Wie ich fast tausend meiner Bücher weggab und dabei Loslassen übte.

Kommentare 22
Allgemein / Methoden

Ganz so schlimm sah es nicht bei mir aus.

Ich bin eigentlich von Haus ein ordentlicher Mensch. Aber jeder hat so seine dunklen Seiten. Bei mir war das mein Arbeitszimmer. In Zeitmanagement-Seminaren wird ja gern die Frage gestellt ob man ein Voll-Tischler oder ein Leer-Tischler sei.

Nun, danach bin ich ein “Voll-Zimmler”. Mein Arbeitszimmer war  angefüllt mit fast zweitausend Büchern, die ich über die Jahre gesammelt habe. Einem Aktenschrank mit unzähligen Zeitschriftenartikeln und Zeitungsausschnitten. Der Schreibtisch war Sammelfläche für eingehende Post, neu bestellte Bücher, Fax, Scanner, drei weitere PC’s usw.

Die Folge war, dass ich mich kaum noch dort aufhielt, sondernmit meinem kleinen Netbook fast alle Arbeit am Esstisch in der Küche erledigte. Vor zwei Wochen – kurz vor dem Messie-Stadium – sagte meine Frau den einfachen Satz:

“Warum räumst Du nicht einfach mal auf?”

Außerdem hatte sie noch die Idee, mich von einem Großteil meiner Bücher zu trennen und stattdessen eine Musik-Ecke einzurichten.

Erstaunlich, woher meine Frau immer wieder diese klasse Ideen hat. Und da sich – nach Erkenntnissen des Paarforschers John Gottman – die Qualität einer Ehe danach bemessen lässt, wie sehr der Mann auf Vorschläge seiner Frau eingeht, nahm ich ihre Frage mit dem Aufräumen nicht als Vorwurf oder als Einmischung in meine inneren Angelegenheiten, sondern als Frage und Vorschlag.

Und siehe da: die Idee hatte etwas.

Danach mistete ich eine Woche lange meine Bücherschränke aus, was schwieriger war als ich dachte. Denn dabei lernt man loslassen.

Ich nahm jedes einzelne Buch in die Hand und überlegte, ob ich es behalten oder weggeben wollte.
Dieses Vorgehen habe ich Jahre später bei Marie Kondo gelesen.

(Weggeben heißt in diesem Fall, für den nächsten Heidelberger Pfennigbasar zu spenden). Bei vielen fiel es mir leicht.  Bücher über Verkaufen, Moderation, Präsentation, Rhetorik, Kommunikationstrainings, Managementtechniken konnte ich leicht aussortieren, weil ich mir sicher bin, solche Methoden-Seminare nicht mehr zu leiten.

Behalten habe ich meine alten Ausbildungsbücher von und über Milton Erickson, alte Skripten aus meiner HAKOMI-Ausbildung und frühe Raubdrucke von Wilhelm Reich.

Schwieriger war es schon mit Büchern von Varela, Castaneda, Wilber, Senge, die mein Denken damals wesentlich beeinflusst haben. Auch von vielen spirituellen Büchern von Govinda, Dürckheim, Dethlefsen, Kornfield, Tolle trennte ich mich.

Ein motivierendes Buch, endlich mal aufzuräumen, ist dieses hier:

Beim Wegwerfen lernte ich zweierlei.

1. Dass es im Leben Grenzen gibt.
Das war mir zwar nicht neu aber das Aussehen meines Arbeitszimmers vor der Renovierung zeigte, dass ich mich doch gern um diese schmerzliche Erkenntnis drücken wollte. Denn wer immer mehr Bücher kauft und liest, muss irgendwann immer einige wegwerfen oder verkaufen oder in größere Räume umziehen. Oder wie ich, in ein anderes Zimmer umziehen.

Das mit den Grenzen ist ja heute nicht so populär. Wir mögen anscheinend lieber Sprüche wie “Alles ist möglich!” oder “Geht nicht, gibt’s nicht.”

Das heißt, das Ausdehnen von Grenzen oder deren Überschreitung wird als Vorteil gepriesen. Ganz so als wäre der Raum innerhalb der Grenzen gar nicht mehr wertvoll.

Mit meinem Zimmer machte ich jetzt die gegenteilige Erfahrung. Indem ich die Grenzen des Raumes respektierte und mich mit meiner Einrichtung daran einstellte, gewann ich plötzlich mehr Raum – auf denselben Quadratmetern.

2. Loslassen ist schmerzlich, tut aber gut.
Das Sortieren meiner Bücher und diversen Krimskrams war auch eine  Zeitreise durch mein Leben. Vieles fiel mir in die Hände, was prägend war und ich stand jetzt vor der Entscheidung, es zu behalten oder wegzugeben. Zum Beispiel Bücher von Max Frisch oder Hermann Hesse. Aber würde ich wirklich noch einmal den “Steppenwolf” lesen?

Es ging mir stellenweise so, wie einem Rentner, der in ein Altersheim zieht und seinen Besitzstand von einer großen Wohnung  auf ein Appartement anpassen muss. Das Gute daran ist, es wird einem bewusst, was einem wirklich wichtig ist. (So habe ich zum Beispiel die Gesamtausgabe von Simenons “Kommissar Maigret” aufgehoben. Ich hatte sie vor Jahren mal auf ebay ersteigert und mir vorgenommen, sie im Alter zu lesen.

Doch wann ist das? Manchmal wenn ich  meine Lesebrille suche oder mir ein Jazzpianist nicht einfällt, stöhne ich laut: “Ich werde alt!”. Worauf meine Frau darauf nur trocken antwortet: “Hoffentlich.

Nochmal zum Loslassen. In meinen buddhistischen Lehrjahren erwähnte Ole Nydahl mal in einem Vortrag, dass die jungen tibetischen Mönche, um sich auf das Sterben schon im Leben vorzubereiten, auf Friedhöfen meditieren. Konsequent wie ich damals war, setzte ich das einmal auf dem Heidelberger Bergfriedhof um.

Kurz vor 19 Uhr ging ich auf den Friedhof, ließ mich einschließen und suchte mir eine Bank aus. Zum Glück war ich warm angezogen, denn eine Nacht im Freien im November kann lang und kalt sein. Am Anfang erschreckten mich die vielen ungewohnten Geräusche der tierischen Friedhofsbewohner. Dann nach  Mitternacht wurde es sehr still.

Es war eine eigenartige Erfahrung, der einzige Lebende unter Tausenden von Toten zu sein, die alle ihr Leben schon hinter sich hatten. Einerseits bedrückend die Erkenntnis, auch einmal hier zu landen. Andererseits auch beruhigend, dass es unser aller Schicksalsende ist. Dass es für niemanden eine Ausnahme gibt, egal was jemand im Leben gemacht oder erreicht hat. Dass niemand etwas mitnehmen kann und dass jeder nur “zurückblicken” kann auf sein Leben.

Gegen Morgen weckten mich einige Eichhörnchen, die wohl verwundert waren, was ich hier machte und wohl auch enttäuscht, dass ich nichts zum Füttern dabei hatte.

musikeckeMein altes neues Zimmer wirkt jetzt ziemlich leer. Wo die vielen Bücher standen, habe ich jetzt eine Musikecke einrichtet. Mit meinen Gitarren, Keyboard, Drumcomputer und Mikrofonanlage will ich jetzt wieder mehr Jazz spielen und singen.

Mein Fazit: Sich von alten Sachen zu trennen, kann sehr befreiend sein. Doch es ist gar nicht so einfach. Denn es erinnert und konfrontiert einen mit der eigenen Erinnerung und dem eigenen Leben. Mit dessen Begrenztheit – aber auch der Möglichkeit innerhalb dieser Grenzen jeden Tag bewusst zu erleben.

PS: Das ist nach langer Zeit mal wieder ein Blogbeitrag von mir. In letzter Zeit hatte ich soviel um die Ohren (u.a. das zweite Buch), dass ich nicht zum Blogschreiben kam. Ich weiß noch nicht, ob ich wieder zu dem wöchentlichen Rhythmus zurückkehren will. Denn heute ist mein 61. Geburtstag und eines der Dinge, die ich mir künftig mehr gönnen will, ist Zeit. Also ungeplante, freie Zeit.

Apropos Alter. Einer der Geburtstagsgrüße war heute mit einem Spruch von Bob Hope verziert:
Du merkst, dass Du älter wirst, wenn die Geburtstagskerzen mehr kosten als der Kuchen.

kommentar Misten Sie auch manchmal aus? Und was? Wie geht es Ihnen dabei?

PS: Wenn Ihnen dieser Beitrag gefiel … dann empfehlen Sie ihn doch weiter.

… oder schreiben Sie einen Kommentar.

Oder abonnieren Sie meine Sonntagsperlen – oben links Ihre eMailadresse eintragen..

Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.