„Ich wäre für einen Finger dankbar.“

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Gesundheit / Persönlichkeit

notlage rkwichmann persönlichkeits-blogDer Satz stammt von Philippe Pozzo di Borgo, der seit seinem Unfall mit einem Gleitschirm im Alter von 42 Jahren vom Hals abwärts gelähmt ist.

Wenn Sie den Film „Ziemlich beste Freunde“ gesehen haben, dann kennen Sie die  Geschichte hinter dem Film.

Von Samuel Koch, der bei einer „Wetten, dass …“ -Sendung verunglückte, haben Sie auch schon gehört.  Beide sind durch ihren Unfall Tetraplegiker, ihre Lähmung betrifft beide Hände und Beine, im Unterschied zu Paraplegikern wie Finanzminister Schäuble, der sich im Rollstuhl selbst bewegen kann.

Es geht aber noch härter.

Die Frau, die hier interviewt wird, ist vollständig gelähmt. „Ihr Bett ist eine Mischung aus Intensivstation und Multimedia-Büro. Eine Beatmungsmaschine schnauft. Zwei Bildschirme sind vor ihr angebracht. Word, Powerpoint, Skype, SMS – sie kann all das mit den Bewegungen ihrer linken Pupille steuern. Später beim Abschied fragt sie, ob sie unser Gespräch noch ausdrucken soll – und erledigt es mit zwei Lidschlägen.“

teddybaer_unfall_xsd_Gerti G. photocaseIm SPIEGEL 29/2012 wurden die beiden Männer zu ihrem Leben vor und nach dem Unfall interviewt. Mehrere Passagen darin haben mich beeindruckt, weil ich finde, dass auch Nicht-Behinderte daraus etwas lernen können, wie man mit Schicksalsschlägen fertig werden kann.

Elisabeth Kübler-Ross hat ein Phasenmodell des Sterbens beschrieben, das notwendig für eine Akzeptanz dieses unausweichlichen Ereignisses ist. Diese Phasen sind:

  • Schock und Fassungslosigkeit mit Verleugnung der Situation.
  • Ärger und Schuldzuweisung als zweite Phase.
  • Feilschen um Gesundung als dritte Phase.
  • Depression, Niedergeschlagenheit und Rückzug, eventuell Selbstmordgedanken.
  • Dann manchmal, aber nicht immer die Akzeptanz der Situation.

Auch eine Querschnittlähmung ist ja der Tod des eigenen Lebens, so wie man es bisher gewohnt war. Aber das gilt auch für andere schwere Verluste wie der Tod eines geliebten Partners oder eines Kindes.

Philipp Pozzo di Borgo und Samuel Koch haben alle diese Phasen durchlebt – und fallen vielleicht auch immer noch einmal in eine hinein. Ich habe einige Erfahrungen und Einsichten der beiden im „Behinderten-Business“ (sie nennen es selbst so) zusammengefasst.

Warum es besser ist, freundlich zu sein.

Unfreundlichkeit trifft man ja überall. Im Bus, im Job, in der Familie. Viele betrachten es als ihr gutes Recht, ihre schlechte Laune an anderen auszulassen. Haben Behinderte aufgrund ihres Schicksals hier nicht ein besonderes Privileg zur Unfreundlichkeit? Schließlich ist ihre Lage schlimm genug.

Ich finde, dass nicht nur wir Behinderte freundlich sein sollten. In Wahrheit sind alle Menschen voneinander abhängig, wir brauchen uns alle gegenseitig.
Wenn die Nichtbehinderten ebenfalls freundlicher wären, zu uns, aber auch untereinander, dann wäre die Welt angenehmer. Freundlichkeit tut uns allen gut. (Pozzo di Borgo)

 

Leben in der Risikogesellschaft.

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Okay, Ihr Bankberater sah anders aus, aber …

Die Ursache der Finanzkrise ist vor allem die menschliche Gier. Nicht nur die Habsucht etlicher Zocker in den Banken, sondern auch die von uns Kleinsparern, die gern hohe Renditen aber bitte mit null Risiko hätten.

Und wir wählen immer wieder Politiker, die mehr Geld ausgeben als zur Verfügung steht. Da muss man gar nicht nach Südeuropa schauen, fast jedes Land der Erde hat Schulden.

Samuel Koch und Pozzo di Borgo waren beide Risikosportler.

Ich habe einen sehr gefährlichen Sport ausgeübt, das Gleitschirmfliegen. Unsere Gesellschaft fördert so etwas, wir suchen dieses starke Gefühl, das extreme Erlebnis.
Und eigentlich wähnt man sich ja unsterblich und unzerstörbar. Aber die Suche nach diesem starken Gefühl und der Glaube, wir seien unzerstörbar, sind eine Absurdität der modernen Zeit. So ein Unfall bringt die Dinge wieder ins rechte Maß – zum Teil etwas brutal. (Pozzo di Borgo)

Manche meinten, nachdem sie den Unfall von Samuel Koch bei „Wetten, dass“ im Fernsehen mitverfolgt hatten: „Selber schuld. Was macht der auch so einen Blödsinn.“ Der Leidtragende selbst sah das anders, sondern betonte, dass er das Schicksal nicht herausgefordert habe, den Sprung nicht bereue, sogar überlegt habe, ihn mit verbundenen Augen auszuführen.

Ich glaube nicht, dass die Schuldfrage einem bei der Bewältigung eines solchen Schicksalschlags sehr hilft. Wer auf dem Bürgersteig stehend von einem Auto in den Rollstuhl gefahren wird, kann eine Weile auf den Verursacher schimpfen. Doch im Hass auf andere oder durch Selbstbezichtigung löst man sich nicht. Es braucht einen anderen Weg.

 

Kann einem Spiritualität in einer Notlage helfen?

Von Samuel Koch liest man, dass seine ganze Familie sehr gläubig ist. Und Pozzo di Borgo sagt dazu:

Vor meinem Unfall hatte ich ein Gravitationszentrum, das sich zwischen meinem Kopf und dem Bereich unterhalb meines Gürtels bewegte.
Seit dem Unfall hat sich dieses Zentrum nach oben verlagert, es befindet sich nun zwischen Herz und Himmel. Die Spiritualität ist für mich als Behinderten essentiell geworden. … Es wäre gut, wenn sich das Zentrum der Gedanken unserer Gesellschaft ein wenig nach oben bewegte – vor allem über die Gürtellinie.

Ein bemerkenswerter Satz, der für den Ex-IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn, den seine Behinderung ja auch seine glänzende Karriere und seine Ehe gekostet hat, wohl zu spät kommt.

 

Warum Mitleid nicht gut ist.

Im Film begründet der Hauptdarsteller, warum er gerade den schwarzen Bewerber als seinen Pfleger will: „Die Jungs aus der Vorstadt haben kein Mitleid. Genau das ist es, was ich will. Kein Mitleid.“

Mitleid heilt nicht. Wenn jemand mich beweint, dann weint er ja eigentlich über sich selbst, und wir können nicht alle anfangen zu weinen.
Mitleid ist für Gesunde eine Art, sich zu schützen, ich aber habe nichts davon.

Beim Mitleid ist man gefangen in der Situation des anderen Menschen. Man fühlt die Trauer, die Wut oder die Enttäuschung, als wäre es die eigene oder man wendet sich schnell ab, weil man den Anblick des Anderen und sein Leid nicht erträgt.

Im Mitleid steckt ja meist etwas Distanz. Der Schrecken, dass man selber von so etwas verschont wurde und es einem ja Gottseidank besser geht. Man fühlt sich handlungsunfähig und ist es oft auch. Eine angemessene Hilfe oder Unterstützung für den anderen Menschen ist in dieser Situation kaum möglich.

Beim Mitgefühl erkennt man, dass es keinen großen Unterschied zwischen dem Kranken, dem Armen oder dem Behinderten gibt. Weil jeden schon morgen das gleiche Schicksal ereilen kann.

Dann kann man den anderen Menschen wahrnehmen, meist auch seine Lage ein Stück mitempfinden aber man ist objektiver. Man ist froh, dass einem dieses Schicksal bis jetzt erspart geblieben ist, aber man triumphiert nicht, sondern fühlt sich frei, seine Unterstützung anzubieten.

 

Mein Fazit:

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Meals on wheels

Neben der Freundlichkeit zu sich selbst und anderen Menschen hilft einem in schweren Lagen auch der Humor.

Darf man über Behinderte Witze machen? Die beiden im Interview bejahen das, denn Pozzo di Borgo hat die Erfahrung gemacht, dass wenn er Menschen zum Lachen bringt, die sich auch eher um ihn kümmern.

Auch der Film hat selbstironische Moment „Ich würde mir die Kugel geben“, sagt Pfleger Abdel zu Philippe. Worauf dieser antwortet: „Auch das ist schwer für einen Querschnittsgelähmten.

Deshalb hier einer vom Wheel-Chairman:
„Was denken Kannibalen, wenn sie einen Rollstuhlfahrer sehen?
“Oh geil, Essen auf Rädern!”

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Foto: © Gerti G. – photocase.de,  istock.com

Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.