„Fast die Hälfte der Eltern heute schlägt noch ihre Kinder.“

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geschlagen werden

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Geschlagen werden als Kind passiert immer noch viel zu oft.

Das ist das erschreckende Fazit einer Studie, die 2011 von der Zeitschrift ELTERN gemacht wurde.

Zufällig las ich die letzten Tage das Buch „Die geprügelte Nation – Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen“. Schon das Inhaltsverzeichnis schickte mich auf eine innere Zeitreise (ich bin Jahrgang 1948):

  • Schundhefte und Teppichfransen
  • Russische Eier und Toast Hawai
  • Persianer, Nierentisch und Caterina Valente
  • Kochlöffel, Rohrstock und Tatzen

Später Geborene können mit diesen Begriffen wohl wenig anfangen. Aber für „Nachkriegskinder“ (was für ein Wort) symbolisieren sie trefflich jene Zeit vor fünfzig, sechzig Jahren, zu der man sich zum Fernsehen noch beim Nachbarn traf, weil der einen hatte. Eine Zeit, in der Ordnung, Fleiß und keine Widerworte die Grundwerte der Erziehung waren.

geschlagen werden,

Und in der Prügel zuhause und in der Schule normal waren.

Ich erinnere mich, dass im Klassenzimmer meiner Volksschule rechts in der Ecke immer ein langer Stock stand, von dem der Klassenlehrer bei größeren „Vergehen“ öfters gebraucht machte.

Für kleinere Fehler (Heft vergessen, Schwätzen, Zu-Spät-Kommen etc.) gab es Tatzen. Mit einem Bambusstock, der etwa einen halben Meter lang war, schlug der Lehrer auf die ausgestreckten Finger. Zuckte man aus Angst zurück, gab es die doppelte Anzahl.

Beim Lesen des Buches fiel mir auf, dass ich das zuhause nie erzählt hatte. Natürlich wurde dies auch auf keinem Elternabend thematisiert. Einfach, weil es völlig normal war. Und weil viele Eltern dieselbe „Erziehungspraxis“ ausübten.

In meinen Persönlichkeitsseminaren und in Therapiesitzungen taucht das Thema öfters auf. Auf diesem Blog steht der entsprechende Artikel „Welche Folgen hat es, als Kind geschlagen worden zu sein“ unter den meistgelesenen an zweiter Stelle. Bei den Kommentaren an erster Stelle.

Was waren die Gründe für das geschlagen werden?

Im Buch zitiert die Autorin die amerikanische Psychologin und Bindungsforscherin Patricia Crittenden. Sie hat über viele Jahre über Gewalt in Familien geforscht und vertritt die These: Sie taten es aus Liebe – und Angst.

„Sie hatten die Vorstellung, dass, wenn ihr Kind etwas falsch macht, es sich verletzen könnte dies schlimme Konsequenzen nach sich zieht. Deshalb strafen Eltern ihr Kind, damit es lernt, sich richtig und damit sicherer zu  verhalten. Je gefährlicher die Situation ist, in der sich die Kinder aus Sicht der Eltern befinden, desto härter und häufiger fallen die körperlichen Züchtigungen aus.“ (S. 133)

Das klingt für die Generation meiner Eltern (Jahrgang 1920) plausibel. Im 2. Weltkrieg und im „Dritten Reich“ durfte man keinen Fehler begehen.  Aufzufallen, zu widersprechen oder sich nicht benehmen zu können konnte verheerende Folgen haben.

Eine weitere Erklärung ist die Traumatisierung dieser Eltern durch die Kriegszeit. Heute werden Soldaten aus Afghanistan schnell abgezogen und bekommen psychologische Betreuung, wenn der Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung besteht.

Zur Zeit des Ersten Weltkriegs sprach man von „bomb-shell disease“; in Deutschland wurden PTBS-Patienten damals als „Kriegszitterer“ bezeichnet. Denn „Flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“ – so wollte Adolf Hitler in seiner Rede vom 14. September 1935 vor 50.000 Jungen die Hitler-Jugend haben.

Dass aufgeweckte Kinder einen zur Weißglut treiben können, weiß jeder ehrliche Elternteil. Um dann die eigene Wut innerlich regulieren zu können, braucht es Reife und ein seelisches Gleichgewicht, bei dem man sich durch das aufmüpfige Kind nicht gleich hilflos oder überwältigt fühlt.

Diese seelische Ausgeglichenheit hatten wohl viele Eltern, die mit Heimatverlust, Existenzangst und Aufbauen eines neuen Lebens voll ausgelastet waren, oft nicht.

Kinder sollten durch geschlagen werden das Bravsein lernen.

Und das wurde ihnen mit Drohungen und Strafen eingebleut. Die Liste ist lang: Ohrfeigen, Backpfeifen, Kopfnüsse, Ohren lang ziehen, Karzer, Tatzen, Rohrstock, Teppichklopfer, Gürtel, Ruten usw. waren die Hilfsmittel.

Doch prügelnde Lehrer gibt es auf der ganzen Welt. Noch heute sind in 88 Ländern dieser Welt (es gibt ca. 200) Schläge an Schulen ausdrücklich erlaubt. Laut Unicef haben nur 102 Staaten körperliche Disziplinierungsmaßnahmen ausdrücklich verboten.

In fast der Hälfte der US-Staaten dürfen Lehrer ihre Kinder schlagen. Einer neuen Studien zufolge in etwa 200.000 Fällen jährlich, meist in den Südstaaten, und dort vor allem schwarze Kinder.

In der ehemaligen DDR war es anders. Dort versuchte man sozialistische Erziehungsstandards zu setzen, die auf Gewalt gegenüber Kinder verzichten und statt dessen auf die Kraft von Autorität und Zuneigung beruhen. Schon 1949, also lange vor der BRD, wurden in der späteren DDR Prügel an Schulen offiziell verboten.

Genauso schlimm ist es, wenn ein Kind mitbekommt, dass ein Geschwister Prügel bezieht oder ein Vater die Mutter misshandelt (der umgekehrte Fall ist seltener). Neben der Angst, dass es das gleiche Schicksal erfahren könnte fühlt sich das Kind in der Folgezeit oft schuldig, weil es verschont wurde oder weil es der Mutter nicht beistehen konnte.

Wann hört das geschlagen werden auf?

Meistens dann, wenn Kinder in die Pubertät kommen. Dann fühlen sie sich auf einmal kräftig genug – und sind es meist auch – um dem schlagenden Elternteil Einhalt zu gebieten. Das ist schon mal gut aber die Störung in der Beziehung bleibt natürlich. Es ist ein Waffenstillstand, kein Friede.

Die 68er-Bewegung veränderte derlei Erziehungspraktiken auf breiter Front. Man wollte weg von der bürgerlichen Kleinfamilie, in Wohngemeinschaften wurden neue Lebensformen ausprobiert und überlieferte Erziehungsmodelle in Frage gestellt.

Die Schule Summerhill diente vielen als Blaupause für eine bessere Kindheit. In Alice Miller fanden viele eine streitbare Stimme, die ihr bis dato stumm ertragenes Leid in Worte fasste und nachempfand. In neu gegründeten „Kinderläden“ wurden Verbote über Bord geworfen, Eltern erlaubten ihren Kindern fast alles – bis an die Grenze der eigenen Geduld. Kochlöffel dienten wieder ihrer eigentlichen Bestimmung.

Aus heutiger Sicht erscheint manches überzogen, doch war diese Gegenbewegung ins andere Extrem sicher nötig. Am wichtigsten war vielleicht, dass man sich überhaupt Gedanken machte, wie eine kindgerechte Erziehung aussehen könnte und sich mit anderen austauschte.

Und welche Erziehungsregeln gelten heute?

Fast als Reaktion auf das „Laizzer-Faire“ der 68er-Generation fand im Jahr 2006 das Buch von Bernhard Bueb „Lob der Disziplin“ eine breite Resonanz. Gegen die puddingweiche Pädagogik setzt er auf die „vorbehaltlose Anerkennung von Autorität und Disziplin“.

Anfang 2011 sorgte das Buch der amerikanischen Jura-Professorin Amy Chua für hohe Wellen der Aufmerksamkeit – auch auf diesem Blog. Ihre Tochter  Sophia konnte das Alphabet mit 18 Monaten, als sie drei Jahre war, las sie Sartre. Das schafft man natürlich nur mit Erziehungsregeln wie „Sei streng mit Deinen Kindern, verlange alles, bestrafe sie und lasse keinen Schlendrian zu.“

Wenn das nichts hilft, wurden von der „Tigermutter“ schon mal die Stofftiere verbrannt oder die Kinder als „wertloser Müll“ beschimpft. Das kommt meinen Lesern, die in den 50er und 60er Jahren aufgewachsen sind, vermutlich ziemlich bekannt vor.

Eine andere Sicht von Erziehung finden Sie in diesen Interviews mit Jesper Juul und Jan-Uwe-Rogge.

Die Zeitschrift ELTERN wollte es genau wissen und ließ 1000 Eltern im vergangenen Jahr befragen, wie sie es mit der Erziehung halten. Die Ergebnisse sind – je nach Erwartung – erschreckend und ermutigend:

  • 40 Prozent der Mütter und Väter strafen ihre Kinder mit einem Klaps auf den Po;
  • 10 Prozent geben Ohrfeigen;
  • 4 Prozent der Mütter und Väter greifen auch zu harten Körperstrafen wie den Hintern versohlen;
  • Jungen werden häufiger geschlagen als Mädchen.

Damit liegt Deutschland in Westeuropa im Mittelfeld: Hierzulande wird weniger geschlagen als in Frankreich, aber deutlich mehr als in Schweden, das bereits 1979 das Recht auf gewaltfreie Erziehung festschrieb.

Zu den Gründen schrieb schon das Bundesjustizministerium im Jahr 2005:

„Zum Teil kann man dieses Phänomen auf eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit, auf Stress und Überforderung im Alltag zurückführen, aber auch darauf, dass gerade leichte Gewaltformen nicht als Gewalt angesehen werden.“

Mein Fazit:

Gewaltfreie Erziehung ist nach Angaben des Deutschen Kinderschutzbundes für 90 Prozent der Eltern ein Ideal. Allerdings würden lediglich ein Drittel der Eltern wirklich ohne jegliche Gewalt erziehen. Dazu zwei Anmerkungen.

1. Wem es als Vater oder Mutter schwer fällt, leichte Gewaltformen wie Klapse oder Ohrfeigen als Gewalt zu definieren, der stelle sich einfach Folgendes vor:

  • Als Radfahrer benutzen Sie, weil Sie es eilig haben, den Bürgersteig. Ein älterer Herr stellt sich Ihnen in den Weg. Als Sie absteigen, gibt er Ihnen mit den Worten „Das ist verboten!“eine Ohrfeige.
  • Im Meeting haben Sie eine wichtige Unterlage vergessen. Am Ende der Besprechung beim Hinausgehen spricht Ihr Vorgesetzter die Sache noch mal an – und gibt Ihnen einen kräftigen Klaps auf den Po.
  • Beim Abendessen stoßen Sie aus Versehen ein Glas um. „Pass doch besser auf!“ ruft Ihr Partner und schlägt Ihnen ins Gesicht.
  • Eine Politesse beobachtet, wie Sie im Halteverbot parken. Sie kommt auf Sie zu und mit den Worten „Können Sie nicht lesen?“ zieht sie Sie am Ohr zu dem Verkehrsschild.

Wie würden Sie auf diese „leichteren Gewaltformen“ reagieren? Würden Sie sagen, dass Sie es ja auch verdient hätten? Natürlich nicht. Mit Kindern erlaubt man sich derlei Sanktionen aus einem einzigen Grund: weil das Kind schwächer ist und man diese Macht ausnützt.

2. Ich glaube auch, dass heutzutage viele körperliche Strafen aus Hilflosigkeit und Überforderung entstehen. Was die Super-Nanny in ihren Einsätzen ja immer richtig machte, war, dass sie erstens Regeln für alle einführte und zweitens den Eltern klar machte, dass sie bestimmen dürfen. Sie also aus der Hilflosigkeit in die verantwortungsvolle Position schob.

Ein Großteil der Überforderung entsteht aber auch, weil die Eltern sich mit Ansprüchen überfordern. Konkret hilfreich finde ich dazu die Einstellung

„Die Beziehung zum Kind ist das Wichtigste –
alles andere zweitrangig.“

Das heißt, wenn ein Elternteil spürt, dass er an eine Grenze kommt, weil alles gerade zu viel ist: Langsam machen, durchatmen, die Beziehung zum Kind beachten – und alles andere als weniger wichtiger erachten.

Konkret kann das aussehen: Die Beziehung zu Ihrem Kind ist wichtiger …

  • wenn morgens beim Anziehen Ihr Kind „herumtrödelt“,
  • wenn Ihr Kind Sie immer wieder beim Arbeiten am PC „stört“,
  • wenn Ihr Kind beim Essen wieder länger braucht als andere,
  • wenn Ihr Kind ein Verbot missachtet.

Nicht ausrasten, nicht zuschlagen. Langsam machen, durchatmen – und die Beziehung zum Kind beachten.

Wie Sie dann konkret handeln können, fällt Ihnen bestimmt in einer ruhigen Viertelstunde ein. Erforderlich ist zuerst Ihre Entscheidung, dass Sie Ihr Kind nicht mehr schlagen wollen.

Denn Schlagen und Geschlagenwerden belastet oder zerstört die Beziehung und das Vertrauen. Oft für den Rest des Lebens.

Lesen Sie hierzu auch meinen Artikel „Schläge in der Kindheit“

kommentarWie denken Sie über Klaps, Ohrfeigen und andere Strafen?
Wie schaffen Sie es, nicht zu schlagen?

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Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.