Rezension von Gunther Duecks neuem Buch. Deutschland befindet sich im Strukturwandel. Das passiert alle paar Jahrzehnte. Ausgehend von der Agrargesellschaft, befinden wir uns gegenwärtig im Übergang von der Industrialisierung zur Dienstleistungsgesellschaft. Doch ganze Branchen, die einst unsere Wirtschaftskraft ausmachten, sind vom Niedergang bedroht. Immer mehr Arbeitsplätze für Menschen mit niedriger und mittlerer beruflicher Qualifikation werden in Billiglohnländer ausgelagert.
Auf der anderen Seite trägt ein immer größerer Anteil des Dienstleistungsbereichs zu der Wertschöpfung in hochindustrialisierten Volkswirtschaften bei. Ist also die Dienstleistungsgesellschaft in der Lage, jene Jobs zu schaffen, die durch das Verschwinden von Industriebetrieben und die Verlagerung von Produktionen in Billiglohnländer wegfallen?
Nein, sagt Gunter Dueck, Mathematiker, Informatiker bei IBM, und bekannter Querdenker, und stellt mit seinem neuen Buch eine These mit provozierenden Forderungen auf: AUFBRECHEN!: Warum wir eine Exzellenzgesellschaft werden müssen.
Der Ruf nach Eliten oder Exzellenz ist ja kein Thema, mit dem man in Deutschland allzu großen Beifall erntet, wie der jüngste Exzellenz-Wettbewerb um die besten Universitäten zeigte. Doch Gunter Dueck geht es nicht um die Exzellenz von einigen wenigen Institutionen, sondern um mehr Exzellenz für uns alle.
Den westlichen Gesellschaften drohen Elite und Slum.
So seine Prophezeiung. Einerseits – so seine These – wird es in naher Zukunft vor allem wenige hoch bezahlte Jobs in der Steuerung von Prozessen geben, auf der anderen Seite viele Menschen, die neue Jobs suchen, aber keine finden, weil sie nicht gut genug ausgebildet sind.
Dueck glaubt nicht an die Versprechungen der Dienstleistungsgesellschaft. Denn ganz viele Dienstleistungen werden nach den Regeln der Effizienzsteigerung entweder wegrationalisiert und vor allem automatisiert. Bereits in den letzten Jahren wurden ja immer mehr Aufgaben, für das es früher Personal gab, an den Kunden delegiert.
- Während meiner Sparkassenlehre gehörte zu jeder Zweigstelle ein Kassierer und etliche Angestellte, die Auszahlungsbelege ausstellten oder die Kontoauszüge überreichten. Heute holen wir unser Geld und die Auszüge vom Bankautomaten selber.
- Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als es Tankwarte gab? Heute findet man die nur noch an wenigen Tankstellen und den Service muss man extra zahlen.
- Bei IKEA oder manchen Baumärkten kann man seine Waren schon selber scannen, zahlt mit der Kreditkarte – kein Personal ist nötig.
- Fahre ich mal mit der Bahn, suche ich mir im Internet die Verbindung raus und drucke den Fahrschein selber aus. Ich finde das besser, da ich nicht in einer Schlange warten muss auf jemand am Serviceschalter, der – wie Tests zeigen – bei den vielen Preisrabatten nicht mal immer die preisgünstigste Variante weiß.
- In ein paar Jahren werden die RFID-Chips auch die letzten Damen und Herren an den Supermarktkassen ersetzt haben. Man rollt mit seinem Einkaufswagen an einem Terminal vorbei, durch die Chips wird alles erfasst, Rechnung ausgedruckt, Betrag abgebucht fertig.
Will man nicht nicht ebenso wegrationalisiert werden, muss man so viel Bildung erworben haben, dass man die Dienstleistungen erbringen kann, die noch nicht automatisierbar sind.
Hier eine Leseprobe:
„Die Lage ist wirklich sehr ernst. Ich will Ihnen zeigen, wie die Dienstleistungsberufe in den nächsten Jahren gnadenlos optimiert und automatisiert werden. Vielleicht die Hälfte aller Deutschen wird sich einen neuen Job suchen müssen oder in einen anderen hineinwachsen. Ja, es gibt einen Niedergang vieler lieb gewonnener und klassischer Berufe, aber auf der anderen Seite auch viele aufstrebende Bereiche in mehr akademischen, technischen und kreativen Sektoren, wo es sich gut arbeiten lässt. Den Niedergang menschlicher Berufe durch Automatisierung halten wir nicht auf. Er vollzieht sich automatisch im Zuge von normalen Effizienzbestrebungen, die wir langsam schon als „Sparwahn“ empfinden.
Wir müssen mit der Entrüstung aufhören, uns verabschieden und umorientieren. Ich könnte sagen: Deutschland als Land muss sich einen neuen Job suchen. Den gibt es! Fragen Sie nicht immer wieder, als wollten Sie, dass es besser keine Antwort darauf gäbe, auf die hin man hart arbeiten muss: „Wo gibt es gut bezahlte, interessante und erfüllende Arbeit?“ Die gibt es, ganz klar: in einer Exzellenzgesellschaft. Das muss eine Wissensgesellschaft sein, in die wir alle mitnehmen, eine ganz und gar unelitäre Veranstaltung. Exzellenz für alle, die wir am besten nach bewusster Entscheidung plan- und druckvoll aufbauen müssen AUFBRECHEN! Das ist die Forderung der Zeit. Wir dürfen nicht festkleben an alten Strukturen und müssen uns als Land und Kultur in eine neue Zeit transformieren.
Internet und Computer automatisieren vieles von „uns“ bis über jede Schmerzgrenze hinaus, aber sie machen auch technisch den Weg in eine neue Gesellschaft frei. Lassen Sie mich die Dramatik des Geschehens durch Beispiele aus Ihrem Alltag aufhellen:
Erinnern Sie sich an den letzten Besuch Ihres Versicherungsvertreters, der Ihr neues Auto versichert hat. Er schreibt den halben Fahrzeugschein ab, ganz gewissenhaft die ellenlange Fahrgestellnummer, und blättert in Risikotabellen. Er diskutiert mit Ihnen, wie viele Kilometer Sie im Jahr zurücklegen und ob die Markise vor dem Haus als schützender Carport im Sinne der Versicherung gewertet werden kann. Zur Sicherheit schreibt er, wie bei jedem Besuch, die Nummer des Kontos auf, von dem die Lastschriften abgehen. Das Ganze dauert eine halbe Stunde, dazu kommen An- und Abfahrt und die Telefonate zur Terminvereinbarung. Der Agent fährt dann nach Hause und bucht alles richtig ein. Die Versicherung wiederum… Verstehen Sie? Es kostet eine solide Stunde der Versicherung, also etwa 80 Euro und eine gute Stunde von Ihnen selbst, vielleicht 20 Euro in entgangenem Lohn, also 100 Euro. Das sind mehr als 300 Dosen Tomaten oder mehr als 65 Hähnchen!
Und ich sage Ihnen: In näherer Zukunft bekommen Sie eine Autoscheckkarte beim Autokauf dazu! Die zeigt man einem Versicherungsautomaten (der ähnlich aussieht wie die Automaten beim Einchecken im Flughafen) oder dem „Internet“. Piep! Alle Autodaten sind sofort im Automaten drin! Der fragt Sie: „Wollen Sie es zu denselben Konditionen wie das alte Auto versichern? Ja? Nein?“ Sie tippen „Ja“ und das wars schon. Die Kosten? 10 Cents für den Versicherer und ein paar Euro Ihrer eigenen Zeit. Dienstleistungen wie beispielsweise das Abschließen von Versicherungen bestehen nüchtern besehen lediglich aus dem Erfassen und Eintippen von Daten aus einem System in ein anderes. Solche Arbeit ist manuelle Datenverarbeitung mit einem Lächeln dazu.
Dienstleistungen sind im Vergleich zur Produktivität der Industrie atemberaubend ineffizient und werden in Zukunft durch Computer automatisiert, eben weil sie vom Charakter her „Datenübertragung“ sind. Da drängt sich ein Computer doch direkt auf! Und alle der Datenübertragung oder -verarbeitung ähnlichen Berufe sind dabei zu verschwinden oder sich entscheidend zu wandeln.
Der Computer übernimmt die Arbeiten vieler, vieler Menschen! Diese Arbeiten werden zwar nach wie vor verrichtet, aber nicht von uns!
Deshalb verschwinden nicht die Dienstleistungen an sich. Wir werden nur keine typische Dienstleistungsgesellschaft mehr sein, in der sehr viele von uns noch Dienstleistungen im klassischen Sinn erbringen.“
„Studium für alle!“
ist eine der zentralen Forderung von für mehr Bildungsmöglichkeiten für breitere Schichten von Dueck, der nicht umsonst bei IBM „The wild duck“ genannt wird:
Soweit die Diagnose bzw. die Vorhersage, was wir in den nächsten Jahren in Deutschland erleben werden. Doch wie sieht nach Duecks Ansicht die Therapie aus?
Seiner Meinung nach folgt auf die Agrar-, Industrie- und Dienstleistungskultur die Wissenskultur. Brain-Jobs in IT-, Umwelt-, Medizin-, Gen-, Nano- und Biotechnologie. Diese sind jetzt schon da – aber es sind zu wenige. „Berufe der Premiumservices und der Wissensgesellschaft verlangen multikompetente Menschen.“ Das geht nur über mehr und umfassendere Bildung.
Bildung muss wieder attraktiv und begehrenswert sein und nicht als lästige und unbequeme Pflicht erlebt werden. Das heißt, dass schon in der Schule Lernbegeisterung mehr geweckt wird. Denn für die künftige Exzellenzgesellschaft brauchen wir multikompetente Arbeitskräfte.
Jeder braucht über sein Spezialgebiet hinaus Kenntnisse in anderen Bereichen. Er sollte
- auch gut reden und etwas präsentieren können,
- etwas von Psychologie, Kommunikation und Führung verstehen,
- Konflikte bewältigen und verhandeln können,
- einen Computer bedienen,
- Prozesse verstehen,
- sein eigenes Lernen managen und so weiter.
Was der Staat tun muss
Der Autor ist überzeugt, dass der Staat für den Weg in die Exzellenzgesellschaft die Rahmenbedingungen schaffen muss. Das dürfe man nicht der freien Wirtschaft überlassen. Unser Weg in eine Exzellenzgesellschaft führt vom Subventions- zum Investitionsstaat, der die notwendige Infrastruktur von Wissen und Bildung bereitstellt.
Aus der Fülle seiner Vorschläge hier die wichtigsten:
- Superschnelle Datenhighways statt Fernstraßen, denn in der nahen Zukunft müssen möglichst alle mit neuen Technologien vertraut sein.
- Das Bildungssystem muss flexibler werden, um vielfach kompetente Persönlichkeiten hervorzubringen. Vor allem die Möglichkeit für alle, das Abitur zu machen.
- Besonders gefördert werden sollen vor allem die sogenannten MINT-Fächer (Medizin, Ingenieurswesen, Naturwissenschaften und Technologie). Mit Spitzenkräften v.a. in diesen Disziplinen können wir in Deutschland Wohlstand generieren.
- Wichtig werden „Culture Technologies“. Neben der Fachkompetenz also auch Fähigkeiten im sozialen, interkulturellen und interdisziplinären Bereich, sowie Selbst-, Sprach-, Lernkompetenzen. Diese „Culture Technologies“ können die technischen Mittel vereinigen und via Internet für umfassende Lernmöglichkeiten sorgen. So könnte Deutschland auch hier „Exportweltmeister“ von Wissen und Bildungstechnologien werden.
- Eine Exzellenzgesellschaft muss aber auch mehr die Werte des des Gemeinsinns und der Meisterschaft jedes Einzelnen pflegen. Eher ein t freundschaftliches Wetteifern miteinander als ein gnadenloser Konkurrenzkampf.
Mein Fazit:
Aufbrechen ist ein schöner, doppeldeutiger Begriff. Wir in Deutschland müssen aufbrechen. Und zwar in eine andere Richtung. Hin zu mehr Bildung für mehr alle. Wenn man sieht, wie seit Jahren die Anzahl der Schulen und die Lehrstühle vermindert, Schul- und Studienjahre gekürzt werden, begreift man, dass wir unsere Bildungsanstrengungen verstärken müssen. Einen Schlamper- und Betrügerstaat wie Griechenland mit Milliarden retten und aus Kostengründen von Studenten Studiengebühren und Büchergelder fordern, passt schlecht zusammen.
Aufbrechen aus der Komfortzone namens „Es wird schon irgendwie gut gehen“ oder „Der Staat muss mehr tun“ zu mehr Selbstverantwortung für jeden Einzelnen.
Aufbrechen müssen wir aber auch einige alte Denkstrukturen. Zum Beispiel, dass wir statt in sterbende Technologien oder tote Wirtschaftszweige mehr in Bildung investieren.
Das Buch rüttelt auf, legt den Finger in die Wunde und zeigt Therapiemöglichkeiten. Ich hoffe, dass es noch mehr bewegt als das Buch von Thilo Sarrazin, wo viele ja auch hofften, indem man einige unglückliche Aussagen kritisierte, man gleich die ganze Botschaft entsorgen könne.
Der Autor selbst ist skeptisch, ob seine Ideen Wirklichkeit werden. Es gibt keine Partei, die solch ein Programm besitzt oder es auch wirklich umsetzen will. Und selbst wenn es dieses gäbe, würde man es schnell als utopischen Versuch, Wählerstimmen zu fangen, abqualifizieren.
Doch um Duecks Ideen umzusetzen, ist ein Umdenken bei vielen Menschen und nicht zuletzt Politikern nötig. Am besten, Sie und ich fangen gleich damit an.
Unbequemen Vor- und Querdenkern ergeht es ja meist so: erst werden Sie verlacht, dann bekämpft und dann werden Ihre Aussagen allgemeine Tatsachen.
Ich habe Gunter Dueck beim Mittagessen während des TEDx RheinNeckar Kongresses kennenlernt und wir unterhielten uns über die psychologischen Hindernisse bei Veränderungen. Hier sein Vortrag:
httpv://www.youtube.com/watch?v=Optk-gYgFo8&
Duecks Homepage. Follow him on Twitter.
Hier noch drei Rezensionen von anderen Querdenkern:
„Spuren statt Staub“ – Warum Ihre Arbeit Sinn machen muss.
„Nur Tote bleiben liegen“ (beide von Anja Förster und Peter Kreuz“
„Die Kunst, kein Egoist zu sein“ von Richard David Precht
Das Neue in Unternehmen entsteht v.a. durch eine andere Form des Dialogs miteinander. Hierzu eine gute Präsentation:
Oder hier als lesenswerter Artikel von Susanne Ehmer.
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Foto: © – istock.com, G. Dueck