Wenn Sie nicht so viel lesen wollen …
Kaum jemand traut sich, das so hart zu sagen: „Ich hasse meine Mutter!“ Auch wenn es dafür verstehbare Gründe geben mag, ist es doch keine gute Lösung. Spätestens dann, wenn die Mutter pflegebedürftig ist und man sich um sie kümmern muss oder will.
Wie man aus dieser Sackgasse heraus kommen kann, lesen und hören Sie in diesem Fallbericht.
„Sie sind meine letzte Rettung!“ stöhnte die Frau und ließ sich in den Sessel fallen.
„Na, eher die vorletzte,“ antwortete ich.
„Wieso vorletzte?“
„Weil die letzte Rettung der Tod ist. Er löst alle Probleme.“
„Interessant, dass Sie das sagen“, meinte die Klientin. „In der letzten Zeit habe ich oft daran gedacht, dass wenn ich tot wäre, das ganze Drama vorbei wäre.“
Andere Coaches lassen in der ersten Sitzung einen Fragebogen ausfüllen oder erheben die persönlichen Daten. Ich beginne meine 3-h-Coachings dagegen oft mit einer schnellen Reaktion auf das, was mir der Klient als Erstes präsentiert. Das kann eine Bemerkung von ihm sein, oder ein Verhalten oder ein Gesichtsausdruck. Dann ist man viel schneller beim Thema und der Klient erlebt, dass es im Coaching vor allem um Persönliches geht. Nicht primär um Fakten und Geschichten, sondern um Gefühle und Erlebtes.
„An welchem Drama wirken Sie denn mit?“ wollte ich wissen.
Ich liebe Sprache. Und vor allem liebe ich die indirekten Möglichkeiten, die Sprache bietet. Schon mit seinen Eingangsfragen vermittelt jeder Coach indirekt ein Stück seiner Coachingphilosophie und sein Menschenbild.
Ich hätte auch beginnen können mit:
- „Was kann ich für Sie tun? Wie kann ich Ihnen helfen? Was führt Sie zu mir?“
Das geht immer, ist aber unpersönlich. Das fragt auch die Hemdenverkäuferin Im Kaufhaus. - „Um welches Drama geht es denn?“
Da bezieht man sich auf das, was der Klient sagt, bekommt aber meistens die Geschichte aus der Außensicht. - „An welchem Drama wirken Sie denn mit?“ ist direkter und provokativer.
Denn es macht gleich deutlich, dass nicht jemand anderes ein Drama aufführt und der Klient Opfer der Situation ist. Sondern macht klar: Zu einem Drama gehören weitere Akteure, Zuschauer, ein Regisseur, eine Bühne.
Die Klientin, Vera M. 68 Jahre, verwitwet, reagierte auch sofort auf die Provokation: „Ich wirke daran nicht mit. Ich bin dem ausgeliefert.“
Es sind nur zwei Minuten vergangen und durch meine Gesprächsführung habe ich schon Wesentliches erfahren. Dass es um ein Drama geht, nicht nur um ein Problem. Und dass die Klientin suizidale Phantasien hat, weil sie sich hilflos und ohnmächtig erlebt.
„Wem oder was sind Sie denn ausgeliefert?“ fragte ich dann.
„Meiner Mutter. Und zwar seit drei Jahren, seit sie pflegebedürftig ist. Ich hasse sie und jetzt soll ich sie auch noch pflegen? Das kann ich nicht. Besser gesagt, ich will es auch nicht. Aber ich muss, denn sonst tut es keiner.“
„Sind Sie Einzelkind?“ wollte ich wissen.
„Von wegen Einzelkind“, lachte sie höhnisch auf. „Ich habe noch zwei Brüder und eine Schwester, aber ich bin die älteste. Und die Geschwister überlassen mir alles, genau wie früher. Die Brüder wohnen achtzig bzw. 150 Kilometer weit weg, sind noch berufstätig, haben Partner und Kinder. Meine Schwester ist schon immer ledig, und kann sich noch nicht mal um sich selbst richtig kümmern. Also bleibe nur ich. Zumal ich nur fünfzehn Kilometer von meiner Mutter entfernt wohne.“
Für die meisten Menschen kommt ab einem bestimmten Alter das Thema der pflegebedürftigen Eltern auf. Bei manchen erst spät mit 50 oder 60 Jahren, bei Sandwich-Familien früher. Je nachdem wie alt die „Kinder“ sind und wie alt die Eltern bei der Geburt waren.
„Wie alt ist Ihre Mutter und wie lebt sie?“
„Meine Mutter ist 88, lebt in einem Pflegeheim, wo sie ganz gut versorgt wird. Sie ist ziemlich dement, erkennt mich oft nicht, beschimpft mich dann, wer ich sei und was ich klauen wolle.“
„Warum hassen Sie sie denn?“ wollte ich wissen.
„Ganz einfach, wegen ihr hatte ich eine beschissene Kindheit mit Armut, Schlägen, viel Arbeit und kein Fitzelchen Liebe.“
Viele Menschen, die sich noch nie damit beschäftigt haben, woher ihre Ängste, Vorlieben und Abneigungen kommen, glauben ja, dass das meiste, das unsere Persönlichkeit ausmacht, vererbt ist oder einem einfach so mitgegeben wurde. Zwillingsforschungen zeigen auch, dass ein Teil davon tatsächlich vererbt ist. Eineiige Zwillinge, die getrennt aufwuchsen, wählen oft denselben Partnertyp, haben den gleichen Beruf, tragen dieselbe Mütze.
Aber ein mindestens ähnlich großer Anteil ist psychologisch vererbt. Einfach dadurch, dass wir vieles in der Herkunftsfamilie gelernt haben. Gelernt durch Anpassung, indem wir dasselbe tun. Oder durch Rebellion, indem wir genau das Gegenteil tun.
Als Kinder haben wir wenig Wahlmöglichkeiten. Je jünger umso weniger, je älter umso mehr. Einfach weil wir die Familie nicht verlassen, Eltern und Geschwister nicht austauschen können. Sondern täglich mit ihnen zu tun haben. Das heißt konkret, wir müssen Strategien finden, um zu „überleben“ und irgendwie auch unsere Ziele zu erreichen.
Wer in Armut aufwächst so wie Vera M. lernt früh:
- Zu verzichten.
- Enttäuschung und Neid auf andere zu verarbeiten.
- Dass Wünsche gefährlich sind, weil sie meistens enttäuscht werden.
Wer geschlagen wird, vor allem von einem Elternteil, lernt früh Lektionen über Beziehungen.
- Dass es dabei meistens um Macht geht und man sich am besten unterordnet und nicht auffällt.
- Dass Wünsche nach Aufmerksamkeit, gesehen, ernstgenommen oder gemocht zu werden gefährlich sind.
- Dass es am besten ist, es anderen recht zu machen und gebraucht zu werden.
„Und was wollen Sie jetzt hier?“, wollte ich, nachdem eine Stunde vergangen war, wissen.
Das ist die wichtige Frage nach dem Anliegen, aus dem vielleicht ein Auftrag an den Coach werden kann. Und ohne Auftrag zu arbeiten geht meistens schief. Denn der Klient will vielleicht gar nichts ändern. Will nur seine Lage schildern, braucht jemanden, der ihm zuhört ohne schnelle Ratschläge zu geben. Will jemanden haben, der ihm hilft, seine aufgestauten Gefühle zu verdauen.
„Ich will wissen, ob ich meine Mutter pflegen muss – und wie das gehen kann, wenn ich sie so hasse.“
„Niemand wird Sie mit der Pistole zwingen, Ihre Mutter zu pflegen. Höchstens Ihr Gewissen schafft das“, versuchte ich, das Ausmaß ihrer Schuldgefühle zu erkunden.
„Aber geboren zu werden und Kind zu sein ist keine Schuld, die man ausgleichen muss. In beides haben Sie nicht eingewilligt. Das was man von den Eltern erhalten, kann man ohnehin nicht ausgleichen oder zurückgeben. Am besten, man gibt es weiter, zum Beispiel an die eigenen Kinder. Ist die Beziehung gut, kann man die Eltern aus Dankbarkeit pflegen. Schuldgefühle sind keine tragfähige Motivation.“
„Ich habe eigentlich kein schlechtes Gewissen. In mir sind so viele Rachegefühle für das, was sie mir im Leben verbaut hat“, antwortete sie.
„Und was hat Ihre Mutter Ihnen verbaut?“, fragte ich.
„Ich glaube, ich kann nicht lieben. Mein Leben war eigentlich ganz passabel für so eine schlimme Kindheit, wie ich sie hatte. Ich fand einen lieben Mann, mit dem ich dreißig Jahre verheiratet war. Leider starb er an Krebs, ich habe im Pflegen also eine gewisse Vorerfahrung. Wir wollten Kinder, aber es hat leider nicht geklappt. Vielleicht war es auch besser so. Am Ende wäre ich vielleicht genauso eine schlechte Mutter geworden wie sie.“
Um erwachsen zu sein, reicht es nicht, älter zu werden.
Das geschieht ja von alleine. Zum Erwachsenwerden gehört, dass man sich ablöst von den Eltern. Dabei hilft meist eine geographische Distanz, die größer ist als zehn, zwanzig Kilometer. Aber entscheidend ist die innere Ablösung.
Hat man die nicht vollzogen, was ein längerer Prozess ist, kann es passieren, dass man unbewusst Werte, Einstellungen, Glaubenssysteme und Verhaltensweisen der Eltern übernimmt. Wenn diese im Wesentlichen angemessen und tauglich sind, ist das nicht schlimm. Aber man lebt dann das Leben der Eltern.
Oder man rebelliert früh gegen fast alles, was von den Eltern kommt und macht in vielem genau das Gegenteil. Doch Rebellion ist die wehrhafte Vermeidung der Ablösung. Es ist wie die Anpassung noch nichts Eigenes.
Vera M. ist noch stark an ihre Mutter gebunden. Vor allem über den Hass. Deswegen befürchtet sie, dass sie vermutlich keine bessere Mutter geworden wäre und ihre Kinder in Stresssituationen vielleicht genauso verprügelt hätte.
„Heute weiß ich, dass meine Mutter völlig überfordert war. Sie hatte drei Kinder von drei verschiedenen Männern. Keiner blieb bei ihr, sie musste uns alleine großziehen, was sehr hart war. Aber diese Einsicht macht meinen Hass nicht kleiner. Eher im Gegenteil.
Wie überwinde ich diesen Hass? Muss ich ihr verzeihen?“
„Könnten Sie ihr denn verzeihen?“, fragte ich.
„Ich weiß es nicht. Wie geht das?“
Kann man Schlimmes, was einem angetan wurde, verzeihen?
Die Idee, demjenigen, der einem Schlimmes angetan hat, zu verzeihen, kann man überall hören und lesen. Therapeuten, Berater, Freunde, Seelsorger, Ratgeberbücher empfehlen es. Und es klingt ja auch verlockend: Verzeihen und Loslassen. Hat man erst einmal verziehen, ist man die schlechten Gefühle los. Die Frage bleibt: Wie geht das?
Verzeihen geht so, dass man sich moralisch etwas über den Anderen stellt. Man selbst ist der Gute, der andere der Sünder. Bei kleinen Unachtsamkeiten, jemand tritt einem versehentlich auf den Fuß, klappt das mit dem Verzeihen gut. Aber schon in der Partnerschaft, wenn einer fremdgegangen ist, wird es mit dem Verzeihen schwierig. Denn es schafft ein Gefälle in der Beziehung.
„Ich glaube, schlimme Taten, großes Unrecht oder Verbrechen kann man nicht verzeihen. Und auch nicht wiedergutmachen. Zumindest nicht einseitig, höchstens gegenseitig.
Außerdem, wenn Sie als Erwachsene Ihrer Mutter verzeihen, würde sich Ihr inneres Kind wahrscheinlich verraten fühlen. So als wären die Schläge und die Vernachlässigung gar nicht so schlimm gewesen.“
„Aber was bleibt dann?“, fragte etwas ratlos meine Klientin.
„Man kann trauern, akzeptieren, was geschehen ist und dann weiterleben“, war meine Antwort.
„Getrauert habe ich genug in meinem Leben. Ich war in drei Psychotherapien und habe dort meine Wut und Trauer rausgeschrien. Aber an meinem Hass hat das nichts geändert“, sagte Vera M.
„Dann sind Sie ja bereit für den nächsten Schritt. Durch das Akzeptieren gibt man die Illusion auf, dass man das Böse doch noch ungeschehen machen könne. Das alles wieder gut werden könne. Das versprechen sich ja auch manche von der Rache. Da will man das eigene Leid dadurch zum Verschwinden bringen, indem man dem Anderen möglichst das Gleiche antut. Der Andere soll am eigenen Leib spüren, was man erlitten hat.“
„Aber das ist doch eine sehr menschliche Reaktion.“ warf meine Klientin ein.
„Menschlich schon, aber Rache ist die primitive, destruktive Verarbeitung von Schmerz. Doch kaum ein Paar wird glücklich, wenn der Betrogene selbst auch fremdgeht, quasi als Vergeltung. Meist trennt sich das Paar eher, weil jetzt beide aneinander leiden.“
Die Klientin war eine Weile still. Das ist meist ein gutes Zeichen, weil neue, wichtige Information verarbeitet wird. Wer jetzt gleich Fragen stellt, will oft nur ablenken.
„Also trauern und akzeptieren, ich fange an, das zu verstehen. Aber Sie sagten noch ‚weiterleben‘.
Wie meinen Sie das in meinem Fall? Das tue ich doch schon.“
„Nach dem Trauern und Akzeptieren heißt weiterleben, dass Vergangenes in der Vergangenheit bleiben darf. Es ist vorbei. Das Schreckliche ist schon vorbei. Es sei denn, Sie holen es durch Ihre Hassgefühle, den Wunsch nach Vergeltung usw. wieder in die Gegenwart. Aber damit schaden Sie vor allem sich selbst. Sie rühren immer wieder an der Wunde, anstatt sie in Ruhe heilen zu lassen.“
„Ja, das stimmt“, pflichtete mir die Klientin zu. „Das habe ich auch schon beobachtet, dass ich nach einer inneren Hassattacke auf sie mich nicht besser, sondern schlechter fühlte.“
Jetzt waren wir an einem entscheidenden Punkt.
„Außerdem, Ihre Mutter ist ja auch nicht mehr der Mensch von damals. In Ihren Gedanken schon und auch auf dem Personalausweis. Aber schauen Sie sie doch heute an. Sie ist eine Greisin, erkennt sie nicht einmal, ist wie ein Kind, das gefüttert und gepflegt werden muss. Nur in Ihren Gedanken knüpfen Sie die Verbindung von der Mutter damals zu der Frau im Pflegeheim.“
„Aber sie ist ja doch immer noch meine Mutter.“
„Ja, und es wäre doch gut, wenn Sie nach so langer Zeit Ihren Frieden machen könnten mir ihr.“ schlug ich vor.
„Wie soll das gehen?“
Innere Konflikte kann man nur über Gefühle bearbeiten und lösen.
Nicht über den Verstand. Einsicht allein verändert nichts. Meine Erklärungen vorher waren überwiegend an den Verstand gerichtet, doch ohne emotionale Erfahrung bleibt es Bücherwissen.
Deswegen mache ich in meinen Coachings fast immer ein, zwei Experimente, in denen ich dem Klienten einen positiven Satz vorschlage, von dem ich annehme, dass, wenn er ihn ausspricht, er auf Widerstand stößt, weil er den emotionalen Konflikt berührt. Dazu muss der Klient achtsam sein und seine inneren Reaktionen beobachten. Im Alltagsbewusstsein, wo der Verstand arbeitet, klappt das nicht.
Als Vera F. es sich bequem gemacht und die Augen geschlossen hatte, sagte ich zu ihr:
„Stellen Sie sich Ihre Mutter vor, die Mutter von heute, wie sie jetzt vor Ihnen sitzt.
Und dann sagen Sie ihr: „Mama, ich achte dich und danke dir.“
Die Klientin riss sofort die Augen auf: „Niemals! Das geht nicht. Ich kann ihr das nicht sagen.“
Wenn man am inneren Konflikt ist, also dem Engpass, gibt es meist erheblichen Widerstand. Das hatte ich vermutet, denn mit diesem Satz löst man sich innerlich von Menschen, mit denen man verstrickt ist.
- Eltern, denen man noch grollt.
- Partnern, mit denen man noch nach Jahren in einem inneren Rosenkrieg kämpft.
- Erwachsene Kinder, die den Kontakt abgebrochen haben.
Wir sprachen noch eine Weile darüber, wie Frau M. in den nächsten Tagen und Wochen mit diesem Satz arbeiten könnte, um mehr Frieden mit ihrer Mutter zu schließen.
Diesen Satz zu verinnerlichen und gefühlsmäßig zu bejahen, ist nicht leicht. Denn dazu muss man abgelöst sein. Heißt, mit den Eltern auf Augenhöhe zu kommen. Also weder die überlegene Position des Verzeihenden, noch die unterlegene Position des nachtragendes Kindes einzunehmen. Das erfordert einen inneren Reifeschritt.
PS: Nach sieben Monaten erhielt ich eine Mail von ihr. Es ginge ihr gut. Vieles hätte sich zum Guten gewendet. Es käme ihr mittlerweile seltsam vor, dass sie so lange mit ihrer Mutter gekämpft hätte. Sie hätte doch ihr Bestes gegeben, das wäre halt leider zu wenig von dem gewesen, was sie damals gebraucht hätte.
Das Danken ginge ihr schon einigermaßen über die Lippen. Mit dem Achten ringe sie noch.
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- „Ich sei passiv-aggressiv, meint meine Chefin.“
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- „Delegieren kann ich nicht.“
PS: Alle Fallgeschichten sind real, aber so verfremdet, dass ein Rückschluss auf meine Klienten nicht möglich ist und die Vertraulichkeit gewahrt bleibt.
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