10 Prozent der Deutschen sind gefühlsblind. Sie auch?

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Emotionale Intelligenz / Neurobiologie / Persönlichkeit

„Verkopft, verschlossen oder abgebrüht.“ Bekommen Sie das öfter zu hören?

Das könnte ein Hinweis auf Alexithymie sein: die Unfähigkeit, Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken.

Täglich haben wir es mit Menschen zu tun und müssen beruflich wie privat mit Ihnen auskommen. Ist der Kollege jetzt nur unzufrieden oder doch eher wütend? Ist die Bemerkung des Partners jetzt freundlich gemeint oder ironisch?

Dabei hilft uns oft unsere Verstandes-Intelligenz nur bedingt. Doch zum Glück verfügt jeder von uns – in unterschiedlichem Ausmaß – zum Entschlüsseln menschlichen Verhaltens noch über eine andere Fähigkeit: die emotionale Intelligenz„. Was ist das eigentlich?

Nach dem Schöpfer dieses Begriffs, Daniel Goleman, umfasst die ‚emotionale Intelligenz‘ fünf Komponenten:

  • Selbstreflexion
    Selbstreflexive Menschen kennen ihre Stärken und Schwächen, wissen über ihre Wirkung auf andere Personen und sind sich über die eigenen Gefühle und Stimmungen und deren Konsequenzen auf das eigene Handeln oft bewusst.
  • Selbstkontrolle
    Selbstkontrollierte Menschen können ihre impulsiven Gefühlsregungen so regulieren, dass sie angemessen und zielgerichtet zum Ausdruck kommen. “Erst denken und dann handeln” ist die Maxime.
  • Motivation
    Motivierte Menschen lassen sich weniger durch Geld oder andere externe Faktoren beeinflussen. Zielorientierung und das absolute Bestreben, die gesteckten Ziele auch zu erreichen, sind ihre inneren Motivatoren.
  • Soziale Kompetenz
    Sozial kompetente Menschen verfügen über ein großes Netzwerk sozialer Kontakte. Sie knüpfen schnell Kontakte und wissen, wie sie diese Kontakte pflegen und behalten.
  • Empathie
    Empathische Menschen haben die Fähigkeit, sich in die Emotionen und die Situationen Ihrer Gesprächspartner hineinzuversetzen. Sie können durch Geschick und sensible Gesprächsführung eine Vertrauensbasis aufbauen und behandeln ihre Gegenüber mit Respekt und positiver Wertschätzung.

Doch vielen Menschen fällt es schwer, Gefühle zu erkennen. Sowohl die eigenen wie auch die anderer Menschen.

Alexithymie – oder Gefühlsblindheit – ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das etwa 10% der Bevölkerung betrifft. Das sind immerhin mehr als 10 Millionen Menschen in Deutschland. Einer Studie nach betrifft es mehr Männer als Frauen.

Vielen „Gefühlsanalphabeten“ ist ihr Problem gar nicht bewusst. Sie sind oft sehr intelligent, haben einen ausgezeichneten technischen und logischen Verstand.

Aber ähnlich wie ein Mensch mit einer Rot-Grün-Schwäche (gemeint sind nicht notorische CDU-Wähler) auf diesem Bild keine Zahl erkennt, können gefühlsblinde Menschen innere Zustände keinem Gefühl zuordnen. So wie Menschen mit einer Melodietaubheit nicht tanzen können und nicht verstehen, was an Musik schön sein soll.

Nur im engen Kontakt mit Angehörigen oder in der Partnerschaft wird das Gefühlsdefizit schmerzlich wahrgenommen. In einem Test werden beispielsweise Versuchspersonen gefragt:

»Sie fahren über eine Brücke und sehen jemanden außerhalb des Schutzgitters stehen. Er schaut ins Wasser.
Wie würden Sie sich fühlen?
Wie würde sich diese Person fühlen?«

Gefühlsblinde antworten beispielsweise: »Ich wäre irritiert. Was der andere empfindet, weiß ich nicht.« Angemessener wäre vielleicht eine Antwort wie:  »Ich wäre ziemlich erschrocken und würde überlegen, wie ich dem Menschen  am Gitter helfen kann. Er ist vermutlich verzweifelt und hat Angst.«

Alexithyme Menschen empfinden keine Freude, keine Trauer, fühlen sich in vielen emotionalen Situationen „neutral“. Manchmal gehen sie zum Arzt, weil sie sich Körperempfindungen wie Herzklopfen oder Magendrücken nicht erklären können.

Ein Mensch ist vielleicht total wütend, hat einen roten Kopf und geballte Fäuste und kann aber nicht kommunizieren, was er fühlt. Fragt man: ‚Sind Sie ärgerlich? Oder haben Sie Angst?‘, dann sagen sie, ‚Ich weiß, da passiert etwas in meinem Körper, aber ich habe keine Ahnung, was es ist‘.“

Wie lernen Menschen Gefühle?

Zwar ist jedem Menschen ist ein Repertoire mimischer Gesichtsausdrücke für die primären Gefühle wie Trauer, Freude oder Neugier angeboren. Doch bis ein Kind sagen kann, „Jetzt kriege ich Angst“, muss es viele Male gespiegelt bekommen, was seine Empfindung bedeutet.

Zwei amerikanische Psychologen entwickelte schon in den 60er Jahren  eine Klassifikation der emotionalen Gesichtsausdrücke, das Facial Action Coding System. Sie umfasst sieben Basisemotionen, die kulturübergreifend bei allen Menschen in gleicher Weise erkannt und ausgedrückt werden. Diese Gesichtsausdrücke sind nicht kulturell erlernt, sondern genetisch bedingt.

Diese sieben Basisemotionen sind:

1.Freude
2. Wut
3. Ekel
4. Angst
5. Überraschung
6. Trauer

 

Säuglinge schauen viel auf die Gesichter der Eltern und lernen dabei, ihre Empfindungen zu benennen. Weint das Kind, hört es im besten Fall: „Du weinst ja! Hast du Aua im Bauch? Bist du traurig?“ Schon mittels dieser frühen Babysprache lernt das kindliche Gehirn, körperliche Empfindungen zu deuten und mit Wahrnehmungen wie Angst oder Freude zu verknüpfen.

Dabei gelangen die Informationen im Gehirn vom  limbischen System, das für Emotionen zuständig ist, in den Frontalcortex, der für Kategorisierung, Überlegung und Sprache zuständig ist.

Zwei Ursachen für Alexithymie:

  1. Jemand, der deutliche alexithyme Züge hat, konnte vielleicht als Kind  nicht alle Entwicklungsschritte durchlaufen, weil es Probleme in der Interaktion zwischen ihm und seiner Umgebung gab. Entweder weil es keine beständige Bezugsperson gab oder weil diese nicht in der Lage war, angemessen zu reagieren.
    Ich habe mit Klienten gearbeitet, wo ein Elternteil alkoholkrank oder drogensüchtig war und die über lange Zeit mit sehr reduzierter Interaktion aufgewachsen waren.
    Auch Eltern, die selbst an Alexithymie, an Depressionen oder eine labile Persönlichkeit haben, können u.U. ihrem Kind zu wenige Erklärungen für seine Emotionen liefern. Oder es mangelt es  an den passenden Ausdrücken, um Gefühle für sich und andere zu benennen.
  2. Eine andere Erklärung für Alexithymie ist, dass das Nichtfühlen eine Art Schutzmechanismus darstellt, mit dem ein Mensch sich vor zu vielen negativen Gefühlen unbewusst abschirmt. Traumaforscher wissen, dass auch das Gefühlsleben von Erwachsenen verschüttet werden kann, wenn jemand durch ein Verbrechen oder im Krieg großer Brutalität ausgeliefert ist..

Die Veränderung von Gefühlsblindheit ist nicht einfach. Neben den Unikliniken in Greifswald und Mainz gibt es in vielen anderen Kliniken Experten zu diesem Thema. Therapien, die den meisten Erfolg aufweisen, arbeiten nicht nur mit verbalen Verfahren, sondern auch mit Methoden, die das Körpererleben oder Selbsterleben anregen, wie zum Beispiel Kunst- oder Tanztherapie.

Wichtig ist zuerst die Diagnose. Einen ersten Hinweis auf Alexithymie kann dieser Online-Test geben:

Wie gut können Sie Gefühle erkennen?

Die Fähigkeit, Gefühle schnell zu erkennen und benennen zu können, ist für jede Kommunikation hilfreich. Wie sieht das bei Ihnen aus?

Hier können Sie testen, wie gut Sie sog. Mikroexpressions erkennen sollen. Für den Bruchteil einer Sekunde wird ein Gesichtsausdruck gezeigt und Sie sollen herausfinden, welches Gefühl damit ausgedrückt wurde.

Einfach auf das Bild und auf eine Nummer klicken.

Fazit: Doch auch wenn Sie jetzt feststellen, dass Sie tatsächlich Probleme haben, Gefühle wahrzunehmen, ist das kein Beinbruch.

In vielen Berufen ist Gefühlsblindheit kein Hindernis, wenn nicht sogar Einstellungskriterium. Zum Beispiel als Selbstmordattentäter, englischer Thronfolger, professioneller Pokerspieler oder Fussballtrainer bei Arminia Bielefeld.

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Foto: © Peter Atkins Fotolia.com

Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.