Ist das Glas halb voll oder halb leer? Ein Interview über alltägliche Probleme unserer Wahrnehmung.

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Emotionale Intelligenz / Karriere / Persönlichkeit

glas halbvoll foto: privatMal eine einfache Frage: „Ist dieses Glas halb voll oder halb leer?“

Die ganz Schlauen wissen natürlich sofort: „Sowohl als auch.“ Und der Diplomingenieur weiß: „Das Glas ist um die Hälfte größer als es sein müsste“.
Aber es geht hier nicht um Theorien, sondern um Ihre Wahrnehmung. Was sehen Sie? Oder: Wie sehen Sie das Glas?

Sie sehen das Glas entweder halb voll oder halb leer. Aber wie das Glas jetzt gefüllt ist, können Sie nicht erkennen. Ähnlich ist es mit den bekannten Bildern zur Wahrnehmung von Figur und Grund. Sie sehen entweder eine Vase oder zwei Gesichter. Ihre Wahrnehmung springt hin und her. Sie „wissen“, dass beides da ist, aber erkennen, was da „wirklich ist, können Sie nicht.

Das ist ein grundlegendes Dilemma von uns Menschen. Wir müssen uns in der Wirklichkeit verhalten, auf die Realität reagieren – wissen aber nie so genau, wie etwas in der Wirklichkeit ist.

Über dieses spannende Thema hat Florian Rustler (www.creaffective.de) ein Interview mit mir gemacht, das Sie hier nachlesen können.

Geistige Landkarten – ein Interview

Florian Rustler: Sie verwenden in Ihren Veröffentlichungen häufig den Begriff der geistigen Landkarte. Was ist das?

Roland Kopp-Wichmann: Der Begriff kommt aus dem Konstruktivismus und wurde geprägt von Alfred Korzybski, der gesagt hat: „Die Landkarte ist nicht die Landschaft“. Damit ist gemeint, dass wir die Welt nicht direkt erleben oder erkennen können. Das wird auch schon beim platonischen Höhlengleichnis erwähnt -, sondern dass wir uns ein Bild machen von der Realität. Dieses innere Bild von etwas in der Realität nenne ich Landkarte. Diese ist eine Art innere Repräsentation, die sich ein Mensch macht von dem, was er außerhalb von sich selbst wahrnimmt. Diese Landkarten sind sehr subjektiv, das kann man z.B. daran sehen, wenn man zwei Leute durch das gleiche Fenster schauen lässt und sie dann nach fünf Minuten bittet, das Gesehene zu berichten. Dieser Bericht wird niemals identisch sein.

Hängt das mit den bisherigen im Gehirn angelegten Assoziationen zusammen?

Es hängt an den bisherigen Landkarten. Insofern kann man auch nur erkennen, was schon bekannt ist. Die Neurobiologie, mit der ich mich in letzter Zeit verstärkt beschäftige, bestätigt dies. Man braucht eine innere Landkarte, um etwas zu erkennen.

So wie man auf seinem Spezialgebiet, sei es Fußball oder Rotwein, eine detaillierte Landkarte hat und dann in diesem Gebiet feine Nuancen erkennt. Jemand, der keine Landkarte hat, würde beim Beispiel bei verschiedenen Rotweinen entweder keinen Unterschied schmecken oder eben nicht unterscheiden können, woher ein bestimmter Wein kommt.

Insofern sind diese mentalen Landkarten ungeheuer wichtig. Das Problematische daran ist, dass Menschen dieser Mechanismus des Landkartenbildens nicht bewusst ist. Viele Menschen denken, dass das was sie sehen, objektiv ist.

Kann es dann Objektivität überhaupt geben?

Nein, das gibt es nicht. Es gibt sicherlich eine Art Realität „da draußen“, nur – wir können sie nicht erkennen.

Die Realität ist nicht erkennbar?

So ist es. So kann man allerdings als Mensch nicht leben, man muss sich ja ständig auf die Realität beziehen und Entscheidungen treffen. Dafür braucht es innere Repräsentation, und das sind die Landkarten. Diese erklären auch, warum zwei Menschen bei einer identischen Situation diese völlig unterschiedlich bewerten. Hier gibt es das bekannte Beispiel des Optimisten und des Pessimisten. Der eine sagt, das Glas ist halb voll, der andere sagt, es ist halb leer. Was sicherlich objektiv da ist, ist ein Glas mit einem bestimmten Wasserinhalt. Was das nun bedeutet, ist damit nicht gesagt.

Am Beispiel des Wasserglases, das entweder halb voll oder halb leer ist, denke ich an die Wahrnehmung, die darüber entscheidet, wie es interpretiert wird. Gibt es – ähnlich, wie es wahrnehmungsleitende Denkwerkzeuge gibt – Möglichkeiten, diese Landkarten bewusst zu erkunden, die Grenzen der Karten zu finden und diese zu erweitern?

Bei meiner Arbeit geht es viel darum, sich die Landkarten, die im Unbewussten gespeichert sind, bewusst zu machen. Landkarten sind z.B. auch Gewohnheiten und Verhaltensroutinen, wie das Autofahren. Sobald man ein paar Jahre Fahrpraxis hat – und damit die Landkarte ausgebildet ist – fährt man praktisch nur mit dieser unbewussten Landkarte. Das ist der „innere Autopilot“. Man kann sich in der Regel nicht erinnern, wo z.B. die letzte Kreuzung war.

Diese Unbewusstheit der Landkarten ist auch ein großer Vorteil, denn sie reduziert Komplexität, indem viele Dinge automatisch passieren. Problematisch ist nur, dass man die Landkarte nicht mit der Landschaft verwechseln darf. Wenn ich glaube, meine Landkarte ist ein Abbild der Realität, dann bekomme ich Probleme. Ein Vorurteil ist beispielsweise auch eine Landkarte.

Welche Gefahren ergeben sich aus der Tatsache, dass die Landkarte nicht die Landschaft ist?

Das führt dazu, dass wir subjektiv mit objektiv verwechseln. Z.B. Jemand hat in der Arbeit Probleme mit seinem Chef. Warum er genau mit ihm nicht zurecht komme, weiß er so genau nicht. Doch hier kommt die innere Landkarte zu Hilfe, die sagt: z.B. „der ist autoritär, der will nur seinen Willen durchsetzen“. Es kann sein, dass dieser Eindruck von dem Mitarbeiter etwas mit einer Übertragung zu tun hat.

Vielleicht erinnert einen dieser Chef an seinen dominanten Vater und diese Gefühle überträgt derjenige nun auf seinen Chef. Das kann ich mir möglicherweise bewusst machen. Mein Kollege könnte z.B. sagen: „Ich weiß gar nicht, was du hast, er ist doch ein netter Chef. Er ist zwar durchsetzungsstark und weiß, was er will, aber wenn man deutlich seinen Standpunkt äußert, dann lässt er den gelten“.

Hier sieht man wieder, dass zwei Menschen über dieselbe Person unterschiedliche Landkarten und Erfahrungen haben. Wenn ich die Aussage meines Kollegen ernst nehme, dann kann ich mir meiner Landkarte bewusst werden, in der Regel passiert dies jedoch nicht, sondern ich halte an meiner unbewussten Landkarte fest und sage dann etwas wie: „Zu mir ist er anders“ oder „Du hast ja keine Ahnung.“

Wie arbeiten Sie konkret mit Ihren Seminarteilnehmern, um sich dieser Landkarten bewusst zu werden?

Ich unterscheide hier zwei Bewusstseinszustände, das Alltagsbewusstsein, eine Art Autopilot, mit dem man gut durch den Alltag kommt. Das heißt, es handelt sich hier um Gewohnheiten und Verhaltensroutinen und grundsätzlich klappt das. Das funktioniert auch im Beruf, wo jeder seine spezifischen Landkarten hat, um so schnell Muster zu erkennen. So kann z.B. ein Controller mit einem Blick das Wichtigste aus einer Excelliste lesen, während jemand anders dort nicht viel erkennt. Bei diesem Alltagsbewusstsein weiß man, was man zu tun hat.

Den anderen Zustand nenne ich „innere Achtsamkeit“. Hier kann man versuchen, seine eigenen inneren Landkarten aufzurufen und bewusst zu untersuchen. Dazu muss man umschalten, denn dieser Zustand funktioniert langsamer. Es hilft, die Augen zu schließen, weil sich die Landkarte im Inneren befindet. Es geht darum, auf den eigenen Körper zu achten, die Gefühle und ganz wichtig -die Gedanken. In diesem Zustand kann man Landkarten untersuchen, indem man z.B. Reaktionen auf einen bestimmten Begriff, wie z.B. den Namen seines Arbeitgebers, genau beobachtet.

Viele Menschen bezweifeln wahrscheinlich, dass es innere Landkarten gibt, sondern gehen davon aus, dass das, was sie vor sich haben, die objektive Realität ist. Ist das mit ein Grund, warum es so viele Missverständnisse und Konflikte gibt.

Viel hängt damit zusammen, dass Menschen nicht anerkennen, dass es sich um subjektive Meinungen handelt, sondern Ihre Meinung als objektive Realität betrachten: „Ich habe die richtige Interpretation, deine ist falsch“.

Das heißt dann, dass es auch im Geschäftsleben objektive Entscheidungen gar nicht gibt?

Nein, die gibt es nicht. Deswegen sind die Entscheidungen auch nicht objektiv begründbar. Man behauptet zwar, dass z.B. eine Strategieentscheidung aufgrund objektiver Kriterien getroffen wurde, aber jeder, der sich ein wenig auskennt weiß, dass ginge gar nicht. Letztlich geht es um intuitive Entscheidungen, die hinterher rational begründet werden.

Könnte eine Methode, wie z.B. die Sechs Hüte von Edward de Bono aus Ihrer Sicht helfen, aus dem Stil des Verteidigens de Wahrheit auszubrechen?

Ja, die Methode der verschiedenen Hüte bei de Bono zeigt ja, dass es keine objektive Realität gibt, sondern dass sich die Dinge anders darstellen, je nachdem, welchen Hut ich aufsetze.

Wie reagieren die Menschen, wenn Sie sie mit den inneren Landkarten und Ihrer Aussage, dass es keine objektive Realität gibt, konfrontieren?

Manchmal ist das schon ein Schock. Aber es bringt einen natürlich auch ins Nachdenken, wenn man sich bewusst wird, dass objektive Realität ein Trugschluss ist, genauso, wie optische Wahrnehmung, die beim Menschen auch nicht wie bei einer Kamera funktioniert, bei der das Objekt vor der Linse einfach aufgenommen wird. Statt dessen handelt es sich um einen aktiven Prozesse, bei dem Dinge ausgeblendet werden, andere dazu erfunden werden usw. Genauso verhält es sich mit unseren höheren kognitiven Fähigkeiten.

Verändert sich die Landkarte, allein dadurch, dass man sich ihrer bewusst wird?

Die Landkarte verändert sich dadurch noch nicht, aber es handelt sich um einen Qualitätssprung, da ich nun, dadurch dass ich mir der Existenz der Landkarten bewusst bin, die Möglichkeit habe, diese bewusst zu verändern.

Ende des Interviews und ein Nachtrag.

Natürlich stellen auch diese Thesen nicht die Wahrheit dar, sondern sind Landkarten über die Wirklichkeit. Allerdings mit enormen Folgen für jeden von uns. Denn wenn wir die Welt, die Menschen, Situationen nicht objektiv wahrnehmen können, sondern nur aufgrund unserer mentalen Landkarten subjektiv interpretieren, dann verlieren wir einerseits eine große Portion Sicherheit.

Die gute Nachricht: es eröffnet gleichzeitig den Raum für die individuelle Selbstverantwortung. Dazu zwei Beispiele:

  • Was Sie auf einem Bahnhof bisweilen erleben können, ist, dass ein Zug zur versprochenen Zeit nicht ankommt. Das ist das, was in der Realität passiert. Mehr nicht.
    Es ist nicht die Ursache, dass Sie sich ärgern. Es ist kein Zeichen für die Unzuverlässigkeit der Bahn. Genau genommen ist es auch keine Verspätung (denn Zeit gibt es ja nicht wirklich).
    Der Zug kommt nicht zur versprochenen Zeit. Mehr passiert nicht. Wie Sie jedoch das jetzt interpretieren und darauf reagieren, ist Ihre persönliche Kreation. Sie können sich ärgern. Oder schimpfen. Oder daran denken, wie lange Sie im letzten Autobahnstau zugebracht haben. Oder sich über eine unverhoffte Pause in Ihrem Tag freuen usw.
  • Was Sie im Büro bisweilen erleben können, ist, dass Sie jemand auf Ihre freundliche Begrüßung nicht reagiert. Das ist das, was in der Realität passiert. Mehr nicht.
    Doch wie Sie damit umgehen, liegt allein in Ihrer Verantwortung und in Ihrem Verhaltensspielraum. Sie können es einfach vorbeiziehen lassen. Sie können sich darüber aufregen. Oder Sorgen machen um den Anderen („Was ist mit dem los?“) Sie könnten ihn darauf ansprechen. Sie können sich selbst abwerten („Typisch, niemand beachtet mich.“) Sie können den anderen abwerten („Ungehobelter Klotz!“) Sich überlegen, dass Ihnen das bestimmt auch schon mal passiert ist usw.
    Aber all das ist Ihre Kreation. Was in der Realität geschieht, ist, dass Sie jemand nicht zurückgegrüßt hat.

Wie könnte Ihr Tag verlaufen, wenn Sie sich immer wieder daran erinnern, dass das was Sie wahrnehmen, nicht objektiv so ist? Also Ihr Mitarbeiter. Ihr Chef. Ihr Kunde. Ihr Partner. Ihr Kind.
Sondern dass Sie das Verhalten desjenigen eben aufgrund Ihrer Landkarten (Ihre Erwartungen, Bedürfnisse, Wünsche, Gewohnheiten etc.) laufend interpretieren.
Und wenn Sie es zum Beispiel als rücksichtslos, typisch, unkollegial, launisch etc. interpretieren, Sie auch die Freiheit haben, es anders zu interpretieren.

Wenn Sie wollen, schreiben Sie mir Ihre Erfahrungen in einem Kommentar.

Das Interview können Sie sich hier als Podcast anhören oder auch hier herunterladen.

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Danke für Ihr Interesse.

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Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.

4 Kommentare

  1. Hallo Manfred,
    mentale Landkarten lassen sich verändern. Das Wichtigste ist, dass man sie sich bewusst macht, indem man sie in einem Satz, der genau die Landkarte widergibt, formuliert. Zum Beispiel: „Ich bin nur etwas wert, wenn ich viel leiste.“

    Dann kann man an der Veränderung dieser Landkarte arbeiten. Zum einen, indem man einen Satz formuliert, der die gewünschte Veränderung beinhaltet. Zum Beispiel: „Ich bin wertvoll, auch wenn ich nichts leiste.“ Diesen Satz kann man mehrmals am Tag denken oder – wenn man allein ist – auch vor sich hin sagen. Wichtig ist jetzt, die inneen Reaktionen auf diesen Satz (Körperempfindungen, Gefühle, Gedanken) beobachten.

    Am Anfang wird der neue Satz vermutlich inneren Widerstand erregen. Ein komisches Gefühl, negative Gedankenkommentare wie „Blödsinn!“ oder „Das stimmt nicht!“ werden kommen. Das kommt daher, weil die alte Landkarte noch aktiv und stärker ist.

    Veränderung braucht Geduld. Jetzt kann man den neuen Satz „kleiner“ machen. Zum Beispiel in: „Ich bin wertvoll, auch wenn ich nicht dauernd viel leiste.“ Wieder auf die inneren Reaktionen achten.
    Dann kann man auch sein Verhalten ändern und die inneren Reaktionen beobachten. Zum Beispiel statt regelmäßig erst um 20 Uhr aus dem Büro gehen mal um 19 Uhr nach Hause gehen. Und schauen ob die Welt sich weiter dreht. Wenn diese Veränderung zu groß ist, die Veränderung wieder kleiner machen. Also statt um 19 Uhr erst um 19.45 Uhr nach Hause gehen.

    Die eigenen mentalen Landkarten sind zwar mächtig aber vor allem dadurch, dass wir sie dauernd wieder bestätigen. Das ist aber auch die Chance. Durch neues, bewussteres Verhalten ändern sich die Landkarten.

    Danke für Deinen Kommentar – und viel Erfolg bei der Umsetzung!

  2. Manfred sagt

    Als ehemaliger Seminarteilnehmer kann ich bestätigen: Der dargestellte Ansatz überzeugt. Die Erkenntnisse sind teils frappierend.

    Die Frage ist dann, wie es weitergeht. Wenn ich z. B. meine Landkarte nach deren Identifizierung nicht mag, weil sie mich im wahrsten Sinne des Wortes in die Irre führt, ständig, täglich – was kann ich dann tun, um sie schnellstmöglich zu verändern ? Die Erkenntnis von ihrer Existenz ist der erste grundlegende Schritt – aber dann ? Vor allem: Was ist, wenn die Landkarte fast komplett falsch eingenordet ist, etwa durch elterliche Vorprägungen ? Komme ich davon wirklich los ? Soweit nein: wird dann nicht alles nur noch schwerer, weil ich zusätzlich mit der Landkarte hadere, statt wie bisher nur mit der Landschaft ?

  3. Patrick sagt

    Sie haben recht, das Glas ist weder halb voll noch halb leer.

    Es bietet 50% Einsparpotenzial 😉

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