Selbst, Ich und Ego – eine Begriffsbestimmung und eine Anleitung.

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Persönlichkeit

Um sich selbst und seine Handlungsweisen besser zu verstehen und möglicherweise zu verändern, ist ein tieferes Verständnis darüber, wie diese drei Bereiche zusammenspielen, aus meiner Sicht unerlässlich. Im Folgenden will ich versuchen, diese zu definieren und voneinander abzugrenzen. Ich folge dabei teilweise den Überlegungen von Detlef Bartel

Das Selbst.
Mit ihm werden wir geboren und es verändert sich das ganze Leben hindurch nicht. Es existiert außerhalb von Raum und Zeit und bildet die Quelle unseren Bewusstseins. Das Selbst ist unsere eigentliche geistige Energiequelle. Als Teil der universalen Bewusstheit ist sein Kraftreservoir unendlich. Energiemangel entsteht durch den Verbrauch körperlicher als auch geistiger Aktivität. In beiden Fällen gilt, dass Energie nur durch Ruhe und Passivität wiedergewonnen werden kann. Der Sportler ruht sich nach einer anstrengenden Leistung aus. Nach des Tages Mühen schöpfen wir neue Kraft im Schlaf. Aber auch in stillen Zeiten oder der Meditation verbinden wir uns mit dem Selbst und können so den Energiefluss verbessern.

Das Ich.
Wenn das Selbst die passive Basis des Ich ist, kann das Ich als Zentrum betrachtet werden, in dem sich alle Gehirnfunktionen treffen. Dazu gehören unsere Gedanken, Wünsche, Vorlieben, Gefühle, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Hoffnungen, Entscheidungen, Handlungskonzepte usw.

Wenn wir vor einer Entscheidung stehen und in einem ruhigen, entspannten Zustand das Für und Wider mehrerer Optionen abwägen, ist das Ich eine Art “innerer Regisseur”, der die Vorstellungen und Interessen aller innerer Instanzen angemessen berücksichtigt und dann eine ausgeglichene Entscheidung fällt. Das Ich regiert praktisch immer aus der Mitte heraus, indem es auch die sozialen Aspekte einer Entscheidung mitberücksichtigt.

Warum ist die Mitte des Ich so wichtig? Weil wir schnell das Gleichgewicht verlieren, wenn wir die Mitte verlassen. So wie der Artist auf dem Seil oder wir selbst auf einem schwankenden Boot – der sicherste Platz ist die Mitte, weder zu weit rechts noch links.

Das Ego.
Sobald das Ich sich von seiner Mitte entfernt, wird es zum Ego. Oder anders ausgedrückt, sobald ein Teil (siehe „Modell des Inneren Teams“) anstatt des Ich die Regie übernimmt, wird dieser Mensch von seinem Ego getrieben und bekommt früher oder später große Probleme:

  • Übernimmt ein „innerer Antreiber“ in uns über zu lange Zeit die Regie, dann strengen wir uns auch bei Situationen an, wo es nichts zu leisten gibt. Oder wir versuchen es, allen Recht zu machen und sind irgendwann erschöpft und frustriert.
  • Wie Ihre Wohnung meistens aussieht, sagt auch etwas über Ihr Ich bzw. Ihr Ego aus. Ist es immer steril sauber und aufgeräumt, so dass Besucher Hemmungen haben, sich hinzusetzen, hat vermutlich ein zwanghafter Teil die Oberhand.
    Stapeln sich bei Ihnen jedoch die Pizzakartons neben der ungebügelten Wäsche und in Ihrem Briefkasten stecken öfters unverlangte Angebote vom Kammerjäger, dann hat ein entgegengesetzter Teil seine “dreckigen” Finger im Spiel.

Wie Selbst, Ich und Ego zusammenhängen.
Das Leben findet zwischen Polaritäten statt. Zum Beispiel zwischen “heiß” und “kalt”. Am jeweiligen Ende einer Polarität ist Leben kaum oder gar nicht möglich. Weder bei 50 Grad Kälte noch bei 50 Grad Hitze. Das Ego schwankt zwischen diesen Gegensätzen hin und her: Ruhe und Aktion, Nähe und Distanz, Dienen und Herrschen, Führen und Folgen, Sympathie und Abneigung u.v.a. Zwischen all diesen Gegensätzen versucht das Ich die Mitte, den Ausgleich zu finden und zu halten. Je fester das Ich auf der Basis des Selbst ruht, desto besser gelingt ihm das.

Woher nehmen Kinder so viel Energie?
Wer Kinder beobachtet, mag staunen, über wie viel Energie sie verfügen. Das kann man so verstehen, dass ihr Ich in ganz jungen Jahren noch recht schwach entwickelt ist. Kinder leben noch in direktem Kontakt zur Außenwelt und zu ihrem Selbst. Der Energiefluss des Selbst ist ständig vorhanden, nicht nur im Schlaf. Tagsüber wird es jedoch mehr oder weniger von der Gedankenwelt des Ich behindert. Denn das Ich zwingt den Menschen dazu, alles Erlebte zu vergleichen, zu bewerten und zu interpretieren, bevor er sich dann für eine Handlung oder Meinung entscheidet. Das kostet Kraft und Energie. Kinder dagegen leben spontan, sie handeln sofort, ohne groß nachzudenken. Sie verbrauchen dadurch weit weniger Energie.

Warum Krisen etwas mit Selbst-Entfremdung zu tun haben?
Nun gibt es Situationen im Leben, bei denen das Ich die Sicherheit und den Halt des Selbst zu verlieren glaubt. Es kommt dann zu ausgeprägten Angstzuständen. Panikattacken, Platzangst, Flugangst oder die Angst vor dem Alleinsein können so verstanden werden als befürchteter Verlust des Kontaktes zum Selbst. Bei all diesen Ängsten “weiß” der Betreffende, dass er keine Angst haben müsste, weil Reisen per Flugzeug mit die sicherste Fortbewegung ist. Doch dieses Wissen nützt ihm nichts.

Ich verstehe derlei Ängste mittlerweile als Zeichen einer “Selbst-Entfremdung”. das heißt aufgrund innerer Konflikte oder falscher Lebensweise hat der Kontakt des Ich zum Selbst stark abgenommen und der Energiefluss vom Selbst wurde stark eingeschränkt. Das wird auch verstehbar, wenn man genauer betrachtet, wie die Therapie bei solch psychosomatischen Krankheiten aussieht. Zum einen wird der Betreffende von seiner Arbeit getrennt. In landschaftlich schön gelegenen Gegenden macht er dann einen Klinikaufenthalt oder eine Kur. Das beinhaltet im wesentlichen geregelten Nachtschlaf, gesunde Ernährung, lange Spaziergänge in der Natur, viele körperlichen Angebote wie Schwimmen, Massage, Bewegung. Dazu kreatives Gestalten mit Farbe und Ton, sowie einfühlsame Gespräche mit einem Therapeuten oder einer Therapeutin oder einer Gruppe von Gleichgesinnten.

Warum sind derlei Interventionen in der Regel hilfreich? Weil sie alle den Kontakt zum Selbst wieder ermöglichen und stärken. Die deutsche Sprache deutet daraufhin: man spricht von “Selbstentfremdung” aber nicht von “Ich-Entfremdung”, wohl aber von “Ich-Schwäche” jedoch nicht von “Selbst-Schwäche”.

Fazit: Was können Sie tun, um sich – auch ohne krankheitsbedingte Krisen – immer wieder mit Ihrem Selbst zu verbinden und dessen Energiefluss nutzen? Hier einige Anregungen:

  • Hören Sie meinen Podcast Das ist eine von mir gesprochene Anleitung über zwanzig Minuten, mit der Sie erfahren, wie man “innere Achtsamkeit” üben kann.
  • Machen Sie mindestens alle neunzig Minuten eine Pause von fünf oder zehn Minuten.
    Schließen Sie Ihre Augen, dann muss Ihr Gehirn keine optischen Informationen verarbeiten und Sie sparen Energie. Machen Sie tiefe Atemzüge und beobachten Sie Ihre Gedanken. Also nicht nach denken, sondern beobachten, wie Gedanken auftauchen und wieder weiterziehen – wie Wolken am Himmel.
    Raucher machen dasselbe. Aber das oben Beschriebene funktioniert auch ohne Zigarette. Garantiert.
  • Wenn Sie glauben, dass Sie diese Zeit nicht haben, machen Sie viele kurze Pausen über den Tag verteilt. Zehn oder zwanzig Sekunden lang (diese Zeit müssten sogar Sie haben). Zum Beispiel im Aufzug, auf der Toilette, vor dem PC. Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich eine Wiese vor. Atmen Sie ruhig und etwas tiefer als sonst.

Die Qualität unseres Lebens hängt vor allem davon ab, womit wir uns identifizieren. Ziehen wir unser Selbstwertgefühl vor allem aus dem Geltungsbedürfnis des Ego, dann sind wir gekränkt, wenn wir im Lokal nicht gleich bedient werden, müssen immer das teuerste Handy-Modell besitzen und prahlen vor anderen mit unseren Fähigkeiten. Doch wir sind eben nicht allein das Ich mit all seinen verschiedenen Egos, die unter der Abhängigkeit von der Außenwelt leiden. Zu uns gehört auch unser viel größeres Selbst. Aus ihm kommt die Kraft, Abhängigkeiten zu reduzieren und wirklich “selbst’verantwortlich zu handeln.

Oder hier herunterladen.

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Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.

4 Kommentare

  1. Christa Jockisch sagt

    Danke für den gut strukturierten Artike1 !!

  2. Sehr geehrter Herr Kopp-Wichmann,
    ich freue mich, dass ich heute auf ihrer Seite gelandet bin, bei der Suche nach näheren Erklärungen von ICH und SELBST. Das ist sehr verständlich beschrieben bei ihnen – und da habe ich etwas weiter gestöbert. Bei allen Beschreibungen, die ich gefunden habe, ist ihre die beste – vom Ich, Selbst und Ego.

    Ich schreibe ein Buch und darin kommt eben dieses Thema auch vor. Es ist mein erstes Buch und ich befinde mich auf einer sehr spannenden Reise damit. Mein Thema ist: über den Körper zur Psyche. Ich würde mich freuen, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Hier meine Homepage, falls es sie interessiert.

    YOLATES ist mein Begriff, den ich mir schützen lassen habe und wo ich meine eigene Philosophie und Arbeit an Körper und Psyche entwickeln kann.

    Liebe Grüsse aus Wien
    Irmina Boltenstern

  3. Mein momentaner Verständnisstand ist, dass das Selbst mit dem großen Vorzeichen der Kontext, die Gesamtheit ist.
    Und das kleine selbst oder das ich, der Content. So gesehen: Mein wahres Selbst ist der Ozean, aus dem die Wellen, das kleine ich, entspringt.

  4. Mal wieder sehr interessant.
    Es gibt unübersehbare Parallelen zur Biblischen Anthropologie des NT. Nur die Begriffe werden anders benannt. Das Selbst ist der „Geist“ des Menschen. Das Ego ist synonym mit dem begriff „Fleisch“.
    Beim „Ich“ schwanke ich noch etwas, denke aber dass der Begriff „Herz“ des Menschen zutrifft.

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