Amy Chua: die Mutter des Erfolgs und das Drama des begabten Kindes.

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Partnerschaft / Persönlichkeit

Wie schreibt man einen Bestseller? Man nehme irgendein Thema und besetze eine extreme Position. Begründe sie mit ein paar Argumenten und eigenen Ansichten. Da die Medien immer neuen Stoff brauchen, ist der Erfolg fast schon programmiert.
Nach dem Rezept verfuhren schon erfolgreich Eva Hermann, Thilo Sarrazin und Charla Muller (das ist die Frau, die ihrem Mann zum Geburtstag 365 Nächte Sex schenkte.) So weit, so belanglos. Im Fall von Amy Chua packt mich das Thema aber persönlich. Deshalb dieser Artikel.

„Seid erdrückend streng und brutal fordernd, denn nur so wird man erfolgreich!“ Das ist das wörtliche Credo, mit dem Amy Chua, eine  aus China stammende US-Professorin, ihre Kinder erzog.   Der Verlag nennt das Buch  „Die Mutter des Erfolgs – Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte“ein packendes und hochkomisches Buch über Familie und Erziehung“. Wobei Dressur oder Drill wohl passendere Begriffe wären.

„Zwingt die Kinder zu ihrem Glück“, rät sie, und man fragt sich,  um wessen Glück es hier eigentlich geht. Beunruhigend finde ich, dass das Buch in den USA kurz nach Erscheinen  ein Riesenerfolg wurde. Und auch hierzulande steht es auf der SPIEGEL-Bestsellerliste bereits auf Platz 6. Zum Glück liegt Michael Mittermeier mit seinem Erziehungsbuch noch vor ihr.

Freimütig erklärt Frau Chua im Interview die Unterschiede zwischen dem Erziehungsverhalten in China und den westlichen Ländern:

Chinesische Eltern drillen ihre Kinder jeden Tag. Wenn das Kind keine perfekten Noten nach Hause bringt, hat es einfach nicht hart genug gearbeitet.
Westliche Eltern werden ihr Kind für eine Eins minus loben. Die chinesische Mutter jedoch wird nach Luft schnappen und fragen, was falsch gelaufen ist.

Damit es in Zukunft nicht wieder so falsch läuft, kann die Autorin ein breites Arsenal von Disziplinierungsmaßnahmen aufzählen, die sie an ihren beiden Töchtern erfolgreich ausprobierte:

  • Wasser verweigern und nicht die Toilette benutzen dürfen, bis eine Lektion perfekt sitzt.
  • Androhen, die Plüschtiere des Kinds zu verbrennen oder keine Geschenke zu Weihnachten und Geburtstag für vier Jahre.
  • Nie bei Freunden übernachten, an keiner Schulaufführung teilnehmen
  • Natürlich kein Handy, kein PC, keine Playstation
  • Kein anderes Instrument als Klavier oder Geige lernen.

Als Ihr Ehemann sich einmal in eine Erziehungsschlacht einmischen will und Zweifel äußert, ob die Mutter nicht wegen des Einübens eines Klavierstücks mit der 7-jährigen Lulu etwas übertreibe, wird auch er belehrt, dass er nur immer der Gute sein wolle. Sie dagegen bleibe eisern dran, auch wenn sie dafür gehasst werde.

Irgendwann in der Nacht, ohne Wasser und ohne Toilettengang, kann die Siebenjährige das schwierige Klavierstück tatsächlich spielen und staunt: „Mama schau – es ist ganz einfach!“ Danach kuschelten beide noch lange im Bett der Mutter.

Ist das nicht rührend?

Das Drama des begabten Kindes.

Als ich das Buch von Amy Chua in einer Buchhandlung durchblätterte und etliche Rezensionen im Netz gelesen hatte, musste ich an Alice Miller denken. Ihr Buch fiel mir 1997 in die Hände und nach der Lektüre verstand ich zum ersten Mal, warum ich Psychotherapeut werden wollte.

Hier kurz gefasst Alice Millers damals revolutionäre Erkenntnisse, die aber auch heute noch gültig sind:

„Das Drama des begabten, das heißt sensiblen, wachen Kindes besteht darin, dass es schon früh Bedürfnisse seiner Eltern spürt und sich ihnen anpasst, indem es lernt, seine intensivsten, aber unerwünschten Gefühle nicht zu fühlen.“

„Diese Anpassung an elterliche Bedürfnisse führt oft zur Entwicklung der Als-Ob-Persönlichkeit, zu einem ‚falschen Selbst‘. Der Mensch zeigt nur das, was von ihm gewünscht wird – und verschmilzt ganz mit dem Gewünschten.“

„In Krisen klagen diese Menschen über Gefühle der Leere, Sinnlosigkeit, Heimatlosigkeit. Der Mensch ist sich selbst fremd geworden. Vor allem wenn sie realisieren, dass all die ‚Liebe‘ die sie sich mit soviel Anstrengungen und Selbstaufgabe erobert haben, gar nicht dem galt, der sie in Wirklichkeit waren. Dass die Bewunderung und der Stolz des Elternteils der Schönheit und Leistung galt und nicht dem Kind, wie es war.“

Kennzeichen dieser „begabten Kinder“ sind:

  • Schon früh sind sie statt Kind kleine Erwachsene.
    Sie werden früh vor allem wegen ihrer Leistungen gelobt. Oft waren sie schon im ersten Lebensjahr trocken und halfen bereits im Alter von zwei bis fünf Jahren geschickt bei der Pflege der Geschwister.
  • Als Erwachsene sind sie oft perfektionistisch.
    Erreichen berufliche größte Ziele, können dies aber nicht genießen. Sind ruhelos, getrieben, wollen immer noch mehr beweisen, wie gut sie sind. Narzissmus oder Depression sind oft der Preis als Erwachsene.
    Der ‚grandiose‘ Mensch wird überall bewundert und er tut sehr viel dafür.  Bleibt die Bewunderung einmal aus, werden diese Menschen meist depressiv, denn sie unterliegen der Illusion, dass Bewunderung Liebe sei. Zuweilen haben grandiose Menschen auch einen depressiven Partner, um den sie sich aufopferungsvoll kümmern – und wieder bewundert werden.
  • Sie können sich sehr gut in andere Menschen einfühlen.
    Denn sie haben früh gelernt, zu spüren, was ihre „bedürftigen“ Eltern brauchen. Sie entwickeln ein besonderes Gespür für die unbewussten Signale der Bedürfnisse des anderen, meist der Mutter.
    Wenn eine unsichere Mutter Unzufriedenheit oder Ärger ihres Kindes  als Kritik an ihrer Mutterrolle interpretiert, lernen begabte Kinder, diese Gefühle zu unterdrücken. Spüren keinen Hunger, spalten körperliche Schmerzen ab, sitzen stundenlang brav im Wartezimmer des Kinderarztes.
  • Sie spüren eigene Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse schlecht.
    Es geht ihnen als Erwachsener durchweg gut. Eifersucht, Neid, Zorn, Verlassenheit, Ohnmacht, Angst scheinen sie nicht zu kennen. Immer Null Problemo.
    Aus ihrer großen Angst vor Liebesverlust haben sie eine enorme Anpassungsbereitschaft entwickelt. Lassen sich im Beruf ausnutzen oder im Privatleben beschimpfen, verprügeln, missbrauchen – ohne sich zu schützen.
  • Die Eltern versuchen, ihre eigenen Bedürfnisse über das Kind zu befriedigen.
    Obwohl beide Eltern nur Volksschulabschluss haben, wird das Kind manchmal mit zu großen Leistungsansprüchen überfordert. Das Kind wird zur Erfüllung eigener nicht gelebter Träume gebraucht. Fast immer mit der Rechtfertigung, dass es das Kind besser haben soll.
    Die Eltern sind selbst unsichere Kinder, die nun endlich ein schwächeres Wesen haben, bei dem sie sich stark fühlen können.

verunsicherte Eltern suchen Orientierung.

Die PISA-Studien haben viele Eltern und Politiker weltweit aufgeschreckt.  Verlieren wir etwa noch mehr den Anschluss? Dabei geht es mir nicht so sehr um das Buch von Amy Chua. In den USA, wie auch in China gab es schon wütende Proteste darüber und etliche Versuche  einer differenzierteren Betrachtungsweise auch in China. Auch die Rezensenten bei Amazon beurteilen das Buch eher negativ.

Sogar die Autorin selbst rückte danach etwas von ihren Thesen ab. So durfte die zweite Tochter, die massivsten Widerstand zeigte, den Geigenunterricht aufgeben. Und übt jetzt – freiwillig – genauso verbissen Tennis.

Gesellschaften wie Menschen machen im Lauf der Zeit einen Reifungsprozess durch. In Deutschland glaubte man in vergangenen Zeiten auch daran, dass manche Frauen Hexen sind oder Juden minderwertig. Und mit noch viel drastischeren „Erziehungsmethoden“ suchte man, sie zu bessern.

Insofern sehe ich einen Zusammenhang zwischen den Erziehungsmethoden und den gelebten Werten einer Gesellschaft. Auch in Deutschland war in den 50-er Jahren „schwarze Pädagogik“ vorherrschend und die Prügelstrafe normal. Und Babys sollten nur alle vier Stunden gestillt werden (weil sie angeblich früh  Struktur brauchen) und bei Schreien bloß nicht aufnehmen und trösten, sondern schreien lassen (weil das die Lungen kräftigt).

Ausgedacht hatte sich das damals der Kinderarzt Dr. Benjamin Spock. Durch  sein 1946 veröffentlichtes Buch, das sich 50 Millionen mal verkaufte, wurde er für fast alle Kinderärzte – auch in Deutschland  zum Guru, dessen Thesen niemand anzweifelte. Interessanterweise  musste sich Spock bereits im Kindesalter um seine fünf jüngeren Geschwister kümmern. Da kommt man natürlich zwangsweise auf Ideen, wie sich Kinderaufzucht optimieren lässt.

Und in Ländern wo Gewalt, Folter und Todesstrafe zum berechtigten Arsenal des Staates gehören, beeinflusst das wohl auch die Denkweisen von Eltern, wie sie mit ihren „Untertanen“ umgehen sollten. Natürlich immer nur zu deren Besten.

In Frau Chuas Erziehungsbild sieht das so aus: „Ich bin mir sicher, dass meine Kinder zu jeder Zeit wussten, dass ich sie liebe. Die Botschaft an die Kinder darf natürlich nicht lauten: „Wenn du keine Eins nach Hause bringst, liebe ich dich nicht mehr.“ Die Botschaft muss lauten: „Du kannst eine Eins bekommen, weil du ein starkes, schlaues Kind bist.“ Wenn ein Kind in der Mathematik oder beim Klavierspielen richtig gut ist, bekommt es Anerkennung. Daraus entsteht Befriedigung – und schließlich Glück.“

Ja, die Liebe muss immer herhalten, wenn Dominanz und brutale Machtausbeutung vom Empfänger nicht so richtig verstanden werden. „Ich liebe euch doch alle!“ bekannte 1989 ja auch der entmachtete Stasi-Chef Erich Mielke. Und Ägyptens Ex-Präsident Mubarak wehrte sich ebenso eine Zeitlang gegen seinen Rücktritt, weil er doch immer nur seinem geliebten Land und den Menschen dienen wolle.

Die Kehrseite des Drills.

Dass der enorme Drill von klein auf nur zu ihrem Besten ist, haben wohl etliche Chinesen noch nicht so richtig verstanden. Denn die häufigste Todesursache unter jungen chinesischen Erwachsenen zwischen 20 und 35 Jahren ist der Selbstmord. Rund 250.000 Menschen im Jahr töten sich in China selbst. Nach einem Bericht von „China Daily“ machen 2,5 bis 3,5 Millionen „erfolglos“ den Versuch.

Wie gesagt, mir geht es nicht primär um das Buch, sondern um die Unsicherheit vieler Eltern, wie man es richtig macht. Und wobei man anfällig werden kann für den Einfluss von Experten.

Als ich meine Mutter mal fragte, ob sie sich auch nach dem 4-Stunden-Modell beim Stillen gerichtet habe, bejahte sie das. Und fügte hinzu: „Es tat mir in der Seele weh, wenn Du vor Hunger manchmal geschrien hast, aber der Kinderarzt hatte es mir verboten nachzugeben.“

Im SPIEGEL Nr. 6/2011, S. 109, verharmlost die Kindheitsforscherin Donata Elschenbroich, die eigentlich ein vernünftiges Buch geschrieben hat, die Thesen der Tigermutter in grotesker Weise:

  • „Dass geübt werden muss, um etwas zu erreichen, ist eine Einsicht, der man sich schwer verschließen kann.“ …“Wenn man zuguckt, mit welcher Beharrlichkeit Einjährige das Laufen üben, können Eltern sich vor Augen führen: Ohne Üben geht eben nichts. Man braucht mindestens 10.000 Stunden, um in einem Sport oder an einem Instrument souverän zu werden.“
    (Laufen lernen macht das Kind aber von selbst, nicht durch den Druck der Eltern.)
  • „Der Versuch, den Kindern nicht als autoritärer Vater oder als fordernde Mutter gegenüberzutreten, nimmt den Eltern manchmal die Kraft der Vision, was ihr Kind schaffen kann.“…“Frau Chua hat sich Bildungsziele selbst gesetzt und lebt sie. Da kommt was in Gang zu Hause.“
    (Kindern haben ihre eigene Visionen, für die wenig Zeit und Raum bleibt, wenn man die Vision der Eltern erfüllen muss.)
  • „Jetzt wäre es nur noch interessant, wie diese beiden Töchter in 10, 20 Jahren mit ihren eigenen Kindern umgehen.“

Oh, diesem Informationsdefizit kann ich nachhelfen. Denn in meiner Praxis und meinen Persönlichkeitsseminaren erlebe ich häufig derlei Auswirkungen:

Studenten, die Einserkandidaten sind, wegen massiver Prüfungsangst wochenlang Beruhigungsmittel schlucken und überzeugt sind, dass sie diesmal durchfallen.
Manager, die mit 42 Jahren alle ihre Lebensträume erreicht haben und verraten, dass sie ab und zu zwanghaft auf der Autobahn bei Tempo 180 daran denken müssen, wie es wäre, jetzt fünf Sekunden die Augen schließen. Führungskräfte, die so leicht kränkbar sind, dass sie ausbleibende Bewunderung schon als massive Kritik erleben, dann beleidigt schmollen oder verbal zurückschlagen.

Aufschlussreich auch die 230 Kommentare auf meinen Artikel „Welche Folgen es hat, als Kind geschlagen worden zu sein.“

Hier fördert das Konzept des „Drama des begabten Kindes“ sehr das Verständnis.

Der Starke, der um seine Ohnmacht weiß, weil er sie erlebt  und gefühlt hat, braucht  nicht dauernd durch Machtgehabe sich seiner Position zu vergewissern. Und hat auch nicht den Drang, eigene Schwächegefühle durch Verachtung für andere zu kompensieren.

Doch Alice Miller schreibt richtig: „Die meisten Menschen wollen nichts von ihrer Geschichte wissen und wissen daher auch nicht, dass sie im Grunde ständig von ihr bestimmt werden, weil sie in ihrer unaufgelösten, verdrängten Kindheitssituation leben.

Sie wissen nicht, dass sie Gefahren fürchten und umgehen, die einst reale Gefahren waren, aber es seit langem nicht mehr sind. Sie werden von unbewussten Erinnerungen sowie von verdrängten Gefühlen und Bedürfnissen getrieben, die oft beinahe alles, was sie tun und lassen in pervertierter Weise bestimmen, solange sie unbewusst und ungeklärt bleiben.“

Verschiedene Abwehrmechanismen helfen dabei, wie

  • Verleugnung ((z.B. des eigenen Leidens)
  • Rationalisierung („Ich schulde meinem Kind eine Erziehung.“)
  • Verschiebung („Nicht mein Vater, sondern mein Kind tat mir weh.“)
  • Idealisierung („Vaters Schläge haben mir nicht geschadet.“)
  • Umkehr des passiven Erleidens in aktives Handeln.

Ein neues Führungsmodell?

Schon länger suche ich nach einem Thema für mein drittes Buch. Vielleicht sollte ich ein neues Führungshandbuch schreiben. Einfach die Rezepte von Frau Chua auf Mitarbeiterführung übertragen.

Ein möglicher Titel: „Der Vater des Erfolgs – Wie ich meinen Mitarbeitern das Siegen beibrachte.“

Und die Rezepte von Amy Chua müsste man nur anpassen. Wenn Ihr Team nicht dauernd Spitzenleistungen abliefert, drohen Sie einfach mit diesen Motivationshilfen:

  • Urlaubsanspruch verfällt und Weihnachtsfeiern werden verboten.
  • Gehaltszahlungen und Boni werden auf Jahre ausgesetzt.
  • Zugang zu Wasserautomat und Kaffeemaschine wird gesperrt.
  • Bei Termindruck wird der WC-Schlüssel beim Chef aufbewahrt.

Aber ich fürchte, diese Empfehlungen würden sich nicht durchsetzen. Gewerkschaften und Betriebsrat würden dagegen Sturm laufen.

Leider haben Kinder hierzulande keine gute Lobby. Die Vierbeiner haben wenigstens einen Tierschutzverein.

Diesen Beitrag können Sie sich hier anhören.

Oder auch hier als Video anschauen.

In der ARD-Sendung „Hart aber fair“ vom 16.2.11 wurde das Thema auch sehr kontrovers diskutiert.

kommentar Mit Welchen Erziehungsmethoden haben Sie Erfahrungen?
Als Kind und als Elternteil?

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Foto: ©  istock.com

Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.