„Für mich gibt’s nur alles oder nichts!“, sagte der Mann im Lebensthemen-Coaching.

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Bild: francescoch iStock.com

Das „Alles-oder-nichts-Denken“ ist der Versuch, der Ambivalenz des Lebens zu entkommen. Doch nichts im Leben ist ganz schwarz oder weiß, völlig richtig oder ganz falsch. Menschen, die nur in solchen extremen Positionen denken, fürchten die Vielfalt, weil sie die Orientierung verlieren. Doch wie entsteht dieser extreme Denkstil? Lesen Sie hierzu meinen neuen Fallbericht.

„Meine Probleme habe ich bisher immer selbst gelöst. Und zwar schnell radikal. Immer nach dem Prinzip: „Alles-oder-nichts.“ Damit bin ich gut gefahren. Keine Kompromisse! Kompromisse sind etwas für Weicheier. Verstehen Sie, was ich meine?“

Im 3-h-Online-Coaching saß mir Uwe K. gegenüber, 63 Jahre, Projektleiter in einer großen Firma, seit einem Dreivierteljahr freigestellt.

„Dass Sie unter keinen Umständen ein Weichei sein wollen, habe ich bis jetzt am meisten verstanden“, antwortete ich.
„Genau!“, sagte der Klient, „und jetzt bin ich doch eins geworden. Hänge seit Monaten zu Hause rum, kann mich zu nichts aufraffen, habe an nichts Interesse. Es ist zum Kotzen!“

Mein erster Gedanke war, vielleicht eine reaktive Depression wegen der Freistellung, die bei dem Alter auch den Abschied vom Berufsleben bedeuten kann.

Den Übergang ins Rentnerleben stellen sich die meisten Menschen ja wunderbar entspannend vor. Jeden Tag ausschlafen, ohne Hektik in einem Café frühstücken. Später vielleicht durch die Stadt bummeln oder in ein Museum gehen. Abends Freunde treffen, essen und diskutieren, ohne sich mit Blick auf den nächsten Morgen rechtzeitig verabschieden müssen.

Endlich die Ölfarben auspacken, die seit Jahren in der Schublade verstauben, vielleicht die Geige vom Dachboden holen und ihr wieder Töne entlocken, die Enkelkinder besuchen, im Garten aufräumen, ausgedehnte Radtouren machen, ohne Rücksicht auf Dienstpläne nach Lust und Laune verreisen, solange das Geld reicht, am helllichten Tag Romane lesen oder vielleicht selbst einen schreiben.

Auch Uwe K. hatte solche Phantasien gehabt. Doch jetzt nach einem halben Jahr sind die bunten Bilder vom geruhsamen Nichtstun zerstoben.

„Ich wache jeden Morgen mit einer Beklemmung auf, die ich mir nicht erklären kann. Finanziell habe ich durch eine üppige Abfindung ausgesorgt. Ich muss mich um niemanden kümmern, bin gesund. Aber nach dem Aufwachen habe ich schlechte Laune. Wälze mich hin und her. Bin unschlüssig, ob und wann ich aufstehen soll.“

„So, Ihr Alles-oder-Nichts-Prinzip funktioniert nicht mehr?“ fragte ich. Es war mitfühlend gemeint, könnte aber auch als schadenfroh empfunden werden.
„Wie kam es denn, dass Sie Ihren Arbeitsplatz verloren?“, fragte ich.
„Ich habe den nicht verloren, ich habe gekündigt!“, widersprach mir der Klient heftig.
„Die Firma wurde von einem amerikanischem Unternehmen aufgekauft. Plötzlich gab es für meine Position angeblich keine Verwendung. Kündigen wollte man mir nicht wegen meiner langen Betriebszugehörigkeit. Zur selben Zeit startete man so ein Frühpensionierungsprogramm, das habe ich dann angenommen. Aber die Entscheidung ist mir gar nicht bekommen. Ich hänge seitdem nur noch depressiv herum.“

„Was sagt Ihre Frau dazu?“
„Selber schuld, würde sie sagen. Aber wir leben nicht mehr zusammen. Ich war über zwanzig Jahre mit ihr verheiratet. Eines Tages, eigentlich besser eines Nachts ging sie auf einer Party fremd. Obwohl sie es mir gleich beichtete und es ihr leid tat, war für mich die Sache erledigt. Ich reichte sofort die Scheidung ein, das war vor fünf Jahren. Seitdem lebe ich allein.“
„Haben Sie Kinder?“
„Nein, meine Frau wollte damals ein Kind. Aber als ich zu ihr sagte, dann müsse sie sich auch um das Kind allein kümmern, ließ sie davon ab. Für mich sind Kinder anstrengend, dauernd haben sie was, muss man sich Sorgen machen, ob sie richtig geraten. Das wäre mir zu viel gewesen.“

„Sie haben eine Vorliebe für schnelle, einsame Entschlüsse“, sagte ich, weil ich ein Verhaltensmuster zu erkennen glaubte.
„Kann sein. Halbe Sachen mag ich nicht. Entweder ganz oder gar nicht, ist da meine Devise.“
„Ah ja, Sie erwähnten das bereits: Kompromisse sind für Weicheier.“
„Mein Vater war genauso. Mit 47 landete er nach einem schlimmen Autounfall im Rollstuhl. Ein halbes Jahr später brachte er sich um. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: Lieber gleich tot als lebenslang Krüppel und auf fremde Hilfe angewiesen.“

„Wie war das für Sie?“
„Ich fand das konsequent, so hat er immer gelebt. Niemals eine Schwäche zeigen. Ich denke, ich habe in der Hinsicht viel von ihm geerbt.“
„Nun, was Sie auch geerbt haben, ist seine Haltung, dass es besser ist, selbst zu verlassen als verlassen zu werden.“


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Alles oder nichts gehört zu einem bestimmten Lebensthema.

Lebensthemen sind Grundüberzeugungen, worum es im Leben vor allem geht. Als Kind können wir nicht einfach drauflos leben. Vielmehr sind wir aufgrund unserer totalen Abhängigkeit von anderen laufend mit zwei Fragen beschäftigt:

  • Wo bin ich hier gelandet?
  • Was muss ich tun oder wie muss ich sein, damit ich versorgt werde?

Ein Baby, das hungrig ist, macht auf sich aufmerksam durch unruhiges Verhalten und Töne. Es dreht seinen Kopf rasch hin und her, ballt die Fäustchen, schmatzt, fängt an zu strampeln.

Aufmerksame Mütter und Väter lernen, diese Zeichen wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und das Kind zu füttern. Das Baby lernt also, durch nonverbale Zeichen auf sich aufmerksam zu machen. Führt das nicht zum erwünschten Verhalten der Mutter, wird der Säugling die Signalstärke erhöhen. Er fängt an zu weinen oder zu schreien.

In einer Studie las ich, dass Kinder von drogenabhängigen Müttern sich dagegen auffallend still verhalten, auch wenn sie hungrig sind. Sie haben durch Erfahrung gelernt, dass Schreien und Weinen nichts bringt. Die Mütter reagieren eher, wenn das Kind längere Zeit ganz ruhig ist.

Was macht eine Dreijährige, die ein Bild gemalt hat?
Sie heftet es nicht ab oder wirft es weg. Nein, sie läuft zu einem Erwachsenen und sagt: „Guck mal!“

Die angemessene Reaktion auf dieses „Guck mal!“ ist ein anerkennender Ein-Wort-Satz („Toll!“) oder ein etwas längerer Satz („Das ist aber ein schönes Bild!“) Danach ist das Kind zufrieden, geht zurück, malt noch etwas oder spielt etwas anderes. Mit dem Zeigen seines Bildes nimmt es Beziehung zu einem Erwachsenen auf und bittet um ein Feedback für seine „Leistung“.

Das Selbstwertgefühl von Kindern entwickelt sich u.a. aus dem Erleben von Leistung.
Hinzu kommt das Element der Konkurrenz. Für das Kleinkind ist das Baby der Maßstab, dass es schon weiter ist. Der Fünftklässler erlebt, dass er in vielem mehr weiß und kann als der Drittklässler. Vor allem in der Entwicklung von Jungen ist der Platz auf einer imaginären Rangreihe oft ein Ansporn. Wer kennt die besten Witze? Wer kann am schnellsten rennen?

Bis weit ins Erwachsenenleben gilt dieses olympische Motto des „Höher, schneller, weiter“. Wenn wir unser Selbstbewusstsein vor allem aus der persönlichen Leistungsfähigkeit beziehen, geraten wir irgendwann in die Falle des Beweisen-Müssens. Denn das fortschreitende Altern zeigt uns, dass wir nicht immer mit anderen mithalten können. Hieraus kann sich Angst vor dem weiteren Alterungsprozess entwickeln. Wie bei meinem Klienten.

Was mir die Redeweise eines Klienten verrät.

Wie, worüber und wieviel ein Klient im Coaching spricht, liefert mir wichtige Hinweise auf seine Persönlichkeit. Das spreche ich manchmal an.

„Mir fällt auf, dass Sie recht sparsam kommunizieren.“
„Was meinen Sie damit?“
„Nun, sie reden eigentlich nur, wenn ich eine Frage stelle. Und auch dann ziemlich kurz. Fast so, als würde ich ein Interview mit Ihnen machen und Sie wollten aber nicht viel preisgeben.“
„Ja, was soll ich denn viel erzählen?“
fragte etwas ratlos Uwe K.
„Na ja, was Ihnen so einfällt. Erinnerungen, Gedanken, Fragen, all sowas.“
„Und das interessiert Sie?“, war die ungläubige Frage.

„Aber sicher. Das scheint Sie zu überraschen. Hat man denn in Ihrer Herkunftsfamilie nicht auch über Persönliches gesprochen? Was einen beschäftigt, was man sich wünscht, wovor man Angst hat.“
„Dass meine Eltern persönlich miteinander gesprochen hätten, daran kann mich nicht erinnern. Meine Mutter telefonierte viel mit ihrer Mutter und mein Vater hatte nur Freunde, mit denen er regelmäßig auf die Jagd ging.“
„Na, bei der Jagd darf man ja nicht reden.“

„Haben Sie unter dieser Sprachlosigkeit denn nicht gelitten? In den Familien Ihrer Freunde haben Sie doch auch etwas anderes erlebt?“
„Wie kann man unter etwas leiden, was man nicht kennt? Aber ja, das fiel mir natürlich auf, dass in anderen Familien mehr und zwar mit allen geredet wurde. Ich habe mich dann aber ganz darauf konzentriert, möglichst in allem der Beste zu sein. In der Hoffnung, dass das meinen Eltern mal auffällt und sie mich dafür anerkennen.“
„Hat das geklappt?“
„Überhaupt nicht. Ich war Schulsprecher und durfte bei der Abifeier die Rede halten. Dafür habe ich mich wochenlang vorbereitet, damit sie möglichst perfekt und trotzdem unterhaltsam wird. Die Rede kam auch super an – aber meine Eltern waren gar nicht erschienen. Als sie mich am anderen Morgen fragten, wie es denn war, konnte ich vor Wut und Enttäuschung nur in mein Zimmer laufen und die Tür hinter mir zuschlagen.“
„Bei so vielen Enttäuschungen war es vermutlich sicherer, nichts mehr zu sagen und auch nichts mehr zu wollen.“

Woran erkennen Sie das Alles-oder-nichts-Denken?

Menschen mit diesem Denkstil denken oft in Extremen und glauben, dass etwas nur gut oder nur schlecht ist, ohne einen Mittelweg zu finden. Diese kognitive Verzerrung verhindert, dass sie die Welt so sehen, wie sie eben oft ist: komplex, vielfältig, nuanciert und voller Zwischentöne und Gegensätze.

Das zeigt sich auch in ihrer Sprache und dem häufigen Gebrauch von Wörtern wie „nie, niemals, nie wieder, immer, jedes Mal, grundsätzlich, perfekt, hundertprozentig, total, Katastrophe, Desaster, Ruin, nur, alles, nichts, alle, jeder, niemand, keiner“ usw.

Solche extremen Ausdrücke sind auch typisch für Menschen, die mit Suizidgedanken kämpfen. Darüber berichten britische Psychologen in einer Feldstudie mit über sechstausend Mitgliedern von Internetforen in der Zeitschrift »Clinical Psychological Science«. Solche Sprachmuster sind ein spezifisches Kennzeichen und sollten möglichst beachtet und ernstgenommen werden.

Wer schwarz-weiß denkt, hat kein Interesse an Alternativen oder kaum die Fähigkeit, Kompromisse zu schließen.

Dieser Denkstil ist potenziell gefährlich, weil er polarisiert, extrem wertet und keine Zwischentöne oder alternative Sichtweisen zulässt. Doch wenn Kritik grundsätzlich als böse oder kränkend erlebt wird, ist die Fähigkeit, daraus Impulse zur eigenen Veränderung zu ziehen, stark eingeschränkt.

Dieses Alles-oder nichts-Denken findet man häufig bei Menschen mit narzisstischer Tendenz, Suchterkrankung oder bei Menschen die unter Depressionen oder Angstzuständen leiden.

Es gibt dann nur Gut und Böse, nur Freund oder Feind, Gewinner oder Verlierer, Erfolg oder Misserfolg. Dieses Schwarz-Weiß-Denken hilft, die Dinge zu vereinfachen und dadurch besser zu verstehen. Dabei denkt man nicht mehr an andere Perspektiven, sondern konzentriert sich ganz auf eine bestimmte Sichtweise.

Dieser Denkstil ist auch auf politischer, gesellschaftlicher oder kultureller Ebene zu beobachten. Denn er hilft zu spalten, zu distanzieren und zu extremisieren. Arbeitslose werden in die beiden Gruppen „Schmarotzer“ und „Arbeitswillige“ eingeteilt.  Während der Corona-Pandemie wurden Branchen beispielsweise als systemrelevant und nicht systemrelevant unterschieden. Alles-oder-nichts-Denken wird deshalb vor allem von rechts- oder linksextremen Parteien oder Gruppierungen bevorzugt.

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Warum verfallen wir so oft in das „Alles-oder-Nichts-Denken“?

Wir brauchen Grenzen, weil sie für Ordnung sorgen. Wenn wir eine Leistung objektiv überprüfen wollen, brauchen wir Zensuren. Und es muss eine Grenze geben zwischen “bestanden” und “nicht bestanden”. Zwischen „der Bus ist voll“ oder „wir haben noch drei Plätze“. Soweit so gut. Aber wenn wir Grenzen ziehen, spalten wir gleichzeitig. Und diese Trennlinien können als ungerecht erlebt werden, wenn man sich auf der falschen Seite befindet.

Populisten haben die Gabe, komplexe Sachverhalte gnadenlos zu vereinfachen. Deshalb nutzen sie oft das „Schwarz-Weiß-Denken“. Je einfacher Sie eine Botschaft gestalten, desto schneller fließt sie im Gehirn, d.h. der Mensch muss sich nicht anstrengen, sie zu verstehen.

  • „Freiheit statt Sozialismus!“ lautete mal ein Wahlslogan der CDU.
  • „Reichtum für alle!“ forderte einst die Partei „Die Linke“
  • „Make America great again!“ ist ein beliebter Slogan im Präsidentschaftswahlkämpfen in den USA.
  • “Take back control” war das Versprechen der Brexiteers in Großbritannien.

Damit eine Information bei vielen anderen durchdringt, muss sie so einfach und so schwarz-weiß wie möglich sein. Dieses Denken polarisiert, indem es Komplexität leugnet. Es bleibt immer an der Oberfläche, kennt keine Tiefe und keinen Mittelweg.

Ein schwarz-weiß-Denken ist das Gegenteil von einem Sowohl-als-Auch-Denken. Denn nur damit können Schnittmengen erkannt und Kompromisse gefunden werden.

Typische Beispiele für Schwarz-weiß-Denken sind:

  • Es sind doch alle Männer gleich.
  • Wenn ich keine Eins bekomme, bin ich ein Versager.
  • Alle Menschen, die ich liebe, verlassen mich.
  • Immer muss mir das passieren.
  • Nie kann ich was richtig machen.

Diese Schwarz-Weiß-Malerei zieht in der Regel negative Gefühle nach sich, welche die negativen Gedanken wiederum verstärken. Diese negative Abwärtsspirale nennt man in der kognitiven Therapie auch emotionale Beweisführung.

Extreme Denkmuster entstehen oftmals in der Kindheit. Manchmal ist auch ein Trauma in der Kindheit oder im Erwachsenenalter eine Ursache. Auch Mobbing oder Aufwachsen mit einem narzisstischen Elternteil können damit in Verbindung stehen. Man kann Schwarz-weiß-Denken als Bewältigungsstrategie verstehen, mit dem versucht wird, uns vor zukünftigem Schaden zu schützen.

Doch das Leben spielt sich immer zwischen den Extremen ab. Wo es ganz heiß oder ganz kalt ist, lebt es sich schlecht. Wo ganz viele Menschen leben oder fast gar keine, lebt es sich auch nicht gut. Doch zwischen den Extremen ist die Vielfalt, gibt es in jeder Situation ganz viele Wahlmöglichkeiten. Das überfordert viele Menschen. Sie wollen, dass die Dinge einfach sind. Sie wollen Klarheit. Gut oder böse. Richtig oder falsch. Glücklich oder unglücklich. Erfolg oder Misserfolg.

Das Schwarz-Weiß-Denken ist der Versuch des Verstandes, unsere komplexe Welt zu vereinfachen.

Ich wollte noch mehr über das Familienleben meines Klienten aus seiner Kindheit erfahren.

„In meinem Elternhaus war Leistung Pflicht. Mein Vater war Richter am Strafgericht und auch zuhause verbreitete er eine Atmosphäre, dass man sich immer ein bißchen schuldig fühlte. Was sitzt du hier so faul herum? Hast du nichts zu tun? scheuchte er einen auf, wenn man einfach mal so dasaß. Beim Mittagessen gab es Kopfrechenaufgaben. Am Sonntagnachmittag ging es in ein Museum oder die Nachmittagsvorstellung des Theaters, denn Bildung war sehr wichtig.“
„Puhh, das klingt ja nach einem Bootcamp für Schwererziehbare!“
war mein Kommentar.

„Und Ihre Mutter hat das alles mitgemacht?“, erkundigte ich mich.
„Ich glaube, mein Vater nahm meine Mutter für nicht ganz voll. Wenn ich sie was vom Schulstoff fragte, sagte er: „Davon versteht Deine Mutter nichts, sie hat nur Realschule. Sie war eine ausgesprochene Schönheit, brachte mich und meinen Bruder auf die Welt und kümmerte sich um den Haushalt. Diese Rolle hatte ihr mein Vater zugedacht und sie war damit zufrieden.“
„Wie geht es ihr heute?“
„Nach dem Tod meines Vaters ist sie richtig aufgeblüht, hat nochmal geheiratet. Heute geht es ihr gut.“

„Was wollen Sie denn nun genau hier?“, war meine Frage nach dem Anliegen des Klienten.
„Das weiß ich gar nicht so genau. Ein früherer Kollege meinte, dass ich Sie mal kontaktieren soll, was ich ja hiermit getan habe.“
„Stimmt – und was wollen Sie jetzt hier?“
„Was wollen Sie hier? Was wollen Sie hier?“
reagierte Uwe K. genervt.
„Vielleicht eine professionelle Einschätzung von Ihnen.“
„Einschätzung worüber?
„Eine Einschätzung, ob ich alles richtig mache.“

Ich spürte, wie es dem Klienten schwerfiel, einen Wunsch nach Veränderung auszudrücken und er so tat, als wäre in seinem Leben alles in Ordnung. Genau das war aber auch sein Problem, aber er konnte es nicht formulieren, deshalb die verbalen Ausflüchte.

Das Anliegen als Ausdruck eines Wunsches nach Veränderung ist aber enorm wichtig im Coachingprozess. Damit Coach und Coachee wissen, wohin die Reise gehen soll und ob sie auf dem richtigen Weg sind.

Damit ein Klient die Mühen der Veränderung auf sich nimmt, braucht er eine mehr oder weniger klare Vorstellung, wo er hin will. Doch bei bestimmten Coachingprozessen ist genau dieses Fehlen eines Ziels das eigentliche Problem. Der Klient weiß nicht, was er eigentlich will. Er spürt zwar ein Unbehagen, weiß aber nicht, woher das kommt und was er konkret anders haben will.

Er hat sich ja ein Leben lang angewöhnt, „nichts“ zu wollen, um nicht enttäuscht zu werden, wenn er es nicht bekommt.

Dabei spielt das „Alles-oder-nichts-Denken“ eine wichtige Rolle. Denn entweder will ich „alles„, was ja nie klappt – oder ich will „nichts„, vermeide also die Enttäuschung, dass ich nicht alles bekommen habe, indem ich mich unverletzlich mache.

Ich entschloss mich, den Prozess etwas zu beschleunigen, indem ich den inneren Konflikt, den ich bei Uwe K. hinter all dem vermutete, direkt ansprach.

„Also meine Einschätzung ist, dass Sie alles ziemlich richtig machen im Leben. Eben nach dem „Alles-oder-nichts-Prinzip“. aber Sie scheinen nicht so zufrieden damit zu sein“, begann ich.
„Zufrieden sein ist mir zu wenig. Zufrieden sein ist der Trostpreis. Ich will mehr.“
„Mehr von was?“
„Na, mehr von allem. Im Beruf und privat.“

Wieder waren wir im Niemandsland des „Alles-oder-nichts“ gelandet.

„Ich glaube, jetzt weiß ich, was Sie hier wollen.“
„Da bin ich ja mal gespannt!“
„Sie wollen meine Hilfe aber Sie wollen nicht darum bitten.“

 

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Bild: alvarez iStock.com

Warum ich im Coaching kleine Experimente mache.

Das Aufspüren der inneren Konflikte eines Klienten, die ihn hindern, das zu erreichen, was er möchte, ist nicht leicht. Wir können den Klienten nicht danach fragen, denn die wesentlichen inneren Konflikte sind unbewusst. Ich kann Vermutungen über den Konflikt anstellen, aber da er ja unbewusst ist, wird der Klient damit wenig anfangen können.

Was ist der Ausweg?

Mit der HAKOMI-Methode habe ich vor vierzig Jahren einen Weg kennengelernt, wie es geht: Ich kann den Klienten den inneren Konflikt erleben lassen. Und dafür brauche ich ein Experiment, in dem der Klient seine „Selbstorganisation“ genauer kennenlernt. In welchem Kontext sein Verhalten, das ihn stört und dass er meistens weghaben will, eine wichtige Rolle spielt.

„Selbstorganisation“ bedeutet hier, genau zu wissen, warum ich etwas tue und wie ich es tue. Das darf aber keine rationale Überlegung sein „(„Ich glaube, ich mache das, weil …“), sondern eine erlebte Erfahrung. Die Experimente in Achtsamkeit sind aus meiner Sicht das beste Werkzeug, um die eigene Selbstorganisation live zu beobachten.

Das wollte ich auch bei Uw K. ausprobieren. Ich bat ihn,

  • sich bequem hinzusetzen (das dient dazu, Spannung für das Folgende aufzubauen)
  • die Augen zu schliessen (ohne Achtsamkeit kommt man nicht an die Informationen aus dem Unbewussten)
  • und den folgenden Satz laut auszusprechen (das ist der Trigger, der den vermuteten Konflikt auslösen soll)
  • und genau die inneren Reaktionen zu beobachten, die danach auftauchen (Körperreaktion, Gefühl, Gedanke)

„Ich bitte Sie, mal den Satz zu sagen
»Ich brauche dich.«“

Wie immer wähle ich Sätze, von denen ich annehme, dass der Klient sie innerlich ablehnt, weil er damit schlechte Erfahrungen gemacht hat. Also, wo die Amygdala, unser Gefahrenwarnzentrum im Gehirn, nervös wird oder gleich Alarm schlägt. Das klappte auch bei diesem Klienten.

Er wurde ziemlich rot im Gesicht, griff sich an die Brust und stieß hervor:
„Nie im Leben werde ich diesen Satz nochmal sagen. Ich brauche niemanden! Nie wieder!“
Nach einer Weile sagte ich: „Klingt so, als hätten Sie da mal eine wichtige Entscheidung getroffen.“

Uwe K. atmete schwer und brauchte eine Weile, um sich wieder zu beruhigen.
„Und ich weiß auch genau, wann ich diese Entscheidung getroffen habe. Mein Vater wollte, dass ich Jura studiere. Klar, als Richter liegt das nahe. Aber nach drei Semestern merkte ich, dass das nichts für mich ist. Viel lieber wollte ich Informatik studieren und schrieb mich an der TU in München ein, das war damals die beste Uni dafür. Aber München war damals schon teuer und das Studium zeitaufwendig. Nach ein paar Monaten merkte ich, dass ich das nicht alleine packe und sagte zu meinem Vater, dass ich seine finanzielle Unterstützung brauche.“

Hier machte Uwe K. eine Pause, um von seinen Gefühlen nicht überwältigt zu werden.
„Sein Gesicht wurde eisig und er sagte in einem drohenden Ton: Wenn Du Dich gegen mich stellst und nicht Jura studierst, kannst Du sehen, wie Du alleine klar kommst. Dann kriegst Du von mir keinen Pfennig Unterstützung!
In dem Moment dachte ich: Ich will nie wieder etwas von jemandem brauchen! Und damit bin ich in meinem Leben immer sehr gut gefahren!“

Es sind oft besonders schmerzliche Momente im Leben, wo wir uns in der seelischen Not für eine psychische Überlebensstrategie entscheiden, die dann zu unserem Lebensthema werden kann, weil sie in dieser Situation funktioniert. Weil sie uns als die einzig mögliche Verhaltensweise vorkommt.

So hörte ein bekannter deutscher Politiker als Junge mal von einem Volksschullehrer, dass „aus ihm nie was werden würde“. Daraufhin strengte er sich sehr an, machte das Abitur und wurde ein bekannter Politiker. Sein Lebensthema war „Ich wollte immer zeigen, dass ich was kann.

„Dass Sie gar nichts im Leben brauchen, stimmt ja nun auch nicht ganz“, nahm ich das Gespräch wieder auf.
„Wie kommen Sie darauf?“, antwortete Uwe K. etwas empört.
„Ich brauche meine Frau nicht, deswegen habe ich mich von ihr getrennt. Ich habe nie im Leben Schulden gemacht, weil ich nicht von einer Bank abhängig sein wollte.“
„Und Sie wollten keine Kinder, weil sie ahnten, dass es Sie abhängig machen würde, dass es ihnen gut geht und das weiß man ja nie ganz sicher. Und eigentlich brauchen Sie auch keinen Job mehr, weil sie finanziell unabhängig sind.“
„Stimmt alles. Also wieso stimmt das nicht, dass ich nichts brauche?“

„Na ja, Sie brauchen vor allem das Gefühl der Unabhängigkeit. Davon weichen Sie keinen Millimeter ab. Entweder total abhängig wie bei Ihrem Vater oder völlig frei. Entweder oder. Schwarz oder weiß. Falsch oder richtig.“
„Was soll daran verkehrt sein?“ fragte der Klient.
„Na ja, Sie brauchen dieses strikte „Alles oder nichts“. Aber im Leben ist ja ganz selten etwas ganz eindeutig richtig oder falsch. Wenn Sie im Supermarkt vor dem Joghurtregal stehen, wissen Sie ja erst einmal nicht, welchen Sie wählen sollen.“
„ich greife immer nach unten und nehmen den billigsten Joghurt.“

„Sehen Sie, da ist es wieder. Sie handeln nach einem Prinzip, damit Sie sich nicht mit der Vielfalt auseinandersetzen müssen. Ihre Frau geht einmal fremd, zack, Sie trennen sich von ihr.“
„Ich habe meine Prinzipien – und meine Frau kannte damals meine Haltung.“
„Ja, ja. Aber das Leben ist Gottseidank nicht so schwarz-weiß wie Ihr Denken. Doch je weniger wir fühlen wollen, umso mehr brauchen wir Regeln.“

„Darüber muss ich nachdenken“, sagte der Klient zum Abschied.


Nach einem Dreivierteljahr bekam ich eine Mail von Uwe. K.
Die Sitzung sei ein schmerzhafter Augenöffner für ihn gewesen. Er habe sein Leben durchforstet nach Situationen, wo er radikal nach dem „Alles-oder-nichts-Prinzip“ entschieden hatte. So sei er einmal im Italienurlaub beklaut worden und habe deswegen nie wieder dort Urlaub gemacht, obwohl er das Land liebte. Im Job habe man ihm oft nachgesagt, dass er ein Elefantengedächtnis hätte und keine Kränkung vergäße. Mindestens drei Nachbarn in seiner Straße habe er ignoriert, weil er dachte, sie würden ihn nicht mögen.

Er hätte öfters an den Satz „Ich brauche dich“ gedacht und überlegt, an wen er den richten könne. Da sei ihm immer nur seine Exfrau eingefallen. Das habe er als Zeichen interpretiert, dass sie ihm noch etwas bedeute und habe sie eines Abends angerufen. Überraschenderweise habe sie nicht gleich aufgelegt und sie hätten sich zu einem ersten Treffen verabredet. Daraus seien mittlerweile drei Abende geworden. Noch wisse er nicht genau, was das für ihn bedeute aber es sei durch unsere Sitzung doch etwas Wichtiges in Gang gesetzt worden. Auch mein letzter Satz, dass viele Regeln das Fühlen ersetzen sollen, beschäftige ihn immer wieder.

Ich schrieb zurück, dass es mich freue, dass er den Kontakt zu seiner Exfrau gewagt hätte. Außerdem könne er es sich ja zur Regel machen, mehrmals am Tag zu prüfen, was er gerade fühle.



Hier lesen Sie weitere Fallberichte aus meiner Coaching-Praxis:

Business-Coachings

Life-Coachings

PS: Alle Fallgeschichten sind real, aber so verfremdet, dass ein Rückschluss auf meine Klienten nicht möglich ist und die Vertraulichkeit gewahrt bleibt.


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Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.

3 Kommentare

  1. Rike sagt

    Wieder ein toller Beitrag, zum selbst nachdenken…besser noch, um selbst nach zu fühlen. Vielen Dank!!

  2. Astrid sagt

    Es freut mich, dass der Klient die Exfrau angerufen hat.
    #interdependenz ist nur was für Fortgeschrittene 😉

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