„Reine Liebe ist mit dem Leben unvereinbar“

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Über Verstand und Gefühl in der Ehe, das Schöne am Streit und den Segen resignativer Reife.

Ein Kollege von mir, der Paartherapeut Arnold Retzer, ebenfalls in Heidelberg arbeitend, hat ein neues Buch herausgebracht: „Lob der Vernunftehe – eine Streitschrift für mehr Realismus in der Liebe“. Aus diesem Anlaß bringt die FRANKFURTER ALLGEMEINE  SONNTAGSZEITUNG heute ein Interview mit ihm. Ich möchte die wichtigsten Passagen daraus vorstellen und meine  Meinung dazu.

1. „Eine reine Liebesbeziehung ist mit dem Leben nicht vereinbar.“

Am Anfang sähe eine Beziehung aus wie im Kino. Individuelle Grenzen lösen sich auf; man ist ein Herz und eine Seele. Doch spätestens nach dem ersten Kind wäre die Organisation des gemeinsamen Alltags, die Verteilung von Lasten und das Aushandeln von Gerechtigkeit mit der Liebe nicht vereinbar.

2. „Man sollte die Idee von der Herstellbarkeit des Glücks, den Anspruch auf Gleichheit und die Vorstellung, Probleme wären lösbar, aufgeben.“

Zwischen den Extremformen Glück und Unglück liegt die Bandbreite der „Banalität des Guten“. Das sind Zufriedenheit, die täglichen Sorgen, Freuden und Querelen. Diese gilt es zu akzeptieren, was aber nicht leicht sei.

Gerechtigkeit lässt sich nicht messen. Das sehe man auch beim Fremdgehen. Wenn Männer durch ihr Testosteron dazu gezwungen werden und Frauen eher mit Leib und Seele fremdgehen, gibt es keine feste Währung, in der man Gerechtigkeit messen könne. Deshalb solle man dieses Konzept am besten völlig aufgeben.

3. „Bei Affären gibt es die Möglichkeit, dem anderen zu vergeben. „

„Das heißt, ich werde mir meiner angestauten Ansprüche noch einmal bewusst: Man hat mir etwas angetan. Ich besitze gewissermaßen Schuldscheine, weil der andere mir etwas schuldig geblieben ist. Und dann gebe ich diese Ansprüche auf und verbrenne die Schuldscheine.
Das hat nur etwas mit mir selbst zu tun. Vergeben ist ein Akt unter zwei Augen, nicht unter vier Augen. Ob man das kann, ob man das will, ist eine ganz andere Frage. … Es ist auch nicht klar, welche Konsequenzen sich daraus ergeben.“

Liebe, Affäre, Fremdgehen, Beziehung, Seitensprung, photocase9942723773144. „Streit gibt es nur dort, wo man sich nahekommt.“

Streit könne eine gesunde Möglichkeit sein, die Balance zwischen Nähe und Distanz, zwischen Gebundenheit und Freiheit wiederzufinden. Insofern sind Konflikte hochwirksam für das Funktionieren von Paarbeziehungen. … Streit ist ein Beziehungsangebot. … Ein gutes Ergebnis eines guten Streits kann sein, dass es Dinge gibt, über die man sich nicht einigen kann. Ich nenne das resignative Reife.

5. „Ein Problem ist eine negativ bewertete Soll-Ist-Differenz.“

Viele altgedient Paare stellen irgendwann fest, dass sich der Partner kaum verändern lässt. Zur Bewältigung empfiehlt deshalb Retzer u.a., sich im Streitfall eine Clownsnase aufzusetzen oder ein Duell mit Wasserpistolen auszutragen. Denn Humor und Lachen seine eine hervorragende Möglichkeit, um mit dem Elend von Paarbeziehungen besser zurechtzukommen.

Meine Meinung dazu:

Bei These 1 wird meiner Meinung nach Verliebtheit mit Liebe verwechselt. Und das sind ja nun zwei völlig verschiedene Bewusstseinszustände. Zwar hat Verliebtsein durchaus Ähnlichkeit mit einer Psychose, wie Luc Ciompi feststellte. Doch unterscheidet sie sich davon in Dauer, Ausschließlichkeit und der soziale Akzeptanz.
Ich will hier keine neue Definition von Liebe wagen, die Zitatenlexika sind voll davon, wehre mich aber auch gegen die aus meiner Sicht zu resignative Sicht von Retzer in dem ganzen Interview.

Am meisten widerspreche ich den Thesen 2 und 3.
Natürlich gibt es keine Gerechtigkeit, die logisch begründbar wäre. Daraus aber gleich zu schließen, dass man das Konzept der Gerechtigkeit gleich über Bord werfen wolle, halte ich für übereilt.
Auch dass Vergeben praktisch außerhalb der Beziehung stattfinden solle, halte ich nicht für hilfreich. Ich halte überhaupt nicht so viel vom Vergeben. Denn es bringt meiner Meinung nach ein Gefälle in die Beziehung. Der oder die Klügere, Nachsichtigere verzeiht dem anderen seine Tat. Verzeihen bringt meiner Meinung nach den „Täter“ in die schwächere Position.

Ich halte vielmehr vom Ausgleich. Gerade beim Fremdgehen kann dies natürlich nicht im eigenen Fremdgehen bestehen nach dem Motto „Auge um Auge …“ Vielmehr braucht es hier meist eine längere Auseinandersetzung darüber, wie so ein Ausgleich aussehen könnte. Richtschnur ist, der „Betrogene“ muss einen Nutzen davon haben, den „Fremdgeher“ muss es etwas kosten.

Der Vorteil dieses Konzepts ist, es bringt die Bearbeitung der Affäre in die Beziehung, beim Vergeben – vor allem ‚unter zwei Augen‘ – wird sie ausgelagert.

These 4 sehe ich ähnlich, aber nur wenn beide auch gut streiten können. Das heißt, von ihren Wünschen, Meinungen und Gefühlen im Streit sprechen können. Und dies möglichst ohne die Wünsche, Meinungen und Gefühle des Partners abzuwerten oder zu verurteilen.

Gute Streits erkennt man auch dann, dass nach angemessener Zeit eine Versöhnung erfolgt, eben weil man sich im Streit möglichst nicht gegenseitig verletzt hat bzw. falls das passiert ist, man sich dafür entschuldigt.

These 5 halte ich für wenig praktikabel. Humor ist sicher wichtig in einer Beziehung und auch beim Lösen der Probleme. Aber meist kann man erst nach der sachlichen und emotionalen Auseinandersetzung darüber gemeinsam lachen, wie sehr man sich über eine Lappalie fetzen konnte. Diesen Schritt vorwegzunehmen halte ich für eine selten gelingende Abkürzung.

Gute Streits sind ja auch deshalb so schwierig, weil man erst mal dahinter kommen muss, worum es geht. Das Streitobjekt (Zahnpastatube, etwas vergessen, keine Lust zu etwas …) ist ja sachlich meist wirklich nicht so bedeutsam. Aber die symbolische Bedeutung, die beide hinein interpretieren, ist wichtig. Die liegt jedoch nicht offen an der Oberfläche und muss oft erst in einem längeren Gespräch herausgefunden werden.

PS: Mit ist klar, dass in einem Interview immer nur ein paar Kernthesen besprochen werden können und dies auch nur in verkürzter Form. Ich möchte deshalb meinen Kommentar in erster Linie nicht als Kritik an Herrn Retzers Thesen, sondern mehr als Anstoß für eine Diskussion hier auf dem Blog verstanden wissen.

Mehr über Arnold Retzer auf seiner Homepage.

kommentar Was ist Ihre Meinung zu den genannten Thesen?
Welche Erfahrungen haben Sie mit der Liebe in längeren Beziehungen?

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Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.

5 Kommentare

  1. Fremdgehen sagt

    Ich finde die Beiträge zu diesem Thema sehr interessant.

  2. “Bei Affären gibt es die Möglichkeit, dem anderen zu vergeben. “ das ist der Hammer! Unglaublich guter Artikel! Vielen Dank für den Spaß!

  3. Nicole sagt

    Ich finde nicht, dass Verzeihen den „Täter“ in die schwächere Position bringt. Täter sind ohnehin beide, jeder hat mit Sicherheit seinen Teil bewusst oder unbewusst zur Situation beigesteuert, der Betrügende eben lediglich den augenscheinlichsten und für den Partner schmerzvollsten Teil. Wenn beide sich trotz allem dazu entschließen, ihre Beziehung weiterzuführen und zu gegenseitigem Vertrauen und Liebe zurückzufinden, ist das gegenseitige! Verzeihen unerlässlich. Der Betrügende braucht die „Gnade“ des Verzeihens, denn mit der Hypothek, dass er etwas absolut Unverzeihliches getan hat, kann er die Beziehung nicht gleichberechtigt weiterführen. Der betrogene Partner sollte nicht zuletzt sich selbst zuliebe verzeihen, um die zugefügten Schmerzen loslassen zu können und neu zu beginnen. Verzeihen heißt ja nicht Gutheißen, es bedeutet einen Weg zu finden mit der Situation abzuschließen und den Neuanfang auf eine gute Basis zu stellen. Aus den Schuldgefühlen kann man niemanden entlassen, der sich darin gefangen fühlt. Sie sind vielleicht am ehesten der Teil, der aus der gemeinsamen Situation ausgelagert und allein bearbeitet werden muss. Da stimme ich mit Ihnen, Herr Kopp-Wichmann, überein, wenn Sie immer wieder betonen, dass man sich auch mit Schuldzuweisungen nicht allzu lange aufhalten sollte. Das Verzeihen hingegen kann nicht alleine und außerhalb der Beziehung bearbeitet werden, denn es ist eine Befreiung, die meiner Meinung nach die Beziehung wieder auf eine gemeinsame Basis ohne Gefälle stellt.

  4. Veit Feger sagt

    Ich empfinde, Sie unterliegen in Ihrer Argumentation einem Selbst-Widerspruch. Einerseits wünschen Sie es nicht, dass es in einer Beziehung ein „Gefälle“ gibt:
    „Verzeihen bringt meiner Meinung nach den “Täter” in die schwächere Position.“

    Andererseits verlangen Sie aber einige Zeilen später: „Richtschnur ist, der “Betrogene” muss einen Nutzen davon haben, den “Fremdgeher” muss es etwas kosten.“
    Ist das nicht deutlichst die Einführung eines „Gefälles“? 🙂

    SIE wollen den Retzerschen Verzicht auf „Gerechtigkeit“ nicht so ohne weiteres akzeptieren.
    Wenn man von „Nutzen“ und „etwas kosten“ spricht, dann hat man die Vorstellung im Hinterkopf: Es gibt eine wie auch immer geartete Gerechtigkeit.

    Ich teile diese Empfindung. Ein Verzicht auf „Gerechtigkeit“ bedeutet üblicherweise fast immer, dass sich der Brutalere, der weniger Empfindsame durchsetzt.
    Ich halte das nicht für wünschenswert, nicht für gut und schön. Das möchte ich Herrn Retzer entgegenhalten.

    Wie soll man zudem auf Gerechtigkeit in unserem allerwichtigsten Lebensbereich, in einer Liebesbeziehung, verzichten können, wenn wir sie in allen anderen Lebensbereichen selbstverständlichst fordern?
    Man überlege nur, welch ungeheure Bedeutung das Rechtswesen in unserer Gesellschaft hat.
    Obwohl wir alle der der Ansicht sind, dass es in diesem Rechtswesen viel Ungerechtigkeit gibt, sagt so gut wie niemand: „Fort mit dem Rechtswesen!“

    Mit freundlichen Grüßen
    Veit Feger

  5. Tim A. Bohlen sagt

    These 1:

    Blinde (rosarote) Liebe wandelt sich meist zu einer freundschaftlichen Liebe. Das ist pragmatisch, denn mit rosaroter Brille wären wir langfristig nicht handlungsfähig. Aber trotzdem handelt es sich um Liebe. Beides hat seinen Stellenwert, beides – wie alles – Vor- und Nachteile, wenn ich danach suche und nicht damit zufrieden bin, was ist.

    These 2:

    Gerechtigkeit liegt immer im Auge des Betrachters. Oder anders: Wie Giacobbe es in „Zum Buddha werden in 5 Wochen“ geschrieben hat: Geistiges Leid kann man sich nur selber zufügen. Und das Gefühl mangelnder Gerechtigkeit erzeugt zwangsläufig Leid. Meiner Meinung nach sollten Paare daher viel eher eine gemeinsame Gerechtigkeitsdefinition aufstellen, damit beide Seiten sich über den Gerechtigkeitssinn und dessen Felder (Abwasch und Zahnpasta vs. Fremdgehen sind zwei Paar Schuhe) klar werden.

    These 3:

    Vergeben ist für mich etwas anderes als eine Entschuldigung annehmen. Letzteres ist mir wesentlich wichtiger, setzt aber voraus, dass der Entschuldigende ehrlich und offen ist und echte Konsequenzen für sein eigenes Handeln (und nicht sein sich selbst suggeriertes Denken) zieht. Es muss mess- und erlebbar für sich und den Partner sein. Wie manche Sozialpsychologen vertreten, Fremdgehen nicht zu verraten, um die Beziehung aufrecht zu erhalten, denke ich nicht. Den Fremdgehen ist vor allem der Wunsch nach etwas, das nicht vorhanden ist in der bestehenden Beziehung und das bedeutet zugleich Klärungsbedarf.

    These 4:

    Bei jedem Streit kommt es meiner Meinung nach auf zwei Dinge an: Bin ich auch mit dem Problem glücklich und zufrieden und ist es mein Partner auch? Dann kann ich auch alternative Handlungen akzeptieren. Es gilt nicht: Nichts ist perfekt! Es gilt: Warum sehe ich es nicht als perfekt an? Zahnpasta auf dem Waschbeckenrand sollte eine Beziehung nicht gefährden. Was dahinter stehen könnte, schon! Also zweitens: Kann ich nicht mit dem Problem leben? Dann stellt sich – wie unten beschrieben – doch der „Schlaue“ zunächst die Frage: Was kann ich an mir ändern?

    These 5:

    Ich halte den Ansatz für grundlegend falsch. Wenn jeder seine Energie vor einem Konflikt nutzen würde, um zunächst einmal seine eigenen Denk- und Verhaltensweisen zu prüfen und dann sich selbst zu ändern, könnten viele Konflikte vermieden werden: Ihre Grundlagen haben sich nämlich verändert. Will ich jemand anderen ändern, so mache ich das am besten im Sinne eines „Head Fakes“ durch eigenes Handeln als Vorbild, ich inspiriere und kommuniziere nicht Statuten des „richtigen“ Handelns.

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