Dies wird eine ziemlich begeisterte Rezension des Buches, denn ich gebe zu – ich bin, was das Thema angeht, befangen. Denn zum einen ist Halko Weiss mein früherer Ausbilder der HAKOMI-Methode und wir haben gemeinsam mit anderen Therapeuten 1982 das HAKOMI Institute of Europe gegründet.
Die erste Ausbildungsgruppe fand in meiner Praxis in Heidelberg statt und über zwanzig Jahre war ich mit in der Leitung tätig .
Was bringt Achtsamkeit?
Das Üben von Achtsamkeit bringt ganz handfeste Resultate im täglichen Erleben. Machen wir einen kleinen Test, wie Sie sich bis jetzt in diesen Feldern einschätzen:
- Nicht-Reagieren auf innere Erfahrungen
– Können Sie Ihre Gefühle wahrnehmen, ohne auf sie reagieren zu müssen?
– Können Sie in emotional schwierigen Situationen innehalten?
– Können Sie grüblerische oder belastende Gedanken einfach beobachten und auch loslassen? - Aufmerksamkeit gegenüber inneren Erfahrungen
– Spüren Sie manchmal in Ihren Körper hinein, sie es beim Essen, Kochen, Putzen, Reden?
– Können Sie wahrnehmen, wie sich Ihre Gefühle im Körper ausdrücken bzw. auf Ihre Gedanken und Ihr Verhalten auswirken? - Handeln mit Bewusstheit
– Lassen Sie sich oft ungewollt von Ihren Gedanken und Gefühlen wegtragen?
– Sind Sie oft mit der Vergangenheit oder der Zukunft beschäftigt?
– Tun Sie zu oft Dinge, ohne mit der Aufmerksamkeit dabei zu sein? - Benennen von inneren Erfahrungen
– Können Sie normalerweise gut beschreiben, wie Sie sich fühlen? („Ich fühle mich gut“ ist eine Bewertung, kein Gefühl.)
– Können Sie Ihre Körperempfindungen zutreffend beschreiben? - Nicht-Bewerten von Erfahrungen
– Kritisieren Sie sich oft, wenn Sie irrationale oder unangemessene Gefühle bei sich bemerken?
– Denken Sie öfters, dass bestimmte Gefühle von Ihnen schlecht sind und Sie sie besser nicht haben sollten?
– Bewerten Sie häufig Ihre Gedanken, ob sie gut oder schlecht sind?
Der Fragebogen stammt aus dem Buch (S. 90) und bezeichnet die Stufen der Bewusstseinsentwicklung.
Seit 1982, als ich auf einem HAKOMI-Workshop Ron Kurtz, dem Urheber der Methode und Halko auf einem 5-Tage-Workshop in Heidelberg begegnete, begleitet mich dieser Ansatz. Er hat mein Leben sehr verändert und vielleicht geschieht das auch mit Ihnen, denn ohne Achtsamkeit, davon bin ich mittlerweile überzeugt, ist kaum ein inneres Wachstum oder eine Verhaltensänderung möglich. Hier spricht Ron darüber, wie Achtsamkeit in seiner Arbeit angewandt wird:
Das Inhaltsverzeichnis
umfasst drei Teile. Im ersten Teil geht es um die „Achtsamkeit im täglichen Leben“.
Der Begriff wird erklärt, viele Anwendungen aufgezeigt. Genaue Übungsanleitungen laden ein, einen Weg zur Achtsamkeit zu finden, der für einen selbst passt. Eine Anleitung zum Anhören finden Sie auf meinem allerersten Podcast vom März 2006 (!) hier …
Im 2. Teil geht um „Achtsamkeit im Umgang mit der Innenwelt.“
Zentral ist hier das Konzept der inneren Persönlichkeitsanteile, wie man diese identifiziert und benennen kann. Hier geht man davon aus, dass unsere Psyche nicht ein einheitliches „Ding“ ist, sondern eher ein System von verschiedenen „Teilen“, die mehr oder weniger effektiv miteinander zusammenarbeiten.
Wie das ja auch in dem Bestseller-Titel „Wer bin ich – und wenn ja wie viele? gut ausgedrückt wird.
Jeder kennt zum Beispiel den „Kritiker-Teil“ in sich, der immer was zu mäkeln hat, egal was man gerade gemacht hat. Es ist enorm hilfreich, nun nicht zu glauben, dass man selbst dieser Kritiker sei, sondern diese Stimme als einen „Teil“ von sich zu begreifen.
Dann wird es auch möglich, in einen „achtsamen inneren Dialog“ mit so einem Teil zu treten, um herauszufinden, was dieser Teil eigentlich für einen will. Auch das „innere Kind“ kann als so ein Teil verstanden werden. Auch hier gibt es wieder schöne und genaue Anleitungen im Buch, wie man die verschiedenen Anteilen in sich erfahren und kennenlernen kann, um mit der Zeit angemessener mit ihnen umgehen zu können.
Im 3. Teil geht es um „Achtsamkeit in Psychotherapie und ‚Coaching.“
Dieser Abschnitt ist nicht nur Psychotherapeuten, sondern auch für Trainer und Coaches sehr wichtig. Denn alle drei Berufsgruppen arbeiten an der Veränderung des Verhaltens und kennen die verschiedenen Formen von „Widerstand“ auf Vorschläge oder Interventionen.
Hat man in Kapitel 2 verstanden, dass Widerstand meist nur das Veto eines Persönlichkeitsanteils ist, der noch nicht genügend berücksichtigt wurde, kann man sich als Trainer oder Coach die Arbeit sehr erleichtern. Nicht mehr gegen den Widerstand des Klienten arbeiten, wozu ja interessanter der Klient einen oft ermuntert: „Ich will diese Angst weg haben!“ sondern sich erst mit dem Widerstand verbünden, um herauszufinden, welche Funktion dieser „Widerstand“ in Form von Angst, mangelndes Selbstbewusstsein, fehlender Motivation etc. für diesen Menschen hat.
Auch in meinen Persönlichkeitsseminaren arbeite ich über weitere Strecken mit dem Werkzeug der Achtsamkeit. Das macht sie so intensiv und auch nachhaltig. Denn fast alle Teilnehmer erleben in den drei Tagen, welchen anderen Zugang sie zu sich selbst darüber bekommen und nehmen das in ihren Alltag mit.
Aus der Fülle der Übungen zu diesem Kapitel (S. 244) exemplarisch eine, wie Sie herausfinden können, was ein bestimmter Mensch in Ihnen auslöst und womit Ihre Reaktionen zusammenhängen:
- Denken Sie an einen Menschen, der sehr angenehme oder unangenehme Reaktionen in Ihnen auslöst, die Sie besser verstehen wollen.
- Werden Sie achtsam, indem Sie Ihre Augen schließen und Ihre Wahrnehmung auf Ihren Körper richten und eine Weile Ihren Atem beobachten, um ruhiger zu werden.
- Dann stellen Sie sich vor, diese Person säße neben Ihnen.
Lassen Sie dann all das ablaufen, was in Gegenwart dieses Menschen typischerweise passiert, ohne es aktiv zu beeinflussen. - Was registriert Ihr innerer Beobachter?
– Was passiert in Ihrem Körper?
– Welche Gefühle und Impulse tauchen auf?
– Worauf scheint sich Ihr Körper vorzubereiten? Öffnet oder verschließt er sich?
– Welche intuitive Strategie scheint er zu verfolgen?
– Stellen sich Erinnerungen ein? - Welcher Teil scheint zu reagieren? Wenn es ein schützender Teil ist:
– Was in Ihnen versucht er zu beschützen?
– Gibt es alte Erinnerungen, die mit den berührten Verletzungen zu tun haben?
– Was würde passieren, wenn der beschützende teil nicht helfen könnte.
– Klingt eine tiefere Sehnsucht an?
Das Buch schließt mit einem Glossar der Schlüsselbegriffe der Achtsamkeit und einer Übersicht der Studien zu der Methode.
Was für eine Überraschung: ich empfehle Ihnen, das Buch zu kaufen, zu lesen – und die Achtsamkeitsübungen zu machen. Denn vom Lesen allein verändern Sie sich noch nicht so sehr.
Das Buch empfehle ich übrigens nicht nur ich, sondern auch der Psychologieprofessor Prof. Dirk Revenstorf, die Tagesschausprecherin Susanne Holst, die Traumatherapeutin Dr. Luise Reddemann und der Klinikleiter Dr. Gunther Schmidt.
Für Psychotherapeuten, Coaches ist vielleicht noch dieser Artikel aus dem Psychotherapeutenjournal 1/2010 interessant.
Welche Erfahrungen haben Sie mit Achtsamkeit gemacht?
Mit welchem inneren Anteil haben Sie immer wieder Probleme?
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Foto: © cydonna – photocase.com
Ich mag das Konzept der Mini-Meditationen (http://expeditionego.net/archiv/auf-das-maximum-reduzieren-mini-meditation-im-selbstversuch/). Gehst Du morgen aus der Tür zur Arbeit und schließt ab? Halte kurz inne und beobachte. Kommst Du im Büro an und setzt dich an Deinen Platz? Halte kurz inne und beobachte. Isst Du zu Mittag? Genau so funktioniert es. Spannend finde ich, sich einen Tag in der Woche auszusuchen und an diesem die Mini-Meditationen bei allen wichtigen Schritten des Tages zu machen.
Hallo Roland,
das scheint ein lesenwertes Buch zu sein!
Die innere Welt ist so reich und es liegt so eine Fülle darin.
Alle inneren Teile dienen letztlich auf ihre Art dem Ganzen.
Ja, Achtsamkeit ist der Schlüssel – und auch für viele Coaches und Psychotherapeuten das Tor zu wirkungsvollerer Arbeit.
Darum geht es: Über die Schattenarbeit gehen, um letztlich den ganzen Glanz der Gegenwart wahrnehmen und leben zu können!
Einen wunderbaren und achtsamen Tag wünscht Birgit
Eine der wesentlichsten Folgen eines achtsamen Lebens ist für mich, dass ich mir der Wunder in mir selbst, in anderen und im Leben ganz allgemein wieder bewusst werde. Was es da am Wegesrand so alles zu entdecken gibt, habe ich unter anderem hier beschrieben: http://www.leben-lernen-lieben.de/achtsam-leben/sehe-ich-die-kleinen-wunder-am-wegrand
Achtsame Grüße,
Jürgen