Nicht immer ist das Fest der Liebe ein Datum, auf das sich alle freuen. Die Kinder bestimmt noch am meisten. Aber für Erwachsene ist Weihnachten zuweilen nicht ungetrübt.
Nicht nur der Stress in den Wochen zuvor auch die Feiertage selbst sind zuweilen problembelastet. Statistiken zufolge sind Streits an Weihnachten sehr häufig und auch die Scheidungsanwälte haben in den Wochen nach dem Lichterfest mehr zu tun. Woran liegt das?
Ich denke, an Weihnachten zeigt sich, wie erwachsen wir geworden sind.
Älter wird man ja von allein. Für das Erwachsenwerden muss man etwas tun. Denn Weihnachten ist das Fest, wo die meisten Menschen mit ihrer Familie zusammen kommen und es sich zeigt, ob man im Zusammensein mit den Eltern schnell wieder zum Kind von damals wird – oder ob man inzwischen erwachsen geworden ist.
Doch was bedeutet „Erwachsensein“?
Meine Definition dazu ist:
Erwachsen sind wir, wenn wir abgelöst sind von unseren Eltern
und trotzdem Kontakt mit ihnen haben.
Dabei spielt die innere Ablösung immer eine größere Rolle als die äußere.
Doch sich von den Eltern abzulösen, ist gar nicht so einfach. Für beide Seiten. Denn wenn das jüngste Kind (Sohn oder Tochter) über zwanzig Jahre alt ist, realisieren auch die Eltern mehr oder weniger schmerzlich, dass sie jetzt deutlich älter geworden sind und die Elternphase unwiderruflich vorbei ist. Und dass man die Kinder ziehen lassen muss.
Ob und wie gut das Eltern können, hängt auch davon ab, wie das Elternpaar mittlerweile seine Beziehung erlebt. Und ob und wie beide die entstehende Lücke an Zeit, Raum und Sinn füllen können.
Haben sich die Eltern die letzten Jahre nur als „Vati“ und Mutti“ erlebt – anstatt auch als Paar – kann es sein, dass die Eltern das „Kind“ nicht loslassen wollen, um die sich ausbreitende Leere zwischen sich nicht so deutlich zu spüren.
Doch dieser Schritt ist wichtig. Jugendliche müssen sich von ihren Eltern lösen, damit sie intime Bindungen außerhalb der Familie eingehen können.
Die Aufgabe der Eltern besteht letztlich darin, den Jugendlichen zu befähigen, sie zu verlassen und sein eigenes Leben zu führen. Doch was im Tierreich seit Jahrmillionen gut klappt, ist bei Menschen – vielleicht wegen der vergleichsweise langen Kindheit – nicht so einfach.
„Muttersohn“ oder die „Vatertochter“ sind Beispiele, welche Folgen unbewusste Konflikte haben können, wenn diese Ablösung nicht als eine von der Evolution vorgesehene Entwicklung gesehen wird, sondern als Angriff auf die eigene Person.
Etliche Bücher und Filme haben dieses Thema behandelt (Loriot’s „Ödipussi“, „Meine Braut, ihr Vater und ich“, „Vater der Braut“). Auch mein Lieblingskomiker Dieter Nuhr kennt dieses Thema und berichtet hier, wie sich fehlendes Loslassen einer Mutter im Leben eines Mannes auswirken kann:
Sich von den Eltern abzulösen, ist nicht einfach. Es gibt zwei Wege, die Ablösung zu vermeiden:
Anpassung
Das sieht dann so aus, dass man als junger Mann oder Tochter es nicht eilig hat, von zu Hause auszuziehen. (Hier die neuesten Zahlen.) Denn es ist ja so bequem zu Hause bei Muttern. Das Essen im „Hotel Mama“ schmeckt und die Wäsche wird auch noch kostenlos gemacht. Der Vater kümmert sich um Finanzielles, den Versicherungskram oder die Winterreifen.
Oder dem jungen Paar, das eine Bleibe sucht, bieten die Eltern eine Wohnung im eigenen Haus an oder ein Nachbargrundstück, auf dem man ein Haus bauen kann.
Jeder hat einen Schlüssel zur Wohnung des anderen, im Urlaub gießt man gegenseitig die Blumen und auf das kleine Kind passt die Oma auf. Alle finden das furchtbar praktisch, doch die notwendige Ablösung wird so nicht gerade einfach.
Die Folgen zeigen sich oft in der Paarbeziehung, denn der Mann muss sich zwischen seiner Mutter und seiner Partnerin entscheiden (und die Frau zwischen ihrem Vater und ihrem Mann). Viele Schwiegermutter-Witze behandeln dieses Thema.
Ein weiterer Weg, die Ablösung zu vermeiden, ist die …
Rebellion
Um sich zu lösen, zieht man bereits im Beruf oder für das Studium mindestens 400 km weit weg, auch wenn nähere Städte ähnlich gute Studienbedingungen böten. Die Devise aber ist: „Nichts wie weg – so weit wie möglich.“Auch hat man eine gute Ausrede, wenn die Eltern am Telefon klagen, dass man sich so selten sieht: „Ich würde Euch ja auch gern öfter besuchen, aber 400 Kilometer ist halt schon sehr weit.“ Und man ist sicher, dass die Eltern auch nicht auf einen Sprung vorbeikommen.
Etwas älter geworden, zieht man als Paar noch weiter weg. Nach London oder nach Australien. Dort kann man endlich „frei atmen“ aber vor allem, die Eltern drohen einem nicht mehr mit überraschenden Wochenendbesuchen.Rebellion ist eine wichtige Phase – in der Pubertät.
Dort „muss“ der Jugendliche alles anders machen als die Eltern, um seine eigene Identität zu finden. In der Rebellion macht man von allem das Gegenteil. Hat der Vater kurze Haare, trägt man sie lang – und umgekehrt.
Doch Rebellion ist noch nichts Eigenes. Es ist Anpassung – mit umgekehrtem Vorzeichen und deshalb vorhersagbar – wie die Meinung der Opposition zu einem Vorschlag der Regierung. Und manche Menschen bleiben ein Leben lang in der Rebellion stecken.
Doch was hat das jetzt alles mit Weihnachten zu tun?
Nun, an Weihnachten kann sich zeigen, ob und wie Sie abgelöst sind. Das merken Sie vielleicht schon an den Festvorbereitungen.
Wie feiern Sie Weihnachten?
Schon wenn ein Paar zusammenfindet, muss es ja einen gemeinsamen Festverlauf finden, der für beide passt. Denn unweigerlich bringt jeder seine gewohnten Vorstellungen mit.
Liegen diese weit auseinander („Weihnachten ohne einen richtigen Christbaum ist für mich kein richtiges Weihnachten!“ versus „Ein Plastikbaum ist doch viel praktischer – und ökologischer“).
Jetzt muss man miteinander verhandeln und eine tragbare Lösung finden. Kommen jetzt die Eltern dazu und machen zu dem Thema Bemerkungen („Was? Ihr habt nicht mal einen richtigen Baum? Das ist bestimmt die Idee Deiner Frau!“) zeigt sich schnell an der Reaktion des Mannes, wie weit er abgelöst ist.
Sagt er zu seiner Frau: „Siehste, meine Eltern finden den Plastikbaum auch schrecklich“ bevorzugt er die Koalition mit den Eltern – und riskiert in den nächsten Stunden einen Streit mit seiner Frau, weil sie spürt, dass er ihr in den Rücken gefallen ist.
Sagt er: „Wir hatten unterschiedliche Vorstellungen und haben uns aber für diese Lösung entschieden“ sind die Eltern vermutlich etwas pikiert („Uns gefällt er ja nicht aber bitte, es ist Eure Entscheidung!“) Denn sie spüren instinktiv, dass der Sohn eine Grenze gezogen hat. Und zwar eine notwendige Grenze – um das Paar herum.
Wo feiern Sie Weihnachten?
Auch hier zeigt sich, wie erwachsen jeder der beiden Partner geworden ist.
Eine schlecht abgelöste Partnerin sagt vielleicht:
„Also, Weihnachten müssen wir zu meinen Eltern. Alles andere akzeptiert mein Vater nicht!“
Oder: „Am liebsten würde ich Heiligabend bei uns feiern und dass wir unsere Eltern an den Feiertagen besuchen.“ Darauf er: „Ich kann doch meine einsame Mutter Heiligabend nicht allein lassen.“
Verstehen Sie mich nicht falsch: natürlich ist es in Ordnung, die Wünsche aller Beteiligten zu berücksichtigen und zu versuchen, möglichst viele unter einen Hut zu bringen.
Wünsche, Erwartungen und Forderungen.
Das entscheidende Wort hier ist „Wünsche“ – nicht Erwartungen oder Forderungen.
Letztlich kommt es darauf an, ob es Ihr Weihnachtsfest, zu dem Sie Ihre Eltern einladen. Oder ob Sie Ihre Wünsche den Erwartungen der Eltern opfern, weil Sie befürchten, dass es sonst Enttäuschung, Missstimmung und Streit gibt.
Wünsche kann man ablehnen oder modifizieren. Mit Forderungen („Das ist doch nicht zuviel verlangt, nach all dem, was wir für dich/euch getan haben“) ist das schon schwieriger. Wenn man jetzt nicht genug abgelöst, scheint der Konflikt unlösbar und man muss sich entweder anpassen oder rebellieren.
Bei der Anpassung versucht man dann, es möglichst allen recht zu machen („Es ist ja schließlich Weihnachten!“) – zahlt aber einen Preis dafür. Entweder indem man sich zu sehr verausgabt und einem das ganze Fest keine Freude mehr macht.
Oder indem man unbewusst einen Streit heraufbeschwört, weil man mehr mit den Eltern des lieben Friedens willen paktiert und der Partner aber genau spürt, dass man der heimlichen oder offenen Koalition den Vorrang eingeräumt hat.
In Beziehungen geht es immer auch um Loyalitäten.
Finden sich Mann und Frau zu einem Paar, zu einer neuen Familie, zusammen, müssen sie, damit das Paar eine Zukunft hat, die Loyalität zur jeweiligen Herkunftsfamilie reduzieren. Diese Entscheidung ist nicht leicht – weshalb sie manche Menschen scheuen.
Bei der Rebellion versucht man, das Eigene dadurch zu finden, indem man sich den Erwartungen der Eltern verweigert oder entzieht. Wohnt das Paar sehr weit weg, scheint die Ablösung gelungen. („Unsere Eltern können ja nicht erwarten, dass wir nur wegen Weihnachten extra aus Neuseeland anreisen. Und die kommen aber auch nicht schnell mal vorbei!“)
Auch ein Abbruch der Beziehung („Zu meiner Mutter habe ich schon seit Jahren keinen Kontakt“) ist aus meiner Sicht keine Ablösung. Denn was man stark ablehnt, an das bleibt man auch gebunden.
Und es geht um das Thema „Getrenntheit“ und „Verbundenheit.
- Wie weit ist es mir möglich, mich in einer Beziehung auch als Individuum getrennt zu erleben (verbunden – nicht gebunden)?
- Muss ich mich von den Wünschen des Anderen ganz abtrennen, um meine Identität aufrecht zu erhalten („Mir doch egal, was Du willst.“)
- Oder muss ich den Wünschen des Anderen immer nachgeben, weil ich befürchte, dass der Andere mich sonst ablehnt und die Beziehung leidet? („Wenn es Dir gutgeht, geht’s mir auch gut.“)
Wie würden Sie am liebsten Weihnachten feiern?
Wenn diese Gedanken Ihnen Sinn machen, können Sie sich ganz konkret fragen:
- Wie würden Sie am liebsten Weihnachten begehen (ganz konkret: Feier, Essen, Geschenke usw.) wenn es nur nach Ihnen ginge?
- Welche Vorstellungen und Wünsche hat Ihr Partner?
- Was befürchten Sie, wenn Sie Ihr Weihnachten so feiern würden, wie es für Sie stimmt?
- Was sind die Konsequenzen, wenn Sie es nicht tun?
- Wie wäre es, wenn Sie das kommende Fest zum Anlass nehmen würden, sich – sofern notwendig – ein Stück ablösen?
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Diesen Artikel schrieb ich am 8.12.2007. Eine Lektorin des Kreuz-Verlags las ihn, rief mich an und daraus entstand mein erstes Buch. Herzlichen Dank nochmal, liebe Frau R. Ich veröffentliche ihn hier noch einmal, weil er, glaube ich, an Aktualität nicht verloren hat.
Wie feiern Sie Weihnachten?
Wie würden Sie gerne feiern?
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Diesen Beitrag veröffentliche ich immer mal wieder an Weihnachten.
Einfach weil er immer noch aktuell ist.
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