Summt Ihr Kopf, wenn zu viel um Sie herum los ist?
Tanken Sie Kraft durch Alleinsein?
Warten Sie darauf, in Meetings gefragt zu werden?
Sind Sie nach einem Tag im Großraumbüro erschlagen?
Findet man Sie auf einer Party in der Bibliothek oder im Garten?
Feiern Sie Ihren Geburtstag lieber im kleinen Kreis als mit einer großen Fete?
Die gute Nachricht: Sie sind vermutlich introvertiert.
Die schlechte Nachricht: wir leben in einer extravertierten Welt und da werden Introvertierte oftmals komisch angesehen. Sich zu präsentieren, seine Ideen zu verkaufen, gilt in vielen Berufen als notwendige Eigenschaft für Erfolg.
Extravertierte Menschen sind wie Solarzellen, sie können das gut. Sie knüpfen gern Kontakt, reden mühelos über sich und ihre Projekte, verbreiten gute Stimmung. Sie blühen in Gesellschaft regelrecht auf und laden sich im Kontakt mit anderen auf und steigern so ihren Energielevel.
Introvertierte Menschen sind eher Akkus. Sie brauchen Rückzug und Ruhe, um Kräfte zu sammeln. Was Extravertierte an- und aufregend, stimulierend und belebend empfinden, ist für Introvertierte oft störend oder überwältigend.
Der Begriff „Introversion “ wurde bereits 1921 von C.G. Jung geprägt. Fast alle Persönlichkeitstest fragen diese Eigenschaft ab. Die Dimension Introversion vs. Extraversion ist auch Teil des BIG FIVE, eines weltweit anerkannten Tests, der fünf Grunddimensionen der Persönlichkeit abfragt.
- Introversion/Extraversion
- Neurotizismus
- Verträglichkeit
- Offenheit für Neues
- Gewissenhaftigkeit
Hier ein Online-Test zu Ihren BIG FIVE …
Introvertierte Menschen sind nicht schüchtern.
Auf den ersten Blick könnte man das verwechseln, doch gibt es große Unterschiede. Wer schüchtern ist, wünscht sich meist mehr Kontakt, traut sich aber nicht, fremde Menschen anzusprechen, weil er Angst hat, abgelehnt zu werden. Schüchterne sind nicht gerne allein, es ist nur oft ihre letzte Wahl.
Introvertierte Menschen haben nicht diese Angst vor Kritik, vor Ablehnung oder Verlassenwerden. Sie besuchen auch gerne Ereignisse, wo viele Menschen sind, stehen aber dort lieber am Rand und beobachten das Ganze als selber aktiv mitzumischen. Hierzu ein guter Blogartikel.
Wer schüchtern ist, vergleicht sich auch oft mit extravertiert angelegten Menschen und schneidet dabei schlecht ab. Introvertierte wissen, dass sie „anders“ ticken, sind damit aber meist in Frieden.
Es sind oft eher die Extravertierten, die irritiert reagieren, wenn jemand nicht auf ihrer Wellenlänge schwingt: „Was bist Du denn immer so still?“ oder „Du musst mal mehr aus Dir rausgehen“ sind dann die gut gemeinten Ratschläge. Und tatsächlich leben wir in einer Gesellschaft, in der hohe Extraversion, Kontaktstärke und „Sich-Verkaufen“ hoch angesehen sind.
Wer ein Assessment-Center durchlaufen hat und im anschließenden Feedback die Beurteilung „zu zurückhaltend, für Führungsaufgaben nicht geeignet“ bekommen hat, spürt die negativen Konsequenzen ganz persönlich.
Auch in einer Talkshow werden nachdenkliche, reflektierte Menschen weniger eingeladen als extravertierte Stars, die auf jede Frage – meist ohne nachzudenken – eine dezidierte Meinung äußern können.
Probleme zwischen introvertierten Menschen und Extravertierten.
In der Partnerwahl ziehen sich Menschen mit unterschiedlichem Naturell oft an. Die lebhafte Frau sucht den stillen, ruhenden Pol. Der extravertierte Mann braucht eine Partnerin, die ihm gerne zuhört und sich nicht dauernd selber in Szene setzen muss. Doch was einen zu Beginn beim Anderen anzog, kann mit der Zeit ins Gegenteil umschlagen.
Der ruhende Pol wird als einsilbig oder lahm erlebt, die Lebhafte als notorische Selbstdarstellerin. Das zeigt sich besonders im unterschiedlichen Gesprächsverhalten und den möglichen Missverständnissen.
In ihrem Artikel „Die Stillen im Lande“ in psychologie heute 1/2011 beschreibt Anna Roming dies treffend:
Introvertierte Menschen denken nach, ehe sie etwas sagen. Extravertierte dagegen denken, während sie sprechen.
Das führt dazu, dass Introvertierte in Gesprächen häufig zu kurz kommen, weil das Gegenüber ihre Signale missversteht.
Der introvertierte Gesprächspartner nimmt die Äußerungen seines Gegenübers auf und versucht, sich seine eigenen Gedanken dazu zu machen. Der Extravertierte bewertet das als Engagement und Aufforderung, weiterzureden.
Das aber ist für den Introvertierten fatal. Er wird von der nächsten Aussage seines Gesprächspartners in seinen Gedanken unterbrochen, kann die eingehenden Informationen nicht angemessen verarbeiten.
Das gilt auch für den beruflichen Bereich. Introvertierte melden sich in Meetings selten zu Wort. Das kann als Desinteresse oder Unkenntnis ausgelegt werden. Will man ihre Meinung erfahren, muss man sie meist fragen. Doch wird fälschlicherweise zuweilen als Arroganz des Introvertierten, als wolle dieser hofiert werden, interpretiert werden.
Auch in Brainstormings sind sie nicht die idealen Teilnehmer. Der Wunsch, genauer nachzudenken, hemmt die erwünschte Logorrhoe. Introvertierte bevorzugen das ruhige Zweiergespräch, in dem Ideen und Argumente hinterfragt, durchdacht und vertieft werden können.
Besondere Merkmale von introvertierten Menschen.
In dem schönen Buch „Still. Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt“ hat die Autorin Susan Cain einige Unterschiede zu Extravertierten beschrieben und mit Studien belegt.
- Sie sind eher bedrohungs- als belohnungssensitiv.
Extravertierte sind von äußeren Belohnungen abhängiger, sorgloser und deshalb anfälliger für Abenteuer und riskante Unternehmen. Introvertierte prüfen erst mögliche Nachteile und können länger abwägen. - Sie kommen leichter in den „Flow„.
Dieses Gefühl der völligen Vertiefung und des Aufgehens in einer Tätigkeit ist ja unabhängig von anderen Menschen und deren Anerkennung. Da dies Introvertierte weniger brauchen, ist das für sie bei vielen unspektakulären Beschäftigungen ein natürlicher Zustand. - Unter ihnen finden sich viele hochsensible Menschen.
Diese haben eine sehr feine Wahrnehmung und werden noch mehr als Introvertierte von einem „normalen“ Ausmaß an Reizen schnell überflutet und ziehen sich zurück.
Das Buch setzt sich auch kritisch mit dem Mythos des charismatischen Führers auseinander und gibt gute Tipps für Lehrer und Eltern, die auf introvertierte Kinder treffen.
Wie sind introvertierte Menschen in der Partnerschaft?
Denkbar ist es schon, dass zwei Introvertierte sich verlieben, einen Leuchtturm mieten und dort glücklich leben – aber meist verläuft es anders.
Gegensätze ziehen sich an und die Partner erleben mit der Dauer der Beziehung aber auch schmerzhaft, wie das eigene Verhalten unabsichtlich den anderen stören oder verletzen kann.
So können Introvertierte sich kaum vorstellen, wie kränkend ihr nachdenkliches Schweigen für den extravertierten Partner sein kann. Umgekehrt machen es sich Extravertierte selten bewusst, wie sehr eine lautstark vorgetragene Beschwerde den introvertierten Partner verängstigen kann und er dies vor allem nicht gleich kommunizieren wird, sondern sich erst einmal zurückzieht. Dies wiederum interpretiert der Extravertierte als Desinteresse, Abblocken usw. reagiert mit Nachsetzen – und der Teufelskreis ist fertig.
Wie in jeder Partnerschaft gilt es also, eine neue Fremdsprache zu lernen. Die Sprache und Erlebniswelt des anderen nicht abzuwerten, weil sie so konträr zur eigenen Art ist, die man ja als normal empfindet. Vielmehr braucht es eine vorurteilsfreie Neugier und viel Dialog darüber, wie der andere eine Situation oder ein Verhalten wahrnimmt und interpretiert.
Hier ein Interview mit der Autorin, eine Leseprobe und noch ein guter Blogartikel.
Mein Fazit:
Natürlich ist weder Extraversion noch Introversion besser oder schlechter. Dieser Artikel soll Introvertierten Mut machen, zu ihrer Art, in der Welt zu sein, mehr zu stehen. Sich nicht anstecken zu lassen vom Kult der Extraversion, nach dem Eindruck schinden und Selbstreklame wichtiger wären.
Introversion ist eine Persönlichkeitseigenschaft, die ergänzt jedoch nicht grundsätzlich verändert werden kann. Aber auch nicht verändert werden muss.
Wenn Sie sich also das nächste Mal in einer großen Runde, wo es verbal hoch hergeht, nicht wohlfühlen und es Sie drängt, mal die Bibliothek zu inspizieren, brauchen Sie sich nicht schlecht zu fühlen.
Denken Sie einfach dran: „Ich bin eben introvertiert – und das ist gut so.“
Welche Erfahrungen und Meinungen haben Sie dazu?
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