Haben wir vielleicht alle schon ADHS?

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Achtsamkeit / Gesundheit / Neurobiologie / Persönlichkeit

adhsWenn ich in meinen Seminaren am ersten Tag die Mittagspause ankündige, ernte ich oft erstaunte Reaktionen:

„Zwei Stunden Pause? Im Ernst?“ „Was sollen wir denn da machen?“ „Können wir das nicht verkürzen?“

Ich sage dann, dass es für die Arbeit, die wir vorhaben, wichtig ist, vom Alltagstempo herunter zu kommen. Dass sie die Eindrücke des Vormittags verdauen sollen. Und dass sie, wenn möglich, die Zeit nicht zum Arbeiten nutzen sollten.

Wer gewohnt ist, sein Mittagessen in einer halben Stunde zu sich zu nehmen, dabei vielleicht mit Kollegen das Projekt weiter zu besprechen oder sich mental auf den Anruf nach der Pause vorzubereiten, für den sind zwei Stunden Mittagspause erst einmal verschwendete Zeit.

Am zweiten und dritten Tag haben fast alle diesen „Luxus“ schätzen gelernt.

Immer mehr Eindrücke kämpfen um unsere Aufmerksamkeit.

Und wir sind immer weniger in der Lage, etwas Wichtigem unsere ganze Aufmerksamkeit für eine längere Zeitspanne zu schenken.

Hierzu einige Beobachtungen:

  • Als ich vor einiger Zeit einen Vortrag vor Studenten des Hasso-Plattner-Instituts hielt, saßen etwa zwei Drittel der Zuhörer vor ihrem Laptop.
  • Das Erste Programm der ARD  sucht den Dialog mit der Jugend und hat gerade eine netz-affine „Tageswebschau“ gestartet.
    Dauer: 3 Minuten.
  • Einige Firmen (z.B. Volkswagen) legen fest, dass Mitarbeiter nach 19 Uhr keine eMails mehr empfangen oder senden sollen. (Für Manager gilt diese Regel nicht.)

Was ist da los?

Überall liest und hört man, dass unsere Zeit schneller geworden ist. Das ist natürlicher logischer Unsinn. Was sich geändert hat, ist, dass wir immer mehr Dinge in derselben Zeit aufnehmen und erledigen wollen.

Nach dem Moore’schen Gesetz soll sich die die Prozessorleistung eines Computer-Chips alle zwei Jahre verdoppeln. Jedes neue Smartphone, jeder neue Laptop soll dadurch kleiner, leichter und vor allem schneller werden. Irgendwann stößt natürlich auch dieses Gesetz an seine Grenzen, aber bisher hat es in der PC-Herstellung geklappt.

Ist unser Gehirn nur ein suboptimal genutzter Chip?

Gilt das Moore’sche Gesetz auch für uns?  Das scheinen jedenfalls der „Zeitgeist“ oder die beliebten „Sachzwänge“ oder die „Globalisierung“ nahezulegen. Und unser Gehirn ist ja tatsächlich enorm anpassungsfähig. Baut sich jeden Tag um und reagiert auf die täglichen Anforderungen.

Und die sind hoch:

Verdichtung, permanente Erreichbarkeit, immer kürzere Produktionszyklen, Bachelor-Studium, Turbo-Abitur, KITA ab 3 Monaten. (Nur das Sterben wollen wir nicht beschleunigen.)

Wegen der räumlichen Nähe zu Heidelberg sind ein Teil meiner Coaching-Klienten Mitarbeiter der SAP.  Die meisten davon mit massiven Burn-out-Symptomen. Wenn ich die an die Wichtigkeit von Priorisieren, Abgrenzen, Nein-Sagen erinnere, lächeln die nur müde: „Aufgrund der Zeitverschiebung zu USA oder Australien fallen etliche Telefonkonferenzen in meinen Feierabend. Da kann ich nicht absagen.“

Manchmal gibt es keine schnellen guten Lösungen.
Aber hilfreich ist es immer, sich den Preis zu vergegenwärtigen, den wir alle für diese Beschleunigung unseres Lebens zahlen.

Der Philosoph Christoph Türcke warnte in einem FAS-Interview, dass das vor allem bei Kindern und Jugendlichen immer häufiger diagnostizierte  ADHS, keine neuronale Störung sei, die nur Kinder hätten.

Sondern eine Aufmerksamkeitsstörung, unter der wir alle immer häufiger leiden:

 ADHS ist keine Krankheit in gesunder Umgebung. Die gesamte Gesellschaft leidet an wachsender Unfähigkeit zur Aufmerksamkeit. Bei Kindern äußert sich das nur am stärksten.
Ich spreche von einer Kulturstörung. Wir leiden an konzentrierter Zerstreuung. Das ist ein paradoxer Begriff. Soll heißen: Wir sind ständig zwanghaft damit beschäftigt, uns zu zerstreuen. Das führt gerade nicht zur Entspannung, sondern produziert Stress.

Die Folgen kann man bei sich in der Firma beobachten, im Bekanntenkreis mitkriegen oder den Meldungen der Tageszeitungen entnehmen: Immer mehr leiden an Depressionen und Burn-out.

Hier ein Video mit einem Interview mit Professor Türcke. (Achten Sie mal bei dem Video auf die schnelle Schnittfolge. Und was das mit Ihnen macht:)

httpv://www.youtube.com/watch?v=fD_ezvYHOIA

Ähnlich argumentiert der Neurobiologe und Hirnforscher Prof. Gerald Hüther, der mit ADHS ein interessantes Therapie-Projekt durchgeführt hat. Er sieht eine Ursache auch in der Veränderung der sozialen Beziehungen:

Im Grunde wäre also auch eine hyperaktive Gesellschaft der Grund für die kindlichen Störungen?

Ja, wir leben in einer Gesellschaft, in der Familien immer häufiger zerbrechen, weil es zu wenig Gemeinsames gibt, auf das sich alle Familienmitglieder fokussieren. Immer weniger Eltern lesen mit ihren Kindern oder sehen sich gemeinsam Sendungen an, um hinterher darüber zu reden und es bewusst als gemeinsames Erlebnis zu empfinden.

Man richtet zu wenig gemeinschaftlichen Fokus auf Dinge, die außerhalb der Primärbeziehungen liegen. Die Verführung ist ungemein groß, einen gemeinsamen Fokus nicht mehr aus eigener Kraft herzustellen, denn das ist eine Leistung, die sehr viel Einsatz und Kraft erfordert, gerade mit sehr temperamentvollen oder auch besonders in sich gekehrten Kindern.

Ist Komasaufen ein Versuch der Selbstheilung unserer Kinder?

Zugegeben, ein verwegener Gedanke. Aber wenn es stimmt, dass nicht nur Erwachsene sondern auch Kinder unter dem dauernden Bombardement von Botschaften und Eindrücken durch Werbung, Fernsehen und der sozialen Dienste leiden – dann brauchen sie ja etwas um abzuschalten.

Selbst auferlegte Reizarmut wäre ein Gegenmittel. Und wer sich am Wochenende die Birne mit Alkohol erst vorglüht und dann vollends zuballert, hat zumindest eines erreicht – er kriegt fast nichts mehr mit.

Ihr Leben entschleunigen?

Warum ist das wichtig? Und wie könnte das gehen? Der entscheidende Punkt ist folgender:

Was wir aufnehmen, müssen wir auch verdauen. Das ist wie bei der Nahrung. Wenn man zu viel gegessen hat, tut einem der Bauch weh und man hat für eine Weile keinen Appetit.

Aber auch psychische Inhalte müssen wir verdauen.

Das gilt vor allem für unangenehme emotionale Inhalte und Erlebnisse. Und davon hat ein ganzer Arbeitstag eine ungeheure Menge: Missverständnisse, Abwertungen, Enttäuschungen, Gemeinheiten, Nachlässigkeiten, Fehler, Misslungenes etc.

Und zum Verdauen brauchen Sie Zeit. Das lässt sich nicht beschleunigen. So wie Ihr voller Magen auch einfach nur Zeit braucht, um all das Aufgenommene zu verarbeiten und zu verstoffwechseln. Es bringt nichts, ihn antreiben zu wollen.

Aus eigener Erfahrung kann ich Folgendes empfehlen:

1. Tun Sie Dinge bewusst langsamer.
Egal ob Sie langsamer essen, gehen, Autofahren, arbeiten.
Wenn Sie etwas langsamer tun, nehmen Sie in der gleichen Zeiteinheit weniger auf. Was Sie nicht aufnehmen, brauchen Sie nicht zu verdauen.

Dazu braucht man sicher nicht gleich so ein Zeitlupen-Seminar, aber es ist sicher eine interessante Erfahrung, um zu merken, welche Hektik wir schon als normales Tempo empfinden.

Unterschiedlichen Studien zufolge brauchen wir nach einer Ablenkung von 30 Sekunden zwischen fünf und 15 Minuten, um wieder konzentriert bei der Sache zu sein.

Das ist bedenklich.

Ich bin selber manchmal in Gefahr, zu viel zu tun und muss immer wieder den Blick schärfen für das, was mir wirklich wichtig ist. Zumal ich sehr viel im Internet mache. Aber ich steuere auch dagegen:

  • Ich lese selten Tageszeitung, weil ich darüber online informiert bin aber dafür zwei Wochenzeitungen. Da sind die Artikel länger und auch meist fundierter.
  • Ich bin telefonisch nicht erreichbar – außer für meine Familie. Ich hasse es, vom Telefon bei irgendetwas unterbrochen zu werden und gebe meine Handynummer fast nie heraus. Auf meinem Home-Office-Telefon erreicht man nur den AB mit der Bitte, mir eine Mail zu schreiben.
  • eMails rufe ich regelmäßig ab, sortiere sie aber nach Wichtigkeit und Dringlichkeit.

2. Verringern Sie Ablenkung und Zerstreuung .
ruheDass mich sogar im Aufzug oder in jedem Supermarkt ungebetene Musik umgibt, nervt mich und empfinde ich als auditive Umweltverschmutzung – gegen die ich aber wenig tun kann.

Was ich tun kann:

  • Ich höre fast nie Radio, weil mich die Werbung und das ewig gleiche Gedudel nervt – dafür aber ab und an SWR2, DLF und Jazz vom MP3-Player.
  • Fernsehen tue ich auch fast immer nach Programmauswahl und entscheide nach spätestens zehn Minuten, ob mich eine Sendung interessiert. Ich zappe fast nie.

3. Verringern Sie Unterbrechungen .
Eine Studie ergab, dass soziale Netzwerke wie Facebook für 60 Prozent der Arbeitsunterbrechungen verantwortlich sind. 45 Prozent der Befragten könnten nur 15 Minuten lang ungestört arbeiten, bevor die nächste Meldung ihre Aufmerksamkeit fordert.

Multitasking ist also eine Illusion. Das geht nur bei routinemäßigen Arbeiten. Bei anspruchsvolleren Tätigkeiten geht es auf Kosten der Merkfähigkeit und der Kreativität.

Mein Fazit: 

Das Leben findet nur offline statt.

Letztlich geht es ja darum, welche Erlebnisse und Informationen wirklich wichtig sind. Das Hinterher-Hetzen nach irgendwelchen Informationsschnipseln, möglichst noch in Echtzeit täuscht vor, dass wir am Puls der Zeit sind, also am Leben teilnehmen.

PS: Also schalten Sie jetzt Ihren PC aus. Denn das Leben ist nur analog.

 

kommentar Wie schalten Sie ab und was schalten Sie aus?

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Bilder: © istock.com

Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.