Zwei Arten, mit seinen Bedürfnissen umzugehen.

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Emotionale Intelligenz / Glück

Wann sollen wir unsere Bedürfnisse befriedigen und wann zufrieden sein mit dem, was wir haben?

Ein Gastbeitrag von Ingo Zacharias.

Stellen Sie sich vor, Sie sind seit 30 Jahren verheiratet. Da lernen Sie auf einmal einen Mann/eine Frau kennen, die in Ihnen erst starke sexuelle Gefühle und dann auch Liebesgefühle weckt. Sie sind immer noch in einer insgesamt guten Verbindung mit Ihrem Ehepartner und doch gehen Sie diesem neuen Verlangen nach und befinden sich schnell mit Ihrem neuen (und gleichaltrigen) Partner im „dritten Frühling“.

Recht schnell haben Sie ein schlechtes Gewissen gegenüber Ihrem Ehemann/Ihrer Ehefrau, doch zugleich erleben Sie, dass Ihre Gefühle stärker sind und Sie immer wieder die Zeit mit Ihrer neuen Liebe verbringen wollen – und es auch tun. Kurze Zeit später beichten Sie Ihrem Ehemann/Ihrer Ehefrau alles. Sie betonen, wie leid es Ihnen tut, wie es Sie selbst schmerzt, dass es so gekommen ist, aber Sie sagen auch, dass es Sie „einfach überkommen habe“ und dass Sie „nichts gegen die Gefühle tun konnten“.

Schwer vorstellbar? Vor allem nach 30 Ehejahren? Und doch:

  • Was empfinden Sie, wenn Sie sich dieses Szenario vorstellen? Sympathie? Verständnis?
  • Oder eher Ablehnung und Gedanken wie „Das kann man doch nicht tun“, „Da sollte man sich doch zusammenreißen können“?

In dem Film Wolke 9,der letzte Woche auf Arte gezeigt wurde, wird genau dieses Szenario dargestellt. Und die spannende Frage, die sich für mich dabei auftat, war:

„Wann ist es richtig, den eigenen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen nachzugehen und wann ist es richtig, diesen ‚inneren Sturm’ vorbeiziehen zu lassen und dann zufrieden mit dem weiter zu leben, was man schon hat?“

Dabei geht es mir nicht um ein moralisches „richtig“  oder „falsch“, sondern um ein inneres Erkennen, was ich brauche, um glücklich und zufrieden zu sein.

Wahrscheinlich unterscheiden wir als erstes, wie glücklich die Ehe in den 30 Jahren war. Hat der Ehepartner, der jetzt ‚fremdgeht’, unbewusst schon lange das Gefühl gehabt, dass er seine Wünsche zugunsten des anderen zurück hält oder sich nicht mehr in einer lebendigen Verbindung mit dem anderen sieht?

Unter diesen Umständen würden wir wohl viel eher Verständnis aufbringen und den Menschen vielleicht sogar in dem Drang, noch einmal „richtig zu leben“, unterstützen. Zugleich gäbe es die Möglichkeit zu schauen, inwieweit diese unerfüllten Bedürfnisse doch noch mit dem Ehepartner gelebt werden können.

Aber wenn, wie in diesem Szenario, insgesamt eine gute Verbindung auch jetzt noch da ist, was dann? Ist man dann schlicht „egoistisch“? Nur auf sich und seine Bedürfnisbefriedigung fixiert?

Selbst wenn Sie diese Unterscheidung teilen, bleiben doch Fragen wie:
–    Wo ziehe ich für mich die Grenze zwischen einer glücklichen und einer unglücklichen Beziehung?
–    Wo ist der Übergang zwischen dem Gefühl „Ich bin bisher zu kurz gekommen“/„Ich will noch etwas anderes“ und „Es ist gut so, wie es ist“?

Unsere Vorstellung von Glück bestimmt unsere Bewertung der Situation.

Für mich handelt es sich dabei um ein höchst subjektives Erleben, das maßgeblich davon beeinflusst wird, wie ich mir vorstelle, glücklich sein zu können. Die (vereinfachende) Gegenüberstellung von einem „weltlichem“ und einem „spirituellem“ Leben zeigt dabei zwei grundsätzlich verschiedene Betrachtungsweisen auf:

Unter einem „weltlichen Leben“ verstehe ich ein Leben,
–    das Zufriedenheit und Glück über die Befriedigung eigener Wünsche und Bedürfnisse herzustellen versucht
–    das nur äußere Objekte wie ein Auto, ein eigenes Haus, Erfolg im Beruf, ein gutes Essen, den richtigen Partner oder auch einen gesunden Körper als Mittel kennt, um Wohlbefinden zu erleben

Nahezu ein Idealbild für ein „easy living“ auf der rein weltlichen Ebene finden Sie hier in dem Video der Country-Rock-Gruppe „Kid Rock“:
httpv://www.youtube.com/watch?v=pS2cEb_JbOc

Unter einem „spirituellen Leben“ verstehe ich,
–    die Erkenntnis, dass uns äußere Dinge nie dauerhaft zufrieden stellen können, weil sie nicht von Dauer sind und wir nicht wissen, wann sie sich wie verändern oder auflösen
–    ein Leben in heiterer Gelassenheit mit dem, was schon da ist, verbunden mit einem Tun, dass Dinge und Umstände verändern und verbessern will, ohne aber darin sein „Seelenheil“ zu suchen

Hier ein Video mit dem Zen-Mönch Thich Nhat Hanh, der sich einerseits immer sehr in der Welt engagiert hat und doch immer wieder die zentrale Bedeutung eines inneren Erlebens von „Ich bin innerlich schon angekommen“ betont:
httpv://www.youtube.com/watch?v=QdO1vZJgUu0&

Je mehr ich mich der weltlichen Perspektive nahe fühle, desto eher werde ich versuchen, eigene Bedürfnisimpulse auch zu befriedigen. Und umgekehrt werde ich aus der spirituellen Perspektive eher versuchen zu erkennen, dass auch dieses äußere Objekt mir nicht wirklich eine Gestilltheit des Herzens bringen kann, nach der ich mich so sehne.

Jeder Mensch hat einen ganz einzigartigen Selbstausdruck.

Aber selbst wenn ich in Kontakt mit dieser spirituellen Sichtweise bin, bin ich doch ein einzigartiges Individuum mit ganz eigenen Stärken und  Fähigkeiten, einer eigenen Geschichte, und von da her auch mit ganz eigenen, oft nicht gelebten Bedürfnissen. Und das auch noch mit verschiedenen Schwerpunkten im Laufe meines Lebens.

Selbst ein Mensch, der sich in jungen Jahren entschieden hat, Mönch oder Nonne zu werden, führt dann zwar ganz explizit ein spirituelles Leben, hat diese Entscheidung aber getroffen, weil er damit einem inneren Bedürfnis folgt. In diesem Sinne war dieser Mensch auch „egoistisch“ und hat dafür vielleicht sogar seinen Partner oder seine Familie verlassen.

Für sich selbst einstehen und lassen können

Ich versuche immer wieder ganz bewusst zu erkennen, dass ich durch etwas außerhalb von mir nie einen grundsätzlichen Frieden in meinem Inneren finden kann, und doch gibt es da in mir dieses natürliche Streben nach einem authentischen Selbstausdruck meines Wesens.

Oder wie es heute oft heißt: nach Selbstverwirklichung. Und das ist prinzipiell überhaupt nicht egoistisch. Zugleich ist die Gefahr groß, in einer oberflächlichen „Selbstbefriedigung“ in Form von Erfolg, Anerkennung und Geld stecken zu bleiben.

So bleibt eine Antwort auf die Eingangsfrage dieses Artikels immer eine ganz persönliche. Selbst wenn es uns gelingt, weitgehend frei von gesellschaftlichen Normen und Zwängen an diese Frage heranzugehen, ist es für mich eine große, unsere ganze Selbstverantwortung fordernde Lebenskunst, für sich selbst einzustehen und zu handeln und von sich und seinen Bedürfnissen lassen zu können.

kommentarWie empfinden Sie bei dem geschilderten Szenario?

Wann ist es Ihnen wichtig, eigene Bedürfnisse auch zu leben?

Und wo können Sie davon lassen – aus Einsicht oder „nur“ aus Vernunft?

Schreiben Sie doch Ihre Erfahrungen hier als Kommentar.

Mehr interessante Artikel von Ingo Zacharias lesen Sie auf seinem Blog.

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Foto: © ARTE

Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.

11 Kommentare

  1. Doris sagt

    Das war jetzt mal ein Artikel, der mir im Zusammenhang „unerfüllter Bedürfnisse“ endlich weiter geholfen hat!
    Ganz herzlichen Dank!
    Ich bin sehr nachdenklich geworden, weil diese Unterscheidung in weltlich und spirituell tatsächlich der Schlüssel ist, der für mich passt!

  2. Enis San sagt

    Ich danke für Ihren Beitrag.
    Ich teile ihre und kommentierte Inhalte und teile sie nicht.

    Ist es nicht so, dass man sich an alles gewöhnen kann? Demnach würde man auch bei einem neuen Partner alle Witze, alle Arten, alle Macken und Gerüche kennen. Was hat man dann gewonnen? Einen Neubeginn? Nochmal von vorne nur etwas anders? Verliert man damit nicht auch Zeit? Ist es eine Flucht vor der Herausforderung gewaltfrei zu kommunizieren, Bedürfnisse erkennen und bitten? – Rosenberg. Ich bin 26 Jahre und habe keine Ahnung was richtig oder falsch ist. Ich bin nackt auf die Welt gekommen und werde auch wieder nackt gehen. Entscheidend ist für mich, dass es weiter geht. Größer werden. Breite annehmen. Meine Überschrift ist: Mit wem ist das möglich?

    Viele Grüße

  3. Lieber Herr Sikor,

    für mich klingt gerade Ihre Beschreibung einer Liebesbeziehung, die „über mich selbst (weit) hinaus geht“, nach einer spirituellen Erfahrung. Unser Erleben ist dabei eben nicht mehr nur „ich-zentriert“ und es geht nicht einfach um die Befriedigung „meiner“ Bedürfnisse.

    Ich finde die Unterscheidung, ob ich nach außen schaue, um glücklich zu sein oder nach innen, sehr hilfreich. Aber selbst mit der Sicht, dass Zufriedenheit letztlich nur in mir zu finden ist, bin ich immer noch in einem Spannungsfeld, denn das Außen, ob privat oder beruflich, trägt nicht unerheblich zu meiner Zufriedenheit bei.

    Die Frage ist: Handle ich in einer schwierigen Situation aus einem Gefühl des Mangels oder aus einem natürlichen Gefühl der Stimmigkeit für mein Leben, indem ich bspw. meinen Partner verlasse?

    Meine Erfahrung ist, dass je weniger ich eine „full, joyful ownership of all needs“ (Miki Kashtan) habe, ich aus einem Gefühl des Mangels heraus handeln werde. In dieses Gefühl müssen wir fast alle hineinwachsen, um authentisch und erwachsen zu leben.

    Und zugleich ist meine Erfahrung, dass wir uns auch gehörig selbst täuschen können und unser Leben lang – oft sehr subtil – in diesem Mangelgefühl stecken bleiben und der Erfüllung unserer Bedürfnisse nachjagen, ohne dass wir wirklich zu der Herzensruhe zu finden, nach der wir in dieser Jagd eigentlich streben.

    Herzlichen Dank für Ihren persönlichen Kommentar.

  4. @Markus Sikor

    Verena Kast hat es mal sehr schön ausgedrückt in ihrem Buch Trauern: Jeder Mensch liebt etwas anderes aus uns heraus:
    Jeder Freund, jedes Kind… und auch jeder (neue) Partner bzw. Partnerin. Das macht die Sache nicht einfacher.
    U.a. deshalb sind wir auch, bewusst oder unbewusst, traurig, wenn wir eine neue Partnerschaft eingehen. Wir leben etwas Neues, anderes mit dem neuen Partner, aber wir verlieren auch etwas Vertrautes, was wir nur mit diesem Menschen gelebt haben.

    Was „Sich neu verlieben angeht“ bzw. Partnerwahl, fand ich es in einer Trennungsüberlegungssituation sehr hiflreich, mehr über die Zusammenhänge von Partnerwahl und Projektionen zu wissen. C.G. Jung lässt grüßen. Mir machte es aber klar,dass das, was mich an einem ’neuen‘ Partner anzieht ’nur‘ einen Teil meiner Persönlichkeit widerspiegelt, den ICH bisher nicht wagte zu leben.

    Dieses Mehr an Selbst-Kenntnis, war sehr hilfreich bei der Entscheidung, ob es tatsächlich dran ist, den Preis der Trennung zu zahlen oder nicht. Nach innen gehen half. Mir. Das war/ist MEINE Art mit den Herausforderungen des Lebens (und Liebens) klar zu kommmen.

    Meine (Coaching)Haltung ist dennoch: Es gibt kein richtig und falsch. Andere gehen andere Wege oder machen von außen betrachtet unmögliche Um-Wege. Die muss der- oder diejenige dann wohl machen, um auf seine/ihre Weise zu lernen, zu wachsen, zu reifen, zu lieben.

    Adventliche Grüße
    Maria Ast

  5. Markus Sikor sagt

    Ein anregender Artikel, vielen Dank, Herr Zacharias.
    Er regt mich vor allem zu Widerspruch an. Mir ist die Unterscheidung von „weltlichen“ und „spirituellen“ Bedürfnissen zu vereinfacht, nicht nachvollziehbar und vor allem nicht hilfreich, um Menschen zu unterstützen, die bspw. in der anfangs beschriebenen Situation stecken.
    Das bringt mich dann zu meiner skeptischen Frage, aus welcher Erfahrung heraus Sie dies schreiben, ob Sie bspw. einmal vor einer solchen Situation standen?
    Ich schon, und meine derzeitige Schlussfolgerung ist, dass die spirituelle Einsicht, dass „wahres Glück nur innen zu finden ist“ (der ich prinzipiell zustimme), in Bezug auf Partnerschaft, Liebesbeziehungen etc. nur SEHR begrenzt hilfreich ist. Die Tatsache, dass jeder Mensch einzigartig ist, bedeutet auch, dass jede Beziehung einzigartig ist, bzw. als einzigartig wahrgenommen und empfunden wird. In einer (Liebes-)Beziehung entsteht etwas, das über mich selbst (weit) hinaus geht, das ich nicht alleine „machen“ und deswegen auch nicht nur „in mir“ finden kann (und das „Verlieben“ ist der erste berauschende Geschmack davon).
    Und Mönche/Nonnen (oder andere), die das noch nie erlebt haben – haben es eben noch nie erlebt. Punkt.
    Mit angeregten Grüßen
    Markus Sikor

  6. Liebe Frau Ast,
    stimmt, ein spannendes Thema. Aber jetzt verstehe ich besser Ihren sowohl-als-auch-Ansatz. Das ist ja auch das Dilemma, das in modernen Partnerschaften zu lösen ist, wo die einstmals festgefügten Rollen nicht mehr einem vorschreiben, was man zu tun und zu lassen hat: man muss fast alles miteinander verhandeln.

    Danke für Ihr neuerliches Engagement auf diesem Blog.

  7. Hallo Herr Kopp-Wichmann,
    Ihre Anmerkung zu „Größtmögliche Verbundenheit bei größtmöglicher Freiheit“.
    Nee, Ihre Skepsis in allen Ehren. Ich treffe viele (starke) Frauen, die lange Zeit in Partnerschaft leben und ‚Größtmögliche Verbundenheit bei kleinstmöglicher Freiheit‘ praktizieren: aus Verlustängsten heraus, aus angelerntem Verhalten heraus, aus immer noch gesellschaftlicher Erwartung heraus (die Frauen können sich doch sooooo gut anpassen…) nehmen sich diese Frauen nicht die Freiheit, auch ein ICH zu leben (wobei manch Eine, wie jemand ja schon schrieb, erst mal ein eigenes ICH entwickeln muss). Da kommt das WIR vor dem ICH. Immer. Bis es knallt. Von welcher Seite auch immer. Ich stimme da mit Hans Jellouschek, Paartherpeut, überein: die meisten Partnerschaften zerbrechen am zu vielen Zusammenkleben, ersticken am zu vielen WIR, gehen in gemeinsamer Harmoniesoße unter – und nicht an zu viel gelebter eigener Freiheit.
    Größtmögliche Freiheit heißt für mich, welche Bedürfnisse ich bewusst und entschieden und VERBINDLICH für diese Beziehung bereit bin, hintenan zu stellen.
    Und zu wissen, wo die Grenze ist zwischen: Ich bleibe DIR treu – und ich bleibe MIR treu.
    Größtmögliche Verbundenheit, das wollen wir doch alle – oder? Nur nicht mehr um den Preis der Selbstaufgabe.

    Ein spannendes Thema, über das ich noch ellenlang schreiben könnte, da es – fast – in jedem Coaching an irgendeinem PUnkt dann doch Thema ist.
    Herzliche Grüße
    Maria Ast

  8. Liebe Frau Ast,
    „Größtmögliche Verbundenheit bei größtmöglicher Freiheit“ – ich bin skeptisch, ob das geht. Das ist ja wie höchste Qualität zum niedrigsten Preis.

    Aber bei Ihren weiteren Ausführungen stimme ich Ihnen voll zu. Das Mehr an Freiheit mit dem Wegfall an verbindlichen Normen kann nur als Zugewinn erlebt werden, wenn ich in der Lage bin, mir ein eigenes Wertegerüst zu schaffen.

    Und Liebe, das Leben sowieso ist äußerst komplex. Und dann noch das eigene Innenleben zu. Das wäre wirklich ein notwendiges Schulpflichtfach.

    Danke für Ihren schönen Beitrag.

  9. Größtmögliche Verbundenheit bei größtmöglicher Freiheit, das ist in etwa das, wo ich – zur Zeit – stehe, wenn es um Partnerschaft geht.
    Dies ist allerdings kein feststehend ‚Ding‘: Das will immer und immer wieder angepasst und abgesprochen, um nicht zu sagen ausgehandelt sein. Ohne Dialog, ohne Kommunikation miteinander, wird dieser Zustand wohl nicht zu halten sein.
    Und Voraussetzung für so einen Dialog ist, dass mann/frau sich selbst kennt.
    Allerdings, wer weiß als Ottonormalliebender schon um die Auswirkungen von Projektionen, Delegationen, Schattenanteilen, die wir flugs dem anderen aufs Auge drücken?
    Und wer ist bereit, sich der Mühe zu unterziehen, seine eigenen Anteile zu untersuchen, wenn er/sie verlassen wurde oder verlassen hat?

    Früher gab Religion zumindest eine Vorgabe, einen Rahmen: Du sollst nicht ehebrechen. Da HATTE Mensch zumindest einen vorgegebenen Rahmen, was ‚gut und richtig‘ und soziale ‚Sicherheit‘ versprach. Den konnte ich doof finden oder ihn einhalten. Heute irren die meisten doch durch ein uferloses Universum der Liebe, das jede/r für sich SELBST definieren MUSS, ob er/sie sich dessen bewusst ist oder nicht. Da nimmt man eben Zeitschriften und Filme wie z.B. Die Wolke zum „Vorbild“, zum (Orientierungs)Rahmen, statt eine eigene Vorstellung zu entwicklen.

    Staat, Schule, Wirtschaft, Wissenschaft alle bilden fort. Liebe(n) und Herzensbildung ist nicht Teil des Lehrplans. Ich bin jedenfalls dafür, dass ab sofort Selbst- und Liebes-Bildung auf keinem Stundenplan mehr fehlt. Das würde m.E. schon zu erheblich weniger Leid und Schmerz führen, wenn es um das Thema Liebe und gelingende Partnerschaft geht.

    Und: Liebe/Lieben sind KOMPLEXE Gebilde. Viele wollen EINFACHE = bequeme Antworten. Das ist verständlich, aber unrealistisch.
    Sich informieren, sich (selbst) bilden, auch was Liebe/Partnerschaft angeht, diese Mühe muss mann/frau m.E. schon auf sich nehmen. Reichlich Material dazu finden Sie ja z.B. in diesem Blog.

    Herzlichen Dank für diesen Gastbeitrag.
    Maria Ast

  10. Liebe Frau Albrecht,
    auch mir gefällt der Gastartikel und Ihre persönlichen Erfahrungen dazu. Dennoch will ich eines anmerken. Um die „weltlichen“ Bedürfnisse zu überwinden oder beiseite schieben zu können, muss man sie in der Regel erst mal eine ganze Weile gehabt und ausgekostet haben.

    Bei einigen Pilgern auf dem „spirituellen“ Weg beobachte ich, dass Sie versuchen, diesen Schritt zu überspringen. Ganz nach dem Motto: Wenn es sowieso mehr um die Überwindung der weltlichen Bedürfnisse geht, kann ich sie ja gleich aussparen.

    Doch meist geht das in die Hose (vor allem bei sexuellen Bedürfnissen). Das Bedürfnis wird nicht transzendiert, sondern verdrängt. Chögyam Trungpa nannte dies „spirituellen Materialismus“.

    So ist es ja auch mit der oft angestrebten Überwindung des Ichs. Auch dazu braucht man erst mal ein stabiles Ich. Es ist leicht, den Segen der Armut zu predigen, wenn man nie reich war und all seine Güter verschenkte.

  11. Hallo Herr Kopp-Wichmann,
    Danke für diesen Artikel. 🙂
    Ich bin seit 2003 ein Anhänger der Gewaltfreien Kommunikation. Über das Thema, das Herr Zacharias behandelt, habe ich unter anderer „Überschrift“ auch schon nachgedacht: in einem Buch las ich mal, dass man „total egoistisch“ sein soll. Das bedeutet Folgendes: Wenn ich total egoistisch bin, befriedige ich nicht unbedingt meine aktuellen Bedürfnisse (nach sexueller Erfüllung, nach Bestätigung usw.), weil dadurch noch wichtigere Bedürfnisse in Mangel geraten könnten: Zugehörigkeit, Liebe, Sicherheit, Vertrauen usw. Wenn ich eine gute langjährige Beziehung führe und verliebe mich plötzlich, dann geschieht dies ja nur, weil ich einen Hormon-Flash habe, vielleicht einen emotionalen oder sexuellen Rausch. Die neue Liebe ist irgendwann nicht mehr neu, die Verliebtheit und der Hormon-Flash lassen nach, und dann kommt das Erwachen – und oft auch das Bedauern. Wenn ich das vorher weiß und die eigene hormonell bedingte Verliebtheit mit Abstand betrachte, dann kann sie mich nicht mehr so mitreißen. Es ist wie eine Grippe, von der ich weiß, dass sie mich nicht umbringt, auch wenn es sich zwei Tage lang so anfühlen kann.

    Total egoistisch zu sein, heißt, alle Bedürfnisse im Blick zu haben: ja, ich finde den neuen Typen gerade schnuckelig, aber ich weiß, dass er mir gerade mein Signifikanz-Bedürfnis erfüllt: er himmelt mich an, und vor allem – er ist NEU. Das ist eigentlich der ganze Reiz. Wenn ich über den Reiz des Neuen hinwegsehen kann, dann sinkt die Gefahr, mich ihm hinzugeben.

    Ich bin seit 13 Jahren glücklich verheiratet, und finde natürlich trotzdem manchmal jemand anderen „lecker“, oder habe das Bedürfnis, angeschmachtet zu werden. Aber ich gebe dem nicht nach. Ich bin einfach zu egoistisch, um mich temporären Trieben hinzugeben. 🙂

    Wie es ist, wenn man in der Beziehng UNglücklich ist, kann ich nicht beurteilen – an diesen Zustand erinnere ich mich nicht mehr. :-DD

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