„Ich muss immer was zu tun haben“, sagte die Frau im Coaching.

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Bild: Mikel-Allica, photocase.de

„Es gibt immer was zu tun“ lautet der Slogan einer Baumarktkette. Dieses Motto gilt für viele Menschen, die dauernd beschäftigt sind, nie stillsitzen oder etwas in Ruhe genießen können. Doch was treibt diese Menschen zu dauernder Hektik? Ist es die Flucht vor der Stille oder vor etwas anderem? Bei meiner Klientin war es ein lange gehütetes Geheimnis.

„Dass ich mich bei Ihnen gemeldet habe, hat mit meiner Freundin zu tun. Mir ist das noch nie aufgefallen. Aber sie sagte, dass ich dauernd beschäftigt bin, dass ich dauernd etwas tun müsse.“

„Wie kam Ihre Freundin auf diesen Gedanken?“, fragte ich die neue Klientin im Online-Coaching, Greta T., 29 Jahre, Krankenschwester.
„Vor zwei Monaten hatte ich Geburtstag und habe meine Freundinnen eingeladen. Tage davor habe ich angefangen zu kochen und zu backen und die Wohnung zu dekorieren.“ 
„War es denn ein runder Geburtstag, dass Sie soviel vorbereitet haben?“, wollte ich wissen.
„Ach was, es war mein sechsundzwanzigster Geburtstag. Aber immer, wenn ich Gäste habe, artet das in viel Arbeit aus, so dass ich hinterher eine Woche brauche, um mich zu erholen.“

„Das heißt, an Ihrem Geburtstag können Sie sich gar nicht feiern lassen?“, vermutete ich.
„Ja genau, das war auch das, was meiner Freundin auffiel. Ich war dauernd auf den Beinen, schaute nach, ob alle zu trinken hatten, spülte zwischendurch schon mal die ersten Teller ab, fragte oft nach, ob jemand noch was braucht. Bis meine Freundin sagte, ich solle mich doch mal hinsetzen und meinen Geburtstag genießen.“
„Aber das klappte nicht so recht?“, fragte ich.
„Überhaupt nicht. Ich saß vielleicht fünf Minuten, konnte aber dem Gespräch gar nicht folgen, weil mich eine unerklärliche Unruhe erfasste. Dann sprang ich auf, ging in die Küche, um nachzuprüfen, ob der Wein für den Abend schon kalt genug war.“

Am anderen Tag bedankte sich meine Freundin für den schönen Geburtstag und fragte, warum ich dauernd beschäftigt sein müsse. Das wäre doch komisch.“

Eine häufige Antwort auf die Frage „Wie geht es dir?“ ist heute „Viel beschäftigt!“ oder „Viel zu tun!“ Auf Facebook posten viele Menschen über ihr unglaublich geschäftiges Leben. Prominente beklagen sich auf Twitter darüber, „kein Leben zu haben“, weil sie „so beschäftigt“ sind.

Viele Untersuchungen zeigen, dass Menschen von knappen Produkten angezogen werden, weil sie als wertvoller angesehen werden. „Nur noch zwei Paar verfügbar. Handeln Sie schnell!“ lautet die Aufforderung auf der Website für Schuhe.

Aber auch vielbeschäftigte Menschen können als knappe Ressource angesehen werden, weil sie wenig Zeit zur Verfügung haben oder das vorgeben. „Sie haben zwei Minuten!“, verkündet die Führungskraft dem Mitarbeiter, der eine Idee vortragen will. Wie bei einem seltenen Edelstein lässt diese vermeintliche Knappheit den Vorgesetzten im Status höher erscheinen.

Selbst Menschen im Ruhestand antworten auf die Frage nach dem Befinden oft: „Ich habe genug zu tun.“

Es lässt sich vermuten, dass der Grad des Beschäftigtseins eines Menschen auch mit seinem Selbstwertgefühl und der Einschätzung seines Status durch andere zusammenhängt. Wenn ich beobachte, dass mein Nachbar unter der Woche schon den zweiten Tag nachmittags im Garten sitzt, überlege ich, ob er krank, gekündigt oder im Urlaub ist. Nichtbeschäftigtsein als Alarmsignal.

Menschen, die freiwillig viel zu tun haben, fühlen sich gebraucht, gefragt und wichtig, was ihr Selbstwertgefühl steigert.

Die Statuswahrnehmung hat sich im Lauf der Jahrzehnte verändert. Früher waren es vor allem materielle Objekte und Güter, die den Status demonstrierten, wie dieser Fernsehspot aus den 90er Jahren zeigt:

Heute wird oft Menschen, die vielbeschäftigt oder überarbeitet sind und einen echten Mangel an Freizeit haben, ein höherer Status zugeschrieben.

Der Zwang, immer was zu tun, kann auch eine Flucht sein.

In ihrem Buch „Verletzlichkeit macht stark“ beschreibt Brené Brown betäubende Verhaltensweisen, die wir als Panzer gegen Verletzlichkeit einsetzen:
„Eine der universellsten Betäubungsstrategien ist das, was ich Crazy-Busy nenne. Ich sage oft, wenn sie anfangen, 12-Schritte-Treffen für Vielbeschäftigte zu veranstalten, werden sie Fußballstadien mieten müssen. Wir sind eine Kultur von Menschen, die sich in die Idee eingekauft haben, dass uns die Wahrheit unseres Lebens nicht einholen wird, wenn wir nur beschäftigt genug sind.“

„Finden Sie denn auch, dass Sie dauernd beschäftigt sein müssen“, fragte ich.
„Nachdem meine Freundin das auf dem Geburtstag gesagt hatte, habe ich mal darauf geachtet. Und es stimmt. Ich bin Krankenschwester in einer Klinik. Da gibt es ja sowieso genug zu tun. Aber mir fiel auf, dass ich in den wenigen Pausen, die wir haben, auch immer was zu tun habe.“
„Wie meinen Sie das?“
„Na, die anderen trinken ihren Kaffee, erzählen, lachen … und ich spüle die dreckigen Tassen, räume auf, schau nach, ob genug Milch da ist und so.“
„Würden Sie denn nicht gern auch bei den anderen sitzen und Ihre Pause genießen?“,
wollte ich wissen.
„Eigentlich schon, ich habe es auch schon mal ausprobiert. Habe die schmutzigen Tassen stehenlassen und mich zu den anderen gesetzt. Aber dann kam wieder diese Unruhe in mir auf. Erst als ich wieder aufstand und mich nützlich mache, ging das unangenehme Gefühl wieder weg. Ich verstehe das nicht.“

Immer was zu tun vs. produktiv.

Um Job, Familie & Co. unter einen Hut zu bringen, ist das Gefühl, dauernd beschäftigt zu sein, gut nachvollziehbar. Gerade auch im letzten Jahr mit den zusätzlichen Belastungen durch Corona.

Doch viele Menschen haben gar keine Kinder oder diese sind längst aus dem Haus und es müsste also deutlich mehr freie Zeit dasein. Aber viele Menschen sind dann trotzdem dauernd im Aktivmodus.

Beschäftigt zu sein, also immer was zu tun haben und produktiv sind nicht dasselbe.
Wenn Sie beschäftigt sind, haben Sie vielleicht eine Menge zu tun, aber das bedeutet nicht unbedingt, dass Sie produktiv sind oder Ihre Zeit effizient nutzen. Produktiv zu sein bedeutet, in der Lage zu sein, eine Aufgabe abzuschließen oder etwas zu erledigen. Sie müssen nicht dauernd was tun, um produktiv zu sein.

Beschäftigt zu sein hat damit zu tun, wie Sie Ihre Zeit verbringen, während Produktivität mehr damit zu tun hat, was Sie erreichen.

„Ist das nur privat so oder haben Sie im Job auch immer etwas zu tun“, fragte ich die Klientin.
„Im Job ist es fast noch schlimmer!“, lachte sie auf. „Als Krankenschwester in der Notaufnahme kontrolliere ich den Zustand der Patienten, messe und dokumentiere Blutdruck, Temperatur usw., überwache die Monitore, verabreiche die Medikamente, die der Arzt angeordnet hat und assistiere manchmal den Ärzten. Und für die Patienten und die Angehörigen bin ich natürlich auch die Ansprechpartnerin.“
„Klingt nach sehr viel Arbeit!“ kommentierte ich.
„Ja, aber ich mache noch viel mehr. In meinem Kalender habe ich vermerkt, wann jemand auf Station Geburtstag hat. Wochen davor horche ich den Betreffenden aus, über was für ein Geschenk er sich freuen könnte und sammle dann bei allen das Geld dafür ein. Den Kuchen backe ich auch und dann trommle ich alle zusammen, wir singen „Happy birthday!“ und ich überreiche das Geschenk im Namen aller.“

Ich bekam ein bedrückendes Gefühl, als ich hörte, wie sehr sich Greta T. ins Zeug legte, um es möglichst allen recht zu machen. Um den möglichen Grund für dieses Verhalten herauszufinden, probierte ich aus, gedanklich dieses Schlupfloch zu verschließen.

Wenn Menschen bestimmte Gefühle oder Situationen nicht erleben wollen, suchen sie ein Schlupfloch. Verschließt man so ein Schlupfloch, kommt manchmal heraus, was der Mensch damit vermeidet.

„Angenommen, Sie würden all diese Zusatzaufgaben im Job nicht tun, was wäre dann“, fragte ich.
„Aber ich mach das ja total gern!“, entgegnete die Klientin.
„Ich weiß, aber mal angenommen, Sie würden nur Ihren Job tun und keine Extraaufgaben wie das mit dem Organisieren der Geburtstage übernehmen, wie wäre das für Sie?“
„Ich würde mich nicht gut fühlen“, antwortete Greta T. nach einer Weile.
„Was heißt, nicht gut fühlen? Wie würden Sie sich fühlen?“
„Irgendwie unnütz, überflüssig, wie ein Schmarotzer.“
„Aber Sie tun doch Ihre Arbeit dort, reicht das nicht?“
„Anscheinend nicht. ich weiß, dass das blöd ist, aber ich denke so.“

Mir fiel dazu das Lebensthema „Nicht existieren dürfen“ ein.
Menschen mit diesem Thema glauben, keine Daseinsberechtigung zu haben und leben oft dementsprechend. Oder sie versuchen, sich diese Existenzberechtigung zu verdienen, indem sie gebraucht werden. Demzufolge opfern sie ihre ganze Zeit und Energie, um anderen zu helfen und zu dienen. Das können die Familie, die Eltern, der Beruf sein – oft alle drei Bereiche.

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Körperliche Symptome als Wegweiser für Konflikte.

Mir war im Gespräch aufgefallen, dass Greta T. zweimal eine starke Unruhe erwähnte, wenn sie versuchte, nicht dauernd was zu tun. Solche „Symptome“ sind im Coaching oft wegweisend, denn diese Symptome treten ja bei Klienten unwillkürlich auf. Man kann annehmen, dass sich das Unbewusste hierüber äußert.

Wichtig ist jetzt, die verborgene Sprache dieser Symptome, die mit ihrem Auftreten verknüpft ist, zu entschlüsseln. Ich wende hier meist die Methode des Focusing an. Sie stammt aus der Humanistischen Psychotherapie, um unterschwelliges Erleben zugänglich zu machen und in Worte fassen zu lernen. Dabei geht man davon aus, dass die Bedeutung einer Situation sich zuerst im Körper repräsentiert und erst danach Teile davon bewusst zugänglich werden.

„Wo genau spüren Sie denn die Unruhe, wenn Sie mal nicht beschäftigt sind?“ fragte ich Greta T.
„Ich glaube, im Bauch.“
„Und wo genau da?“
„Etwa hier“, antwortete die Klientin und deutete auf Ihren Oberbauch.
„Und ist diese Unruhe mehr an der Oberfläche oder mehr im Inneren Ihres Körpers?“ forschte ich weiter.
„Hm, schwer zu sagen … vielleicht doch mehr im Inneren.“

Durch solche präzisierenden Fragen hilft man dem Klienten, mehr in Kontakt mit der körperlichen Erfahrung zu kommen und gleichzeitig seine Achtsamkeit zu vertiefen. Die Antworten sind weniger wichtig, entscheidend ist der intensive Kontakt, den die Klientin zu ihrer Körpererfahrung bekommt.

„Und wenn diese Unruhe da in Ihrem Bauch eine Farbe hätte – welche Farbe wäre das?“
„Ein dunkles Rot“,
gab Greta T. zur Antwort.
„Und wenn Sie sich mal vorstellen, diese dunkle rote Unruhe in Ihrem Bauch hätte Worte zur Verfügung, sie könnte sprechen … was könnte die Unruhe sagen?“

Das ist der wichtigste Teil dieser Technik. Wir versuchen, der gefühlten Körperempfindung noch näher zu kommen und ihre symbolisierte Bedeutung zu erfahren. Das klappt nicht immer, denn es hängt von der Kooperationsbereitschaft des Unbewussten und der Achtsamkeit der Klientin ab. Aber bei Greta T. gelang es.

„Da kommt so eine scharfe Stimme, die sagt: Sitz nicht so rum, tu gefälligst was!!“
„Oh, und warum sollen Sie nicht so rumsitzen?“,
fragte ich.
„Um mich nützlich zu machen“, antwortete Greta T.
„Sie meinen, damit Sie sich nicht als Schmarotzer fühlen?“

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Bild: van Kaarpov, iStock.com

Der Fische ist der letzte, der das Wasser entdeckt.

Dieser Satz beschreibt den Umstand, dass wir für das, was uns täglich umgibt, blind sind.

Welch ein Luxus es ist, dass aus dem Wasserhahn zu Hause sauberes Wasser kommt. Dass der nächste Arzt oder das nächste Krankenhaus nicht weiter als eine halbe Stunde entfernt ist. Dass die Erdanziehung dafür sorgt, dass meine Kaffeetasse auf dem Tisch stehen bleibt, obwohl wir doch gerade alle durch das Weltall rasen.

In gleicher Weise sind wir auch für unsere prägendsten Gedanken, unsere Glaubenssysteme, unsere Lebensthemen blind. Wir wiederholen sie jeden Tag. Wir leben sie – und es fällt uns gar nicht auf, so wie der Fisch das Wasser nicht bemerkt. Erst einem aufmerksamen Zuhörer fällt das vielleicht auf. Es muss aber ein Außenstehender sein. Eine Freundin, ein Fremder im Zugabteil – oder ein Coach. Die haben die notwendige Beobachtungsdistanz.

Lebensthemen sind oft erlebte aber verdrängte Erfahrungen von früher, die immer wieder durch aktuelle Anlässe getriggert werden. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch unser Leben ziehen und beschränken unsere Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten. Es sind Denk- und Handlungsmuster, die wir im Zusammenhang mit prägenden Lebensereignissen entwickelt haben und für die wir bevorzugte Strategien gefunden haben. Oft werden diese Strategien Teil unserer Identität. Das macht es noch schwieriger, sie selbst zu erkennen oder zu verändern. Erst das geschulte Auge und Ohr des dafür geschulten Coaches erkennt hinter den Worten das anklingende Lebensthema.

Meist sind es bestimmte Redewendungen oder Ausdrücke, die auf ein Lebensthema hinweisen. Zum Beispiel:

  • „Ich freu mich nicht im voraus, dann bin ich hinterher auch nicht so enttäuscht.“
  • „Entweder ganz oder gar nicht.“
  • „Manchmal denke ich, ich bin auf dem falschen Planeten gelandet.“
  • „Irgendwann kommt raus, dass ich gar nichts kann.“
  • „Wenn ich eine Zwei nach Hause brachte, hieß es: Und wer hat eine Eins.“
  • „Immer wenn etwas Gutes passieren könnte, mach ich es kaputt.“
  • „Meine Mutter hat mich vergöttert, tut es eigentlich heute noch.“
  • „Ich brauche nicht viel. Hab gelernt, mit wenig glücklich zu sein.“
  • „Wenn ich jemand enttäusche, fühle ich mich gleich schuldig.“

Bei Greta T. war es der Satz „Besser nicht rumsitzen, sondern sich nützlich machen“, der mich aufhorchen ließ. Doch welche Geschichte steckte dahinter?

 

Zwei Fragen, für die ein Kind täglich Antworten sucht.

Im Gehirn schlagen sich Denken und Lernen auf verschiedene Weise nieder: Bei jeder Interaktion zwischen (Klein-) Kind und Umwelt reagieren zunächst Tausende von Gehirnzellen. Bestehende Verbindungen zwischen ihnen werden intensiviert, neue ausgebildet.

Treten nun wiederholt ähnliche Eindrücke, Wahrnehmungen und Erfahrungen auf, schleifen sich bestimmte Bahnen ein. Das heißt, ähnliche Signale folgen immer häufiger demselben Weg, der durch bestimmte, bei wiederholter Stimulierung stärker werdende chemische Signale in den Synapsen zwischen den Neuronen markiert wird. Haben diese Signale eine von Gehirnregion zu Gehirnregion unterschiedlich große Stärke erreicht, wird diese Bahn auf Dauer (bis in das Erwachsenenalter hinein) beibehalten. Es wird eine breite Autobahn.

Aus meiner Sicht ist ein Kind in seiner Entwicklung in den ersten zehn bis zwölf Jahren immer wieder mit zwei Fragen beschäftigt:

  1.  Wo bin ich hier eigentlich gelandet?
  2.  Was muss ich tun, damit meine wichtigsten Bedürfnisse erfüllt werden.

Aus den täglichen Situationen und Interaktionen sucht und findet das Kind seine individuellen Antworten. Dabei geht es um Themen, wie ich sie in den zwölf Lebensthemen beschrieben habe.

„Im Vorbereitungsbogen erwähnten Sie, dass Ihre Mutter bei Ihrer Geburt recht jung war“, sagte ich zur Klientin.
„Meine Mutter war achtzehn, mein Vater ein halbes Jahr älter. Sie waren in derselben Klasse und natürlich überhaupt nicht auf ein Kind eingestellt. Deshalb wuchs ich auch die ersten vier Jahre während der Woche vor allem bei meiner Oma auf.“
„Wie war es dort für Sie?“
„Ich habe gute Erinnerungen an sie. Die mochte mich sehr, weil sie früh Witwe wurde und in mir eine neue Lebensaufgabe sah.“
„Das heißt, bei ihr waren Sie willkommen?“,
war meine Vermutung.
„Ja, das stimmt. Im Gegensatz zu meiner Mutter. Einmal, da war ich vielleicht sieben Jahre oder acht, war meine Mama sauer auf mich und schrie mich an: ‚Du kannst froh sein, dass du überhaupt hier bist!“

Haben Sie verstanden, was Ihre Mutter damit andeuten wollte?“, fragte ich Greta T.
„Nein, deswegen fragte ich am anderen Tag meine Oma. Erst druckste sie eine Weile rum und sagte dann: ‚Vielleicht sollte ich es dir nicht sagen, aber irgendwann erfährst du es ja doch. Deine Mutter wollte dich nicht. Sie wollte dich wegmachen lassen, aber es klappte nicht.“
„Das muss schlimm für Sie gewesen sein, oder
?“
„Ich verstand es damals nicht so genau aber ich spürte, dass etwas grundsätzlich an mir falsch sein musste.“


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Der lange Schatten der Kindheit.

Auch wenn viele Menschen nicht glauben, dass die Kindheit einen großen Einfluss auf das spätere Leben hat, zeigen Studien ganz klar, dass die ersten drei bis sieben Jahren die Grundlage für seelische Stabilität und körperliche Gesundheit bilden. Deshalb ist es entscheidend, was und wer uns in dieser Zeit begegnet.

Zwar beginnt das Erinnerungsvermögen erst ab dem dritten Lebensjahr, doch sind frühere Erfahrungen in unserem Körpergedächtnis gespeichert. Vor allem diese unbewussten Erfahrungen steuern unser Verhalten.

Die Pränatalpsychologie hat in mehreren Studien gezeigt, dass ungewollte Kinder einen schwierigen Start ins Leben haben und auch danach überzufällig mit Problemen zu kämpfen haben. Bei emotionaler Ablehnung der Schwangerschaft treten während der Schwangerschaft und der Geburt eher Komplikationen auf. Die Neugeborenen aus abgelehnten Schwangerschaften sind auffälliger oder gestörter als die aus gewünschten Schwangerschaften. Der Grund: Der Fötus bekommt den durch die Ambivalenz verursachten Stress der Mutter oder des Paares über den Blutkreislauf direkt mit.

„Wie war das Zusammenleben mit Ihrer Mutter, Woran erinnern Sie sich besonders?“, fragte ich Greta T.
„Sie war oft gestresst, kam schon von der Arbeit so nach Hause. Sie rührte irgendein Essen zusammen und las Zeitung, während wir aßen. Ich fühlte mich oft wie ein Geist, weil sie kaum mit mir redete, stattdessen lieber mit irgendwelchen Männern telefonierte.“
„Wie haben Sie das ausgehalten?“ wollte ich wissen.
„Als ich lesen konnte, habe ich dann auch viel gelesen. Meistens Geschichten, wo was Schlimmes zu Anfang passierte und die aber dann gut ausgingen. Die Wende kam, als ich eines Tages den Tisch schon gedeckt hatte, als meine Mutter nach Hause kam. Danach erkundigte sie sich sogar, wie es in der Schule gewesen sei, was sie bis dahin noch nie gemacht hatte.“
„Das muss Sie sehr gefreut haben“, vermutete ich.
„Ja natürlich, ich merkte zum ersten Mal, dass sie mich wahrnahm, und zwar positiv. Nächsten Tag macht ich Rührei für uns beide zum Abendessen. Was anderes konnte ich nicht. Wieder war meine Mutter ziemlich überrascht, sagte aber nichts. Aber ich nahm an, dass sie sich ein bißchen freute.“
„Normalerweise sorgt ja die Mutter für das Kind, aber Sie fingen an, für Ihre Mutter zu sorgen.“

In ihrem 1979 erschienenen Buch „Das Drama des begabten Kindes“ beschreibt Alice Miller, wie solche „begabten“ Kinder die bewussten oder unbewussten Wünsche der Eltern spüren und sich ihnen anpassen, um sich die zum Überleben notwendige Aufmerksamkeit der Eltern zu sichern. Dabei müssen sie die eigenen Bedürfnisse verleugnen, die durch den Drang nach Anpassung überdeckt werden. Sie entwickeln ein falsches Selbst.

Ein Satz, der das Lebensthema deutlich macht.

Bei meinem Coachingansatz geht es nicht vor allem um ein verstandesmäßiges Verstehen, womit das gegenwärtige problematische Erleben zusammenhängt. Deswegen reicht Reden auch nicht. Vielmehr muss vom Klienten emotional erlebt werden, wo er unbewusst festhängt und wie sein Aufsuchen des Schlupflochs eine äußerst kreative Leistung darstellt.

Deshalb bilde ich Hypothesen, wie das problematische Verhalten, bei Grete T. die zwanghafte Beschäftigtsein für andere, mit frühen Kindheitserfahrungen, zusammenhängen. Wenn ich eine Hypothese habe, mache ich daraus einen positiven Satz, in der Annahme, dass wenn die Klientin den Satz achtsam sagt, sie dem nicht zustimmt, sondern eine starke Ablehnung äußert.

Deshalb hat ich Grete T., es sich bequem zu machen, die Augen zu schließen und dann vor sich hin zu sagen:

„Ich bin ein Geschenk.“

Die Augen der Klientin füllten sich mit Tränen.
„Das stimmt nie und nimmer“, sagte sie leise. „Und das hat auch noch nie gestimmt.“

„Wenn Sie kein Geschenk sind, was sind Sie denn dann?“ hakte ich ein.
Grete T. brauchte für ihre Antwort nur einen kurzen Moment.
„Ich bin eine Belastung, ich bin ein Störfaktor! Ich bin für niemand ein Geschenk.“

Jetzt lag es an mir, die wichtigsten Elemente, die bisher im Coaching zur Sprache gekommen waren, zusammenzufügen.

„Ja, für Ihre Mutter hat das gestimmt. Für sie waren Sie eine Belastung, ein Störfaktor, weil Sie ungeplant entstanden sind. Ihre Mutter wollte Sie sogar abtreiben, so sehr störten Sie sie in ihrer Lebensplanung. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.“

Grete T. schaute mich aus ihren verweinten Augen aufmerksam an.

„Welche andere Wahrheit gibt es denn noch?“
„Nun, die Wahrheit, dass jedes Kind, das auf die Welt kommt, ein Geschenk des Lebens ist. Vielleicht nicht für jeden, zum Beispiel nicht für Ihre Mutter. 
Aber jedes Kind ist ein Geschenk, weil dadurch das Leben weitergegeben wird. Und das ist das größte Geschenk, das es überhaupt gibt.
Weil Sie von Ihrer Mutter wie ein Störfaktor erlebt und behandelt wurden, haben Sie ganz früh begonnen, sie bloß nicht weiter zu belasten, sondern haben versucht, ihr das Leben zu erleichtern. Deswegen fingen Sie an, den Tisch zu decken und Rührei zu braten. Weil Sie sich so unerwünscht fühlten, glaubten Sie schon von klein auf, dass Sie sich Ihre Existenzberechtigung verdienen mussten.
Und im Grunde glauben Sie das noch heute, wenn Sie in der Klinik sich um die Geburtstagsorganisation eines Kollegen kümmern. Aber die eigene Existenz, das Leben, kann man sich nicht verdienen. Sie wird einem geschenkt.“

Ich machte eine Pause, um die Worte wirken zu lassen und Grete T. zu ermöglichen, ihre Gefühle zu verarbeiten.

„Das ist ein schöner Gedanke, dass jeder ein Geschenk ist. Aber ich fühle das nicht. Ich fühle eigentlich immer schnell, dass ich störe oder überflüssig bin …“
„Und dann versuchen Sie schnell, sich nützlich zu machen, dauernd für andere beschäftigt zu sein, in dem Glauben, dass Sie so ihr Hiersein rechtfertigen, Ihre Existenzberechtigung verdienen  könnten. Und wenn Sie das mal nicht tun, kommt diese Unruhe, die Sie wieder dazu bringt, irgendwas zu tun – für andere.
Aber genau dadurch beweisen Sie sich auch immer wieder, dass Sie eigentlich eine Belastung sind. Es sei denn, Sie machen sich nützlich.“

„Ja, das stimmt“, stimmte die Klientin zu.
„Aber schauen Sie, für Ihre Oma waren Sie ein Geschenk. Einfach dadurch, dass es Sie gab und Sie so waren, wie Sie waren.“

Manchmal braucht es im Coaching einen Erkenntnissprung beim Klienten, den man nicht machen oder erklären kann. Ich nutze dann oft eine Geschichte oder eine Metapher.

„Warum sind Rosen so prächtig und verströmen so freigiebig ihren Duft?
Der Biologe sagt, das sei der Trick der Natur, um Bienen anzulocken und so die Verbreitung nachkommender Rosen zu sichern.
Der Poet sagt, um den Betrachter zu erfreuen und ihn daran zu erinnern, wie viel Schönes es auf der Welt gibt.“

Darauf sagte die Klientin: „Ich verstehe jetzt besser, wie das alles zusammenhängt und wie ich mir mit dem Glauben, dass ich ein Störfaktor sei, das Leben schwermache. Aber wie höre ich damit auf? Und wer bestimmt heute, ob ich eine Belastung oder ein Störfaktor bin?“

„Das sind zwei sehr gute Fragen“, sagte ich und beendete das Coaching.


 

Zwei Tage nach dem Coaching bekam ich eine Mail von Grete T., in der sie sich wütend beklagte, ich hätte „sie total im Regen stehen lassen“, weil ich auf Ihre beiden Fragen nicht geantwortet hatte. Dieser Punkt ist im Coaching immer kritisch.

Mein Coachingansatz basiert ja auf der Annahme, dass ein Symptom (immer beschäftigt sein) immer sinnvolle Funktionen hat. Deswegen kann man das Symptom nicht einfach aufgeben oder ändern, weil man eben für die Funktion nicht gleich ein anderes Verhalten parat hat.

Würde ich Vorschläge dazu machen (Sagen Sie öfter nein, Sie müssen es nicht immer allen recht machen, genießen Sie doch Ihre freien Zeiten …) würde das nichts bringen. Die Klientin würde sagen, dass sie sich das nicht traut, dass sie das schon probiert hätte …

Ich war über die Mail ganz froh, dass die Klientin ihren Ärger und ihre Enttäuschung so offen zeigte. Das erwähnte ich aber nicht, sondern schrieb ihr, dass sie sich jeden Morgen vornehmen solle, genau mitzukriegen, wann sie sich am Tag als Störfaktor oder Belastung fühlte. Und dann diese Momente in einem Notizheft festhalten sollte. Und zwar nach dem Schema:
1. Was passiert genau in der Situation?
2. Welche Gedanken während und nach der Situation konnte ich wahrnehmen?
3. Welche Gefühle konnte ich während und nach der Situation wahrnehmen?

Nach vier Monaten kam wieder eine Mail von Grete T. Sie habe etwas Wichtiges herausgefunden. Wenn sie etwas tue und jemand bemerke das nicht oder reagiere neutral, dann fühle sie sich als Belastung, werde sie unruhig und forciere ihre Anstrengung. Reagiere jemand dagegen positiv, entspanne sie sich. Sie probier auch aus, die Unruhe länger auszuhalten und nicht durch Aktivität zu ersetzen. Dabei denke sie manchmal an mein Beispiel mit den Rosen und könne sich jetzt manchmal leichter für die Sichtweise des Poeten entscheiden.

Ich schrieb zurück, dass ja beide, Biologe wie Poet, Recht hätten mit ihrer Begründung.
Zum Glück könne man oft im Leben selbst bestimmen, was man glauben will.



Hier lesen Sie weitere Fallberichte aus meiner Coaching-Praxis:

Business-Coachings

Life-Coachings

PS: Alle Fallgeschichten sind real, aber so verfremdet, dass ein Rückschluss auf meine Klienten nicht möglich ist und die Vertraulichkeit gewahrt bleibt.


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Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.