich auf eine wichtige Spur.
„Ich werde direkt, wenn ein Kunde nicht gleich was versteht, was ich gerade erklärt habe. Ich rolle mit den Augen, wenn ein Kunde was vergessen hat, was ich vor einer Stunde ihm ausführlich gezeigt habe. Ich werde ungeduldig, wenn nach einem langen Verkaufsgespräch der Kunde immer noch nicht abschließen will. Solche Situationen sind es, die mich so packen können, dass man mir das anmerkt. Okay, das ist vielleicht nicht professionell, aber ich kann dann nicht anders, muss mich anscheinend irgendwie wehren.“
„Fragt sich, gegen wen oder was Sie sich da unbewusst wehren müssen“, gab ich zu bedenken.
„Ich habe keine Ahnung, aber es ist so stark, dass es mir immer wieder passiert“, antwortete Regina O.
Die Wende in einer schwierigen Vater-Tochter-Beziehung.
Hier braucht es eine Hypothese von mir, die erklärt, wie alles miteinander zusammenhängt. Genauer gesagt, welche Funktion das „direkte“ Verhalten, das ihren Chef stört, im Leben der Klientin hat. Und über das sie keine Kontrolle zu haben scheint, weil der dazugehörige innere Konflikt so mächtig ist.
„Ich habe eine Idee, gegen was Sie sich so vehement wehren müssen. Wollen Sie sie hören?“ fragte ich.
Dieser Satz ist wichtig, um das Unbewusste zur Mitarbeit einzuladen und die Klientin ebenfalls.
Würde ich meine Hypothese einfach so sagen, könnte es sein, da es ja um sehr empfindliche Themen geht, dass die Klientin sich überrumpelt fühlt und nicht einbezogen. Abwehr wäre vermutlich die Folge.
„Lassen Sie mal hören“, sagte sie.
„Ich glaube, durch Ihre direkte Art wehren Sie sich gegen das Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit, dass in Ihnen aufsteigt. Und das dann aufsteigt,
- wenn der Kunde nicht versteht, was Sie wollen,
- wenn er vergisst, was Sie ihm gezeigt haben,
- wenn er nichts von Ihnen haben will, was Sie ihm zu geben haben.
Und was Sie in diesen Situationen fühlen ist die Hilflosigkeit der kleinen Regina, die manchmal nachts wach lag und sich den Kopf zermarterte, warum ihr Vater nichts von ihr versteht, sie vergessen hat und nichts von ihr haben will.“
[bctt tweet=“Hier probiere ich eine psychoanalytische Deutung, um etwas Rätselhaftes zu verstehen und etwas Unbewusstes bewusst zu machen. “ username=“RKoppWichmann“]Lesen Sie dazu den Beitrag von Dunja Voos.Das ist riskant, wenn man schiefliegt mit seiner Hypothese oder die Deutung zu früh erfolgt. Aber wenn eine Deutung im Coaching klappt, ist es ein großer Aha-Moment für den Klienten. Und den Coach.
Ich hatte Glück. Regina O. blickte mich ganz offen an, zum ersten Mal in dieser Sitzung und sagte:
„Ohnmacht, das trifft es. Hilflos und ohnmächtig. Das Gefühl zieht sich durch mein Leben.“ Die Klientin atmete hörbar aus und sank etwas tiefer in meinen bequemen Sessel.
Aber wir waren noch nicht ganz durch. Ich hatte noch eine Hypothese, warum das Verhalten von Regina O. so stabil war über die Zeit, trotz der vielen Feedbacks von Kollegen und ihrem Chef über ihr unmögliches Verhalten. Die Idee kam mir zwar etwas seltsam vor aber ich vertraue meistens meiner Intuition, die mir zeigt, wo es lang geht.
Mir fiel eine Szene aus dem Film „Good Will Hunting“ ein.
Dort will der Psychiater, gespielt von dem wunderbaren Robin Williams, seinem traumatisierten Patienten Will helfen, seinen Schutzpanzer abzulegen, um emotional zu ihm durchzudringen.
Und er macht Folgendes:
Das wollte ich ich bei meiner Klientin auch ausprobieren. Ich bat sie, die Augen schließen und sagte mehrmals zu ihr:
„Regina, du kannst nichts dafür. Du kannst nichts dafür.“
Es passierte das gleiche wie in der Filmszene, außer dass ich die Klientin nicht umarmte. Aber ihr schossen die Tränen in die Augen, sie schluchzte laut auf und schlug die Hände vors Gesicht.
Nachdem die starken Gefühle nach einigen Minuten abgeebbt waren, schaute sie mich erwartungsvoll an.
„Wie geht’s Ihnen? Wie fühlen Sie sich?“, fragte ich.
„Etwas durchgeweicht aber sehr gut“, war ihre Antwort.
„Tief innen drin habe ich mich immer schuldig gefühlt, das spüre ich jetzt. Schuldig, dass durch meine Geburt das Leben meiner Mutter so schwierig wurde. Schuldig, dass mein Vater mich nie sehen wollte. Schuldig, dass meine Mutter sich nie wieder auf einen Mann einlassen konnte.“
Und nach einer Weile fragte sie etwas ratlos: „Aber was mache ich jetzt? Meine Mutter ist schon lange tot. Ich bin ja ganz allein.“
Da ich spürte, dass das Unbewusste der Klientin in gutem Kontakt mit mir war, schaute ich sie nur an und sagte:„Liegt das nicht auf der Hand?“
Regina O. erschrak und stieß hervor: „Das meinen Sie nicht im Ernst!“
Da ich nicht reagierte, fuhr sie fort: „Sie denken, meine Mutter ist tot aber da gibt es ja noch meinen Vater.“
Die Klientin blieb noch eine Weile regungslos sitzen.
„Worauf warten Sie noch?“ erkundigte ich mich.
„Sie meinen, ich soll jetzt zu meinem Vater fahren?“, fragte sie ungläubig.
„Sie haben doch schon lange seine Adresse,“ vermutete ich.
Wenn man mit dem Unbewussten des Klienten verbunden ist, braucht es manchmal nicht viele Worte. Der andere spürt, was zu tun ist – und ich spürte es auch.
Eine Woche später schrieb mir Regina O. einen Brief. Am nächsten Abend hatte sie ihren Vater zuhause angetroffen. Er sei überwältigt und überglücklich gewesen, sie zu sehen. Sie sei auch erleichtert gewesen, hätte aber auch mit zwiespältigen Gefühlen zu kämpfen. Denn ihr Vater wäre Alkoholiker und lebe in einer ziemlich heruntergekommenen Wohnung. Er habe ihr immer wieder Briefe geschrieben, behauptete er. Sie wisse nicht, ob sie das glauben könne, dann müsste ihre Mutter diese ja abgefangen haben, was aber denkbar wäre.
Wenn die Vaterwunde sich schliessen kann, bleibt eine Narbe. Im Fall meiner Klientin eine ziemlich große. Und Narben tun immer etwas weh, wenn man sie berührt.
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PS: Alle Fallgeschichten sind real, aber so verfremdet, dass ein Rückschluss auf meine Klienten nicht möglich ist und die Vertraulichkeit gewahrt bleibt.
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