Über Menschen, die jammern, habe ich ja hier im Blog schon öfters geschrieben. Zum Beispiel hier.
Spätestens wenn man einem Menschen, der jammert, drei Vorschläge gemacht hat, die dieser mit „Ja, aber …“ abgeschmettert hat, ergreift man die Flucht. Wenn das aber nicht geht, bleibt man stehen und ärgert sich. Denn Jammern hat oft eine aggressive Komponente, die dem Klagenden aber nicht bewusst ist.
Er/sie fühlt sich ja als Opfer und dementsprechend zu kurz gekommen, schlecht oder ungerecht behandelt – und hilflos, damit umzugehen. Versteht man diese Hilflosigkeit als Auftrag zu helfen, ist man schnell in einem Drama-Dreieck gefangen.
Macht vielleicht sinnvolle Hilfsangebote à la:
- „Dann rede doch mal mit Deinem Chef/versuche halt, Ihren Standpunkt zu verstehen …““
- „Dann bewirb Dich doch woanders/verlass Deine Frau …“ usw.
- „Dann musst Du das eben aushalten oder die Situation/den Chef/den Partner etc. akzeptieren …“
Aber statt einem „Stimmt, das probier ich mal“ erntet man bei solchem „Helfen ohne Auftrag“ fast immer ein „Ja aber, das kann ich nicht/hat keinen Zweck/hab ich schon versucht.“
Denn wer jammert, will ja nichts ändern, jedenfalls nicht, wenn es einen Preis kostet in Form von Mühe, Anstrengung oder Überwinden einer Angst. Stattdessen hofft der Klagende, dass es statt „Love it, change it or leave it“ noch einen vierten Weg geben müsste.
Den gibt es aber nicht, beziehungsweise doch. Denn der vierte Weg, das Schlufpfloch sozusagen, ist das Jammern.
Mit dem Jammern erleichtert man sich vom Druck der unangenehmen Gefühle, heischt auch um Mitgefühl („Och, du Armer!“) stellt aber gleichzeitig klar, dass man an der Sache, mit der man unzufrieden ist, nichts ändern kann.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Jammern ist vollkommen okay. Ich jammere auch manchmal. Solange man anderen nicht zu sehr auf die Nerven geht, hat es eben eine gefühlsregulierende Wirkung und das braucht jeder Mensch hin und wieder.
Wenn man im Jammern nicht steckenbleibt und sich selbst einen Tritt in den Hintern gibt und ins Handeln kommt. „Okay, jetzt habe ich lange genug darüber geklagt, dass ich es völlig unsinnig finde, erstens Steuern zu zahlen und zweitens dafür auch noch eine lange Steuererklärung machen muss – jetzt fange ich mal damit an!“ (Da es gar nicht leicht ist, sich selbst in den Hintern zu treten, muss das manchmal der Partner oder ein Freund machen.)
Aber geübte Jammerer lassen sich auch durch einen solchen Tritt manchmal nicht bewegen, sondern machen einem Schuldgefühle, dass man ihre schlimme Lage überhaupt nicht verstehe – oder besser noch – sich für sie überhaupt nicht interessiere. Dann sind Sie voll im Drama-Dreieck gelandet, in dem die drei Positionen schnell wechseln können. Aus dem vermeintlichen Opfer wird ein Verfolger, der Sie zum Opfer macht. Drama eben.
Wie man lustvoll jammert.
Die natürliche Tendenz im Kontakt mit professionellen Jammerern ist, dass man ihnen auszuweichen sucht. Also mit einem „Muss dringend weg!“ das Weite sucht oder gleich die Straßenseite wechselt. Das merkt der Jammerer natürlich mit der Zeit, dass man ihn meidet oder seine Klagen nicht hören will und fühlt sich noch schlechter.
Was tun? Wie könnte es Spaß machen, sich das Gejammere fremder Leute anzuhören?
Das finnisch-deutsche Künstlerpaar Tellervo Kalleinen und Oliver Kochta-Kalleinen haben einen Weg gefunden. Mit ihren Beschwerdechören haben sie eine weltweite Bewegung des lustvollen Jammerns initiiert. Hier ein Beschwerdechor aus Hamburg:
httpv://youtu.be/569qbNdm75c
Auf Youtube gibt es noch Dutzende anderen Chöre, die dokumentieren, was Menschen weltweit bekümmert und worüber sie singenderweise sich beklagen: in Chicago oder St. Petersburg, in Tokio, Singapur, Kopenhagen oder Mailand. Weltweit haben sich schon mehr als 120 Beschwerdechöre gebildet.
Selbst einen Beschwerdechor ins Leben rufen geht ganz einfach. Konkrete Anleitungen, wie Sie selbst einen Chor ins Leben starten können, finden sie auf ihrer Website www.complaintschoir.org.
Worüber beklagen sich Menschen in so einem Beschwerdechor. Hier einige Beispiele aus dem Chor von Chikago:
Chicago hat keine Berge!
Ich kann nicht aufhören, an Sex zu denken.
Vor meinem Badezimmerfenster tauchen ständig Fensterputzer auf.
Mein Boss hat meinen Job abgebaut, aber seinen darf er behalten.
Die Flughafensicherheit hat mein Mundwasser einkassiert.
Lehrer verdienen nichts, aber Unterhalter Millionen.
Im Internet sind die Menschen so gemein.
Nie wirft jemand den Ball zu mir.
Ich ertrinke in meinem Studentenkredit.
Mein Zahnfleisch bildet sich zurück.
Müllhalden so groß wie Texas treiben im Pazifik.
Ist Krieg unser einziger Exportartikel?
Mein Toast ist kalt.
Mein Fazit:
Jammern ist ja wenig angenehm, sowohl für den Klagenden wie für den, der es sich anhört. Erstaunlich, wie man mit einer kreativen Idee daraus etwas Belebendes machen kann, das allen gut tut.
Der große Erfolg der Beschwerdechöre hat wohl mehrere psychologische Gründe:
- Wenn wir uns gemeinsam – anstatt allein – über die gleiche Sache ärgern, fühlen wir uns beide besser.
- Jammern schafft Kontakt. Wer an der Bushaltestelle sich über die Verspätung aufregt, ist auch ohne Chor gleich im Gespräch mit wildfremden Menschen, denen das auch nicht gefällt.
- Der gemeinsame Klagegesang ist ein erster Schritt aus der erlebten Hilflosigkeit der Opferhaltung. Man tut etwas dagegen.
- Ein Beschwerdechor ist eine kleine Bürgerinitiative. Die individuellen Sorgen werden im Kollektiv ernst genommen und ein ganzer Chor macht sich dafür stark. Das Publikum und die Resonanz im Internet verstärkt den Effekt.
Auch in Deutschland wird es bald zwei neue Beschwerdechöre geben, in Berlin und in Dresden. Jeder ist als Teilnehmer willkommen, singen können muss man nicht. In der Hamburger Kampnagel-Fabrik wird eine Videoinstallation mit Beschwerdechören aus aller Welt zu sehen sein. Mehr Informationen www.nordwind-festival.de
Worüber würden Sie sich gerne mal beklagen?
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Fotos: © Lisa F Young, Xavier Brosch Fotolia.com
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