Change blindness: Warum Sie (und ich) das Offensichtliche meist nicht sehen.

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Psychologie
change blindness

Bild: Daniel Simons aus einem seiner berühmten Experimente

Die meisten Menschen verlassen sich sehr auf ihre Wahrnehmung. “ Das habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen“, ist die oft gehörte Meinung, dass etwas genauso sich abgespielt hat, wie man es gesehen hat.

Das ist leider ein großer Irrtum. Können Sie sich zum Beispiel vorstellen, dass Ihnen an einem Schalter jemand ein Formular gibt, das Sie ausfüllen. Und wenn Sie es dem Menschen zurückgeben, es jemand ganz anderes ist – und Ihnen das nicht auffällt? Unmöglich, sagen Sie? Dann schauen Sie mal hier …

Was ist change-blindness?

Veränderungsblindheit (englisch change blindness) nennt man das Phänomen bei unserer visuellen Wahrnehmung. Selbst deutliche Veränderungen in einer Szene werden oft vom Betrachter nicht wahrgenommen. Solche Experimente widersprechen dem gesunden Menschenverstand wie auch der bisherigen psychologischen Forschung: dass es nämlich in unserem Gehirn ein wie auch immer geartetes Abbild unserer Umwelt gibt.

Wenn uns eine so große Veränderung mitten in einer Szene entgeht, meint der Wahrnehmungsforscher O’Regan, kann es in unserem Kopf kein gespeichertes Bild von der Szene geben – sonst müsste der Wechsel ja bemerkt werden. Das heißt: ein stabiles visuelles Bewusstsein, gibt es in Wirklichkeit gar nicht.

Hier ein Beispiel: Angenommen, auf der Straße spricht Sie ein Passant an, um Sie nach dem Weg zu fragen. Während Sie ihm den Weg erklären, werden Sie kurz unterbrochen. Würden Sie bemerken, wenn da plötzlich jemand ganz anderes neben Ihnen stünde, dem Sie den Weg erklären? Sie sind sich sicher? Na schön, dann schauen Sie mal hier:

 

Immer wieder passiert es mir in meiner Praxis, dass ein Klient, der seit mehreren Monaten wöchentlich zu mir kommt, mich fragt: “Das Bild da an der Wand, das ist neu. Stimmt’s?” Darauf sage ich: “Nein, das hängt da seit sieben Jahren.” Das Bild ist etwa zwei auf eineinhalb Meter groß.

Change blindness und die Vergesslichkeit Ihres Gehirns.

Wie genau können Sie wahrnehmen?

Leider nicht sehr gut. Ich werde es Ihnen beweisen. Hier ist ein Video, das 35 Sekunden dauert. Schauen Sie es sich mal an und finden Sie heraus, was dabei nicht stimmt:

Der US-Professor Daniel Simons hat dieses Phänomen der “Inattentional Blindness”, also „Blindheit durch Unaufmerksamkeit” genauer untersucht. Dabei wird ein Objekt, das voll sichtbar aber an der Stelle unerwartet ist, in der Regel übersehen, weil wir mit unserer Aufmerksamkeit anderweitig beschäftigt sind.

Solche Experimente legen den Schluss nahe, dass wir nur jene Objekte und Details wahrnehmen oder bemerken, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten. Das hat mit der eingeschränkten Verarbeitungskapazität unseres Gehirns zu tun. Das Gehirn muss dauernd auswählen, welche Informationen gerade wichtig sind und welche weniger. Hier ein berühmtes Experiment.

Im folgenden Video geht es darum, zu zählen wie oft die Spieler in den weißen Hemden sich den Ball zuwerfen. Die meisten Menschen lösen die Aufgabe ganz ordentlich – übersehen dabei etwas ganz Wesentliches auf dem Video.

Wollen Sie mal Ihre Wahrnehmung testen?

Der Heidelberger Sportwissenschaftler Dr. Daniel Memmert hat dieses Phänomen bei Sportlern untersucht. Ein Experiment mit Handballern zeigte, dass etwa die Hälfte der Spieler ihren Teamkollegen, der frei vor dem Tor steht, übersieht, weil sie zu sehr darauf achten, wie weit der Gegner von ihnen entfernt ist. Dabei sind nach nach seiner Erfahrung Sportler schon weniger anfälliger für “Inattententional Blindness” als Nicht-Sportler. Bei dem obigen Video erkennen Basketballer zum Besipiel den Gorilla eher als andere. Andere Beispiele:

  • Aus der Unfallforschung ist bekannt, dass viele Unfälle zwischen Autofahrern und Motorradfahrern passieren, weil der Autofahrer das Motorrad nicht oder zu spät wahrgenommen hat. Das hat vermutlich damit zu tun, dass ein Autofahrer eher andere Fahrzeuge erwartet . Der „Gorilla“ ist also hier der Motorradfahrer.
  • Immer mehr Handy-Nutzer laufen gegen Schilder, verstauchen sich den Knöchel, verschwinden im Kanalschacht oder rennen unbedacht über eine viel befahrene Straße. Dagegen soll eine neue Technik helfen…
  • Auch Telefonieren im Auto sorgt für verringerte Aufmerksamkeit. Deswegen ist die Handynutzung bei der Fahrt auch verboten. Interessanterweise hilft aber auch eine Freisprechanlage wenig …
  • Auch viele Zauberer verlassen sich bei ihren Darbietungen darauf, dass der Zuschauer zwar ganz genau hinschaut und sich dennoch ablenken lässt. Hier ein Magier, der seine Tricks verrät. httpv://www.youtube.com/watch?v=SVUQphHJExI
  • Dass in Kinofilmen oft haarsträubende Fehler enthalten sind, die kaum jemandem auffallen, wissen nur wenige. Mehrere Websites sammeln solche Patzer wie z.B. www.fehler-im-film.de oder hier im Video:httpv://www.youtube.com/watch?v=aZ8LVMSI2R0
  • Noch mehr verblüffende Beispiele, wie wenig wir unserer Wahrnehmung trauen können, finden Sie auf dem Youtube-Kanal von Professor Simons.

Fazit: ‘Den Wald vor lauter Bäumen sehen’ heißt es umgangssprachlich. Komplexe Situationen, die unsere Aufmerksamkeit erfordern, führen eben oft dazu, dass wichtige Einzelheiten nicht wahrgenommen werden. Das erklärt auch, warum …

  • Zeugenaussagen über dieselbe Szene oft völlig unterschiedlich ausfallen;
  • Mitarbeiter in Kernkraftwerken zuweilen haarsträubende Fehler machen;
  • in vielen Riskmanagement-Abteilungen von Banken oder den staatlichen Finanzaufsichten die deutlichen Anzeichen für die weltweite Finanzkrise nicht „gesehen“ wurden.

Auch für das eigene Leben sind wir oft teilweise blind. Zu beschäftigt mit dem täglichen Arbeiten und Leben wird einem oft erst in einer Krise – wo das normale Leben angehalten ist – bewusst, was man Wichtiges die ganze Zeit übersehen hat.

kommentar Wer oder was ist der Gorilla in Ihrem Leben?

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Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.

6 Kommentare

  1. Wow!

    Ich dachte, ich hätte nur einen männlichen Tunnelblick.

    Und ich dachte, ich kenne den Gorilla, da kann mir nix mehr passieren.

    Gut dass meine Test-Ergebnisse privat bleiben.

    Ich glaube, ich habe heute Abend ganz erheblich meine visuelle Wahrnehmung schärfen dürfen.
    Sollte ich jetzt mal einen Zauberkurs besuchen?

    Herzlichen Dank und ebenso herzliche Grüße,
    Ulf

  2. Jürgen Porbeck sagt

    Hallo!

    Mir fallen drei persönliche Aspekte zur Wahrnehmungsfähigkeit ein.

    * Können Sie eine grobe / feine Skizze der Häuser in ihrer Straße anfertigen?
    * Meine Biologielehrerin sagte mal, wenn er alles wahrnehmen hätten wir einen überdimensional großen Kopf im Verhältnis zum Rest des Körpers.
    * Ich selbst stehe im Handballtor. Würde bei einem Tempogegenstoß im letzten Moment vor dem Wurf der Werfer rüde gefoult werden, und müsste ich eine Zeugenaussage vor Gericht machen, kann ich vor dem Richter leider keine Aussage machen, obwohl das Foulspiel 3 Meter vor mir stattfand. In diesem Moment bin ich nur auf den Ball an der Hand fokussiert.

  3. Unglaublich wie man denkt man schaut genau hin und lässt sich prompt doch wieder ablenken….

  4. Die Videos von Simson & Levin sind genial.
    Ich wünschte mir, dass ich im Schach meine Gegner auch von dem Gorilla so ablenken kann, dass ich schneller gewinne 🙂

  5. Wie immer ein sehr schöner Beitrag von Ihnen. Ich mag in diesem Zusammenhang die Geschichte vom Mulla Nasredin: Wieder und wieder überquerte Nasreddin die Grenze zwischen Persien und Griechenland auf Eselsrücken. Jedes Mal hatte er zwei Körbe mit Stroh dabei und kam ohne sie zurück. Jedes Mal untersuchte die Wache ihn wegen Schmuggelware. Niemals fand man etwas. „Was bringst du herüber?“, fragten sie ihn. „Ich bin ein Schmuggler.“, antwortete er immer. Jahre später, Nasreddin machte einen immer wohlhabenderen Eindruck, zog er nach Ägypten. Dort begegnete er einem der Grenzwächter. „Sag einmal, Nasreddin, jetzt wo du außerhalb der Gerichtsbarkeit von Griechenland und Persien bist und hier in solchem Wohlstand lebst, sage mir doch, was war es eigentlich, was du geschmuggelt hast, als wir dich nie überführen konnten.“ „Esel“.

    Nun ist ja hier die wesentliche Frage, was denn der Esel ist. Diese Frage stellen Sie auch zum Schluss ihres Artikels. Für mich ist der Esel unser wahres Selbst, unsere eigene Lebendigkeit, die für uns im Alltag so selbstverständlich ist, dass sie unsichtbar wird. Sie ist deshalb nicht sichtbar, weil wir selbst es sind!

    Und was wir sind, können wir nicht sehen, sondern nur SEIN! Einen Teil der Wahrnehmung auf dieses Lebendig-Sein zu legen, das ist für mich der Schlag in den gordischen Knoten!“

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