„Mir fehle das Konkurrenz-Gen, sagt mein Chef.“ Ein Coaching-Fall aus meiner Praxis.

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Zusammenfassung für die Generation Y und Z und andere Leser mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne
Klient lehnt Konkurrenz ab. Hat mit Bruder zu tun. Coach findet den Zusammenhang.
Unverständlich? Dann Artikel lesen.


Sein Händedruck war etwas schlaff. Bei der Begrüßung schaute er mich nicht an, sondern blickte in den Raum: „Schön haben Sie’s hier.“ Als wir uns gesetzt hatten, blickte er wieder ins Leere, als säße er in einem Wartezimmer.

„Und?“, sagte ich.

„Mein Chef hat mich hierhergeschickt. Er meint, mir fehle das Konkurrenz-Gen und das wäre aber wichtig für mich als Verkaufsleiter.“

„Und was meinen Sie?“, wollte ich wissen. „Er hat wahrscheinlich recht.“

Zwei Minuten des ersten Kontakts sind vergangen und ich habe schon wichtige Vermutungen, die vielleicht später auf das Lebensthema des Klienten verweisen:

  • Schlaffer Händedruck: unfähig oder unwillig zuzugreifen.
  • Blickverweigerung und Kompliment: Ängstlich und brav sein wollen.
  • Chef geschickt und keine Meinung: Passt sich schnell an.

Das waren natürlich nur Vermutungen, keine Wahrheiten. Und wir alle haben ja beim ersten Kontakt mit einem Fremden automatische Beurteilungen. Wir können die Welt und andere Menschen schon gar nicht neutral, ohne jegliche Bewertung wahrnehmen. Automatisch stecken wir den anderen in Schubladen.

In Bruchteilen von Sekunden schätzen wir den anderen ein, ob er gefährlich ist, wie intelligent er ist, wie sympathisch wir ihn finden, wie es wohl mit ihm laufen wird. Das ist ein evolutionäres Erbe, dem jeder unterliegt, auch die Menschen, die meinen, sie würden ganz unvoreingenommen und offen auf jeden zugehen.

„Mögen Sie denn keine Konkurrenz?“, fragte ich den Verkaufsleiter Stefan A., 35 Jahre, Single, bei einem IT-Firma angestellt.

„Ich hasse Konkurrenz und gehe ihr wenn möglich immer aus dem Weg. Weil ich sie primitiv finde. Fast alle Konflikte, die es auf der Welt gibt, hängen letztlich mit Konkurrenz zusammen. Besser sein wollen als der andere. Deswegen wird es auch nie Frieden auf der Welt geben, solange es Konkurrenz gibt. Dabei ist genug von allem da. Genug Geld, genug Nahrung, genug Land, es müsste keine Kriege geben. Schuld ist nur diese idiotische Konkurrenz!“

Mein Klient hatte sich richtig in Rage geredet. Das ist meistens ein Zeichen, das das, was jemand so vehement bekämpft, auch etwas mit seinem Lebensthema zu tun hat.

„Wie sind Sie denn zu Ihrem jetzigen Job gekommen? Da mussten Sie sich doch auch bewerben und gegen andere Bewerber durchsetzen“, fragte ich etwas verwundert.

Stefan A. lächelte fein: „Eben nicht. Es geht auch ohne Konkurrenz. Dafür bin ich das beste Beispiel. Ich habe mich in meinem Leben noch nie um eine Stelle beworben. Ich wurde immer empfohlen!“

In seiner Stimme klang etwas Triumphierendes mit, als hätte er bewiesen, dass es auch ohne Konkurrenz im Berufsleben geht. Doch vielleicht war es nur die bis jetzt geglückte Kompensation dafür, dass ihm das Konkurrenz-Gen fehlte.

„Aber Ihr Chef scheint nicht so begeistert zu sein, dass Sie Konkurrenz so stark verteufeln und Kooperation idealisieren?“


 

Die Begriffswahl in meiner Frage war etwas zugespitzt, weil ich genervt war. Als ich das bemerkte, dachte ich kurz darüber nach, was mich störte. Es war die moralische Position von Stefan A., mit der er Konkurrenz nicht nur für sich ablehnte, sondern insgesamt abwertete, wie ich aus seiner Vision von einer besseren Welt schloß.

[bctt tweet=“Wenn man mit Menschen intensiv kommuniziert, ist es immer wichtig, die eigenen Gefühle genau wahrzunehmen. “ username=“RKoppWichmann“] Was mich ärgerte, war die einfache Lösung (mehr Kooperation), die mein Klient propagierte für ein sehr komplexes Problem (Zusammenleben von Menschen mit ungleichen Chancen).

Auf meine fragende Feststellung bezüglich des Chefs erwiderte der Verkaufsleiter: „Nein, leider überhaupt nicht. Einfach, weil er noch im alten Denken und überholten Weltbildern verhaftet ist.“

Da war es wieder.

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Die meisten Menschen, die über einen Missstand klagen, ob in der Partnerschaft oder im Beruf oder der Gesellschaft, suchen die Schuld außerhalb von sich selbst. Bei einem anderen Menschen, bei der Gesellschaft, im System.

So logisch schlüssig oder zutreffend das auch manchmal erscheinen mag, hier ist eine Fortführung des Gesprächs meistens unbefriedigend, wenn es einem nicht gelingt, die Blickrichtung des anderen zu ändern. Denn den anderen oder die Gesellschaft oder das System kann der Einzelne nicht ändern.

Gleichwohl werden solche Debatten dauernd und ausdauernd geführt. Warum? Weil es bequem ist. Weil man glaubt, dass es genügt, auf den Missstand hinzuweisen, in der Hoffnung, es würde etwas ändern. Das ist die berühmte Komfortzone, in der sich jeder immer mal befindet, wenn er die Opferposition einnimmt.

Also versuchte ich, die Blickrichtung meines Klienten zu ändern.

„Aber jetzt sitzt ja nicht Ihr Chef hier, sondern Sie. Und er will offensichtlich nichts an seiner Meinung ändern, sondern wünscht, dass Sie etwas ändern. Wollen Sie denn etwas ändern?“

Das ist eine ungemein wichtige und spannende Frage im Coaching. Denn aus der Antwort erfahre ich, ob es wirklich zu einem Arbeitsauftrag des Klienten kommt und ich etwas tun kann. Oder ob ich nur die bisherige Einstellung des Klienten teilen und mit ihm gemeinsam über seinen Chef schimpfen soll.

„Mein Chef meinte ja, dass mir das Konkurrenz-Gen fehle. Aber was soll ich da machen? An meiner genetischen Ausstattung kann ich ja nun mal nichts ändern.“

Ich wusste es. Schon bei der Begrüßung spürte ich, dass dies eine schwierige Sitzung werden würde. Das ist oft so bei Menschen, die sehr aggressionsgehemmt sind – und das nicht von sich wissen.

Deshalb arbeite ich in meinen 3-h-Coachings mit einem tiefenpsychologischen Ansatz, denn alle kognitiven, verstandesorientierten Interventionen würden hier ins Leere laufen.

„Erzählen Sie mir was von Ihrem Elternhaus. Haben Sie Geschwister?“

Der Klient war etwas überrascht über die Wendung des Gesprächs, antwortete aber: „Ich komme aus einem behüteten Elternhaus. Meine Eltern waren beide Lehrer, mein Vater außerdem Tai-Chi-Lehrer. Alles ganz bodenständig und normal. Ich habe einen Bruder, vier Jahre jünger.“

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Spuren lesen wie ein Indianer.

[bctt tweet=“Als guter Coach muss man dauernd Spuren lesen wie ein Indianer.“ username=“RKoppWichmann“] Das heißt, neben den Worten, der Wortwahl, der Betonung usw. ist es hilfreich, gleichzeitig auch auf die Mimik, die Gestik, Körperbewegungen und vor allem die Stimme zu achten. Denn Gefühle, vor allem unterdrückte Emotionen zeigen sich hier immer.

Es sind unwillkürliche Spuren, der Klient kann sie nicht verbergen oder unterdrücken. Aber es braucht ein Gegenüber, das diese Spuren bemerkt, ernst nimmt und Vermutungen über ihre Bedeutung hat. Vermutungen, keine Gewissheiten.

Und als Stefan A. seinen Bruder erwähnte, hatte ich eine kleine Bewegung in der Stimme wahrgenommen, die mich neugierig machte. „Wie war das so mit Ihrem Bruder?“

Der Klient schluckte kurz und antwortete: „Eigentlich ganz normal. Er war halt der Jüngere, wir haben oft zusammen gespielt aber nie gerauft oder so.“
„Warum nicht? Das ist doch normal unter Brüdern?“
„Mein Bruder hatte schon ganz früh, mit 4 Jahren Asthma. Er durfte sich nicht aufregen, keinen Sport machen, musste geschont werden. Ich musste oft auf ihn aufpassen, wenn meine Eltern keine Zeit hatten. Zudem waren meine Eltern Anhänger von A.S. Neill, dem Summerhill-Gründer. Kennen Sie den?“ fragte Stefan A.

„Klar, das war der erste, der für die gewaltlose Erziehung von Kindern plädierte und in seiner Schule auch umsetzte. Das heißt“, versuchte ich eine erste Hypothese zu testen, „Sie haben ein hartes Training in Gewaltlosigkeit und Kooperation in Ihrer Kindheit durchlaufen. Und das Konkurrieren hat man Ihnen sicher auch früh ausgetrieben, oder?“

Der Klient wurde nachdenklich. An seiner etwas veränderten Gesichtsfarbe konnte ich erkennen, dass ein Gefühl aufgetaucht war. „Darüber habe ich bisher nie nachgedacht. Aber mir fällt ein, dass ich einmal bei den Bundesjugendspielen als Zehnjähriger eine Medaille gewonnen hatte. „Lass die bloß nicht deinen Bruder sehen!“, f uhr mich meine Mutter an. Auf meine verwunderte Frage, warum nicht, sagte sie, dass er sonst neidisch oder traurig werden könnte, weil er nie so schnell laufen könne wegen seines Asthmas.“

[bctt tweet=“Solche Situationen in Kindheit und Jugend sind es, wenn sie öfters auftreten, aus denen individuelle Lebensthemen entstehen können.“ username=“RKoppWichmann“]

„Das wiederholte sich noch ein paar Mal, bis ins Erwachsenenalter“, fiel es meinem Klienten ein. „Als ich einen Förderpreis für das Informatikstudium erhielt, bat meine Mutter, es auch zu verheimlichen, weil mein Bruder nur eine Lehre als Bankkaufmann machte.“

„Wie geht es Ihrem Bruder heute?“, wollte ich wissen. „Sehr gut, ist verheiratet, hat zwei Kinder, ist rundum zufrieden.“

„Dann könnten Sie ja aufhören, ihn weiter zu schonen“, warf ich ein.
„Ich verstehe nicht.“

Meine Intervention war zwar richtig, kam aber zu früh. Der Konflikt war noch nicht erlebt, daher verstand Stefan A. nicht, was ich meinte. Ich bat ihn, noch mehr über die Kritik seines Chefs wegen der fehlenden Konkurrenzorientierung zu sagen.

„Wir waren viele Jahre Marktführer in einer speziellen Nische. Aber seit drei Jahren haben wir zwei Mitbewerber, die uns Marktanteile abnehmen. Mein Chef will, dass ich meine Vertriebsmannschaft aggressiver führe. Ihr deutlich mache, dass unsere Software um Klassen besser ist.“

„Wie würde das aussehen, wenn Sie das machen würden?“
Stefan A. wusste sofort die Antwort.
„Ich müsste vor meine Leute treten und sagen, dass wir uns nicht verstecken müssen, sondern zeigen können, dass wir um Klassen besser sind als die Konkurrenz. Ich weiß, dass das hundertprozentig stimmt, aber ich kann das nicht sagen. Das bin nicht ich. Das kann ich nicht.“

„Würden Sie es denn gerne können?“, fragte ich.
„Ich weiß es nicht.“

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Jetzt waren wir am inneren Konflikt, dem Engpass.

Dem Lebensthema, das einen in bestimmten Situationen unfrei macht, obwohl man rational weiß, dass man richtig liegt und nichts „Verbotenes“ tut.

Aber in meinem 3-h-Coaching geht es nicht primär um kognitiven Erkenntnisgewinn. Das geht nicht tief genug für einen Veränderungsimpuls. [bctt tweet=“Der Klient muss gefühlsmäßig erleben, wie er sich bisher durch sein unbewusstes Lebensthema blockiert. Es muss unter die Haut gehen.“ username=“RKoppWichmann“]

Deshalb sagte ich zu Stefan A.: „Ich möchte Ihnen gerne einen Satz vorschlagen, den Sie achtsam vor sich hin sagen und dabei beobachten, was an inneren Reaktionen, also Körperempfindungen, Gefühlen oder Gedanken in Ihnen abläuft – und zwar in den ersten paar Sekunden. Okay?“

Als mein Klient die Augen geschlossen hat und nickte, schlug ich ihm vor:
„Ich bitte Sie, mal den Satz zu sagen: „Ich bin besser als du.“

Seine Reaktion überraschte mich. Stefan A. schrie den Satz heraus und gleichzeitig liefen ihm die Tränen über das Gesicht: „ICH BIN BESSER ALS DU!“

Nach einer Weile erkundigte ich mich, was er erlebt hatte. Er berichtete, dass er, als er den Satz von mir hörte, ihn sofort ablehnte. Aber dann sei der Satz richtig aus ihm herausgebrochen und er hätte er sich geschämt.


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Im Coaching bilde ich im Lauf des Gesprächs Hypothesen, um welchen inneren Konflikt es sich bei dem Klienten handeln könnte, der sein Verhalten kontrolliert. Bei dem Vertriebsleiter also die starke Ablehnung von Konkurrenz. Aus meiner Hypothese bilde ich dann einen positiven Satz, der fast immer wahr ist oder eine Tatsache beschreibt.

Hat man den Konflikt getroffen, erlebt der Klient einen starken Widerstand. Das kann eine unangenehme körperliche Reaktion sein, ein heftiges Gefühl oder ein ablehnender oder skeptischer Gedanke.

„Weil Ihre Mutter Ihnen verbat, mit Ihrem Bruder zu konkurrieren, haben Sie bis heute starke Schuldgefühle, sich mit anderen zu messen. Der Satz, den ich Ihnen gegeben habe, ist ganz ungerichtet. Aber Sie haben ihn innerlich sofort auf Ihren Bruder bezogen. Deswegen können Sie auch – bis jetzt – nicht Ihrem Team sagen: Wir sind besser als die Konkurrenz.

Als Kind muss Sie das fürchterlich wütend gemacht haben, dass sich niemand über Ihren Leistungswillen freute, sondern Sie stattdessen beschämt wurden. Auch Ihr aggressionsgehemmter Vater stand Ihnen gegen Ihre Mutter nicht bei. Die unterdrückte Wut brach wohl vorhin aus Ihnen raus.“

„Ja, das stimmt. Ich beginne, den Zusammenhang zu sehen“, sagte Stefan A. „das ist ja seltsam. Alles liegt Jahrzehnte zurück und hat mich noch so im Griff. Darauf wäre ich nie gekommen. Ich lehne Konkurrenz so stark ab, weil meine Mutter meinen Bruder schützen wollte. Und ich war ja in fast allem besser. Aber es durfte niemals gesagt oder gezeigt werden.

Wenn ein unbewusster Konflikt bewusst gemacht wurde, ist das Problem noch nicht gelöst. Der Klient muss seine Lösung noch finden und vor allem umsetzen. Wir sprachen noch eine Weile darüber, wie Stefan A. ganz konkret die neue Erkenntnis im Beruf zeigen und leben könnte.

PS: Nach zwei Wochen bekam ich einen Anruf von ihm. Unser Coaching hätte einen Durchbruch bei ihm bewirkt. Er könne jetzt viel besser seine Mannschaft führen und anspornen. Sein Chef wäre auch sehr angetan.

Er habe auch mit seinem Bruder gesprochen über unsere Sitzung. Der hätte ganz verständnisvoll reagiert und gesagt: „Aber du warst doch auch in vielem besser. Dafür habe ich schon zwei Kinder und du noch keins!“
Das Gespräch habe ihn zusätzlich erleichtert.


Weitere Fallgeschichten aus meiner Coachingpraxis finden Sie hier:

PS: Alle Fallgeschichten sind real, aber so verfremdet, dass ein Rückschluss auf meine Klienten nicht möglich ist und die Vertraulichkeit gewahrt bleibt.

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Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.