Früher gab es auf der Kirmes ein Spiel, das hieß „Enten angeln“. Mit einem Angelhaken an einem Stock konnte man Enten, die in einem Bottich mit strömenden Wasser vorbei schwammen, versuchen herauszufischen.
An dieses Spiel für Kinder erinnerte ich mich, als ich darüber nachdachte, warum für viele Menschen Loslassen schwierig ist. Über das Thema hatte ich vor drei Jahren schon mal einen Artikel geschrieben.
Genau betrachtet müssen wir ja täglich loslassen.
Den Tag, wenn wir abends einschlafen.
Die Mahlzeit nach dem Espresso.
Das spannende Buch, das wir gerade zu Ende gelesen haben.
Den guten Freund, der wegzieht.
Okay, das klappt ja meist noch ganz gut. Aber warum halten wir an anderen Dingen fest, obwohl wir wissen, dass wir sie nicht festhalten können? Obwohl wir ahnen, dass wir durch das Festhalten auch langsam etwas verlieren.
- Beim Ausmisten der Wohnung ihrer Mutter entdeckt die Tochter fünfzehn teure Parfümflakons, die sie und ihre Schwester ihr über die Jahre geschenkt hatten. Ungeöffnet.
- Jeden Mittwoch und Samstag muss ein Sohn genau um 18 Uhr seinen Vater anrufen. Ihm graust vor den langweiligen Pflichtterminen – aber er gerät ins Schwitzen, wenn er es mal nicht auf die Minute schafft, sich zu melden. Der Sohn ist 46 Jahre alt.
- Ein Paar, das gerade zusammen gezogen ist, kommt schon in die dritte Paarsitzung, weil sie sich nicht einigen können, welche Farbe die neue Küche haben soll und ob Vorhänge spießig oder praktisch und schön sind.
In allen drei Beispielen geht es ums Festhalten und die Weigerung, loszulassen. Den Zauber des Neuen und Unversehrten. Den eigenen Sohn. Die jeweiligen Vorstellungen.
Festhalten scheint dem Betreffenden völlig normal, angemessen vernünftig – und einfacher. Aber meist geht es dabei mehr um das Regulieren von Ängsten.
Loslassen scheint schwierig, denn es braucht dazu einiges.
Loslassen braucht Vertrauen.
Wer etwas loslassen kann, bekommt die Hände frei.
Dass tun wir umso leichter, wenn wir darauf vertrauen, dass schon wieder etwas auftauchen wird, wo wir zugreifen können.
Dass wenn wir loslassen, etwas Neues kommen wird. Nicht dasselbe. Nicht immer etwas Besseres – aber etwas Neues. Und das Vertrauen, das wir immer etwas Neues lernen können.
Loslassen braucht Einsicht.
Dass alles sich verändert. Dass der schöne Blumenstrauß verwelken wird. Weil das der Preis für seine Lebendigkeit ist. Und ein Plastikstrauß zwar nicht welkt, aber auch nicht lebt.
Einsicht, dass das Leben weitergeht – auch wenn wir versuchen, etwas festzuhalten. Folgen wir dem nicht, wird uns oft das genommen, was wir zu halten suchen.
Loslassen braucht Respekt.
Manchmal müssen wir uns auch von etwas trennen, was uns nicht gut tut. Das können ungute Gewohnheiten sein oder Umstände, die uns schaden. Manchmal sind es auch Menschen, die uns schlecht behandeln.
Als Supervisor in einem Frauenhaus war ich immer wieder erschüttert, dass die meisten Frauen wieder zu ihren prügelnden, versoffenen Männern zurückkehrten. Bis mir einmal eine Frau im Gespräch verriet: „Ich denke, ich verdiene nichts Besseres im Leben als diesen Mann.“
Genau das war es, der mangelnde Respekt. Nicht nur des Mannes gegenüber seiner Partnerin. Auch der fehlende Respekt von ihr für sich selbst.
Loslassen braucht Verzicht.
Menschen be-schweren ihr Leben mit unerfüllbaren Forderungen oder hadern mit Menschen und Umständen. Warum werde ausgerechnet ich krank, verlassen oder benachteiligt? In den gegenwärtigen Streikdrohungen zweier Gewerkschaften kann man das Festhalten an gewohnten Privilegien beobachten.
Doch unangemessenes Festhalten birgt immer die Gefahr, dass die Gegenseite zähneknirschend ihre Forderungen loslassen – aber insgeheim schon Auswege aus dieser einseitigen Abhängigkeit sucht.
Verzicht – obwohl einem eventuell von Rechts wegen etwas zusteht – ist eine Zeichen von Reife. Also etwas ab- oder niederlegen zu können ohne das als Niederlage zu erleben.
Loslassen braucht Mut – statt Wut.
Manchmal muss und soll man kämpfen. Sich wehren gegen Entwicklungen, Umstände oder Menschen. Aber immer gibt es einen Punkt, wo man merkt, dass das Kämpfen nichts ändert. Dass man nicht gewinnen wird.
Dann wird aus dem möglichen Kompromiss, den man nicht will, ein endloser Kampf, bei dem alle verlieren. Rosenkriege zwischen geschiedenen Partnern um das Sorgerecht für die Kinder sind ein trauriges Beispiel. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ein anderes.
Wut – meist mit dem Pochen auf vermeintliche Rechte – überdeckt hier die Hilflosigkeit auf beiden Seiten. Und verhindert, dass man vernünftig miteinander reden kann.
Da hilft es, die vermeintliche Opferposition aufzugeben und zu erkennen, dass beide Parteien Täter sind. Und die Einsicht: Was man nicht loslassen kann, lässt einen nicht los.
Loslassen braucht Trauer.
Wenn man dem erwachsenen Sohn hilft, seine erste Studentenbude einzurichten und sich nach getaner Arbeit die Wohnungstür hinter einem schließt, können einem Tränen in den Augen stehen.
Denn es ist ein Abschied, ein loslassen.
Etwas nicht zu Wiederholendes ist zu Ende gegangen. Eine besondere Zeit, die anstrengend und schön war. Vater oder Mutter sein. Man bleibt es auch weiter aber nie wieder so, als das Kind zu Hause lebte und wir täglich Anteil nahmen.
Vorbei. Erst einmal Leere. Und hoffentlich Trauer und kein schneller Trost als wäre gerade nichts Entscheidendes passiert.
[tweetable] Die Tränen sind wichtig, denn Trauern macht frei. Festhalten bindet – beide.[/tweetable]
Und was hat das mit Enten zu tun?
Eine ganze Menge. [tweetable] Beim Festhalten glauben wir, dass nichts Besseres nachkommt.[/tweetable] Dass wir diesen schönen Moment, diese beglückende Erfahrung, diese wertvolle Zeit festhalten müssen. Weil sie unwiederbringlich ist.
Letzteres mag stimmen.
Wir dürfen aber hoffen, dass immer eine neue Ente vorbei schwimmt. Nicht dieselbe, eine andere.
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Wie geht es Ihnen mit dem Loslassen?
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Bild: © www.cartoon4you.de