Woher wissen Sie, dass Sie das hier gerade lesen? Blöde Frage? Sie sehen doch auf Ihren PC, spüren den Stuhl, auf dem Sie sitzen? Wenn es mal so einfach wäre.
Viele Menschen haben einen naiven Realismus, nach dem die Welt genau so beschaffen ist, wie sie sie wahrnehmen.
Sie glauben, die reale Welt sei da „draußen“ und über unsere Sinne kämen – wie bei einer Kamera – die Eindrücke von da draußen – in uns hinein. Wir könnten uns also ein Bild von der Welt machen. Oder ein Bild von einer Situation oder einem Menschen.
Die Welt gibt es nicht.
Jeder erschafft sich seine Realität.
Das Bild können Sie sich machen, aber es hat nur bedingt etwas mit dem zu tun, was da ist.
Wir haben in unserem Kopf Hypothesen über die Welt, die es uns ermöglichen, sich einigermaßen in der Welt zu bewegen. Nicht mehr! Es gibt kein Abbild der Welt, denn die Welt ist völlig anders als unser Abbild von ihr.
Kurz: Die Welt ist NICHT so, wie sie scheint. In der Realität gibt es keine Farben, keinen euklidischen Raum und keine festen Körper. Und die Sonne dreht sich nicht um die Erde, obwohl es so scheint.
Diesen Umbruch in der Erkenntnis, den viele Menschen noch nicht vollzogen haben, bezeichnete Immanuel Kant ja auch mit der „Kopernikanischen Wende“. Denn Kopernikus fand 1543 heraus, dass die Planeten sich nur scheinbar bewegen. Und zwar weil der Betrachter sich ebenfalls bewegt. Hieraus folgerte Kant, dass nicht die Natur uns die Gesetze vermittelt, sondern wir sie der Natur vorschreiben.
Was Sie als reale Welt erleben, ist Ihre subjektive Wirklichkeit. Diese wird in jedem Moment in Ihrem Nervensystem erzeugt. Aus der äußeren Welt empfangene Sinnesreize werden in Ihren Nervenzellen in elektrochemische Signale umgewandelt.
Hierzu ein kleines Experiment.
Sie lesen diesen Text hier gerade an Ihrem PC oder Ihrem Tablet oder Ihrem Smartphone.
Jetzt die einfache Frage, die aber ganz schön schwierig ist: Woher wissen Sie das?
Wie können Sie ausschließen, dass Sie nicht träumen, dass Sie das gerade an Ihrem PC lesen?
Die Anzahl der von außen auf Sie einströmenden Signale ist ungeheuer groß. Deshalb hat Ihr Gehirn bestimmte Filter, aus denen Ihr subjektives Bild gebildet wird, das Sie dann als objektive Wahrheit von der Welt empfinden.
Sie sehen zum Beispiel rechts das Gesicht eines unbekannten Mannes. Sie wissen nicht, ob der Mann Elektriker ist oder Hochschulprofessor oder ein mehrfacher Mörder. Aber Sie haben sofort einen Eindruck von diesem Mann. Das ist gemeint mit der subjektiven Wirklichkeit, die wir in jedem Moment erschaffen.
Es geht auch gar nicht anders. Denn sonst müssten wir tausend Mal am Tag sagen: „Weiß ich nicht.“
Wodurch entsteht Ihre subjektive Wirklichkeit?
Sie können nicht dauernd überlegen, wie Sinneseindrücke zu interpretieren sind. Wenn Sie die Straße überqueren und ein Auto nähert sich, müssen Sie blitzschnell entscheiden: weitergehen oder springen? Wenn der Chef die neue Mitarbeiterin vorstellt, haben Sie zwar theoretisch mehr Zeit – aber unbewusst entscheiden Sie in den ersten Sekunden, ob Sie die Frau sympathisch finden oder nicht. Eigentlich müssten Sie aber sagen: „Weiß ich nicht“
Bei diesen schnellen Entscheidungsprozessen benutzt Ihr Gehirn Muster des Erlebens und Verhaltens, die mit Ihrer Biografie zusammenhängen. Also zum Beispiel mit dem Land, in das Sie hinein geboren wurden. Mit der Familie, in der Sie aufwuchsen. Mit den Werten und Regeln, die man Ihnen in den ersten zehn, zwölf Lebensjahren vermittelte. Die Beziehungserfahrungen, die Sie mit Menschen ganz allgemein machten und mit Frauen, die zum Beispiel eine laute Stimme haben im Besonderen.
Wer als Kind im Urwald aufwuchs lernt früh, wo Gefahren lauern und wie man sie vorzeitig erkennt. Aber Kinder, die in Berlin-Hermsdorf groß werden, lernen das auch – eben andere Gefahren.
Diese früh erworbenen Muster arbeiten vollkommen automatisch und unterliegen nicht Ihrer willentlichen Steuerung. Sie haben in sich eine feste Struktur, die sich wiederholt und so garantiert, dass wir dieselben Dinge genau gleich wahrnehmen. Sie sichert damit die Kontinuität unseres Erlebens. Damit wenn Sie morgens in den Spiegel schauen, sich wiedererkennen.
Frage: Sind Sie wirklich genau derselbe von gestern Abend?
Woher wissen Sie das?
Könnten Sie auch anders sein als gestern Abend?
Wenn nicht, wie machen Sie das?
Dass unser Unbewusstes so automatisch arbeitet, ist ungeheuer praktisch. Sie setzen sich ins Auto und fahren los ohne groß darüber nachzudenken, wie man einen Wagen lenkt. Doch dafür zahlen Sie auch einen Preis.
Denn diese Muster beschränken auch Ihre Wahrnehmung und somit Ihre Wirklichkeit. Sie sehen etwas Schwarzes im Garten und denken: „Oh, eine Amsel!“. In dem Moment hört Ihre Wahrnehmung auf. Sie sehen nicht mehr das schwarze Etwas, sondern vor allem Ihr inneres Bild einer Amsel.
Die Landkarte ist nicht die Landschaft.
Dieser Satz von Alfred Korzybski beschreibt, dass wir permanent innere Bilder von der Außenwelt und unserer inneren Welt erzeugen (Landkarten) – und oftmals glauben, das sei identisch mit der Realität (Landschaft).
Dem ist aber nicht so. Und die meisten Menschen haben kein Bewusstsein für dieses Erleben von sich selbst und der Welt.
Auch Sie selbst „existieren“ eigentlich nicht. Doch Sie erschaffen sich in jedem Moment. Glauben Sie nicht?
Dann machen Sie mal dieses gedankliche Experiment:
Stellen Sie sich vor, Sie würden morgen früh aufwachen und hätten für die folgende Stunde Ihr Gedächtnis verloren.
Etwas in Ihnen würde Sie veranlassen aufzustehen und die Umgebung zu erforschen. Sie würden ohne zu wissen, was das ist, in den Spiegel schauen – und erstaunt gucken. Sie spürten einen gewissen Druck im Unterleib, würden aber nicht wissen, wohin damit.
Ein fremder Mensch käme in den Raum, den Sie nicht kennen. Sie würden erschreckt zusammenfahren, neugierig schauen, abwarten …
Es ist vor allem Ihre Erinnerung, die Ihnen morgens hilft, sich zu „erschaffen“. Wo und wie man aufs Klo geht, wie und warum man duscht, was man mit der kleinen Bürste in dem weißen Becher macht usw.
Wie gesagt: diese Muster sind sehr hilfreich. Es ist unser Autopilot, der wie ein Navigationssystem in unserem Gehirn funktioniert. Hilfreich ist es, wenn man weiß, wie man den Autopiloten abschaltet.
Firmenchefs, die wissen wollen, wie eigentlich der Service in einer Filiale klappt, machen sich das manchmal zunutze. Also kein angekündigter Besuch, auf den sich alle Mitarbeiter vorbereiten können („Mittwoch kommt der Chef!“) sondern ohne Firmenwagen in neutraler Straßenkleidung als Kunde den Laden betreten und sich erklären lassen, was denn die Dreifachwirkung dieser Zahncreme bedeutet.
Jetzt erfährt der Chef, wie seine Mitarbeiter auf einen normalen Kunden reagieren. Einfach, weil er durch seine Undercover-Strategie unterbunden hat, dass der Mitarbeiter aus dem Kunden seinen Firmenchef kreiert. Der Mensch ist genau derselbe, aber die inneren Bilder des Mitarbeiters sind total verschieden.
Und bei Ihnen ist das genauso. Bei mir auch. Wir erschaffen unsere Welt. In jeder Sekunde. Und glauben, das sei die Welt. Es ist aber nur unsere subjektive Interpretation der Wirklichkeit.
Bei der gegenwärtigen Diskussion um den Grünen-Vorsitzenden Trittin kann man das sehr schön beobachten. Was da mit „Zeitgeist“ gemeint ist, sind die unterschiedlichen Interpretationen eines Sachverhalts. Damals okay, heute böse. Aber das gilt für viele Sachverhalte. Prügelstrafe, Homosexualität, unverschleierte Frauen… nichts ist in sich objektiv gut oder schlecht. Erst unsere Interpretation macht es dazu. Denn wir können nicht dauernd neutral bleiben.
Wie entdecken Sie, Wie Sie Ihre Welt erschaffen?
Das geht am besten mit der Inneren Achtsamkeit.
Denn zum Erzeugen Ihrer Wirklichkeiten brauchen Sie Ihre Erinnerung, die Ihnen suggeriert, was Sie da sehen. Zum Beispiel diesen Hocker. Wenn Sie aber genau hinschauen, sehen Sie, dass Sie etwas erzeugt haben, was da nicht ist. (Es ist kein Hocker – hier in groß.)
Mein Zeichenlehrer in der Schule machte sich diese Erkenntnis zunutze. Wenn er uns einen Stuhl zeichnen ließ, legte er ihn verkehrtrum mit den Beinen auf den Boden. Damit wir zeichneten, was wir sahen, nicht was wir zu sehen glaubten.
Zum Erzeugen Ihrer Wirklichkeiten brauchen Sie auch oft die Zukunft. Pläne, Ziele, Ängste. Grübeleien. Nichts davon ist real, was nicht heißt, dass es immer überflüssig wäre.
Zum Entdecken meiner eigenen Muster, habe ich folgende Strategien entdeckt, um meine erzeugte Wirklichkeit etwas zu relativieren:
- Manchmal lasse ich meine Erwartung, wie etwas sein sollte, bewusst los und versuche wahrzunehmen, was eigentlich geschieht.
- Bei alltäglichen Verrichtungen zum Beispiel Schneiden einer Tomate, konzentriere ich mich einige Momente ganz auf das, was ich gerade wahrnehme.
- Wenn mich etwas ärgert, versuche ich zu unterscheiden, was genau ablief und was ich daraus interpretierte.
- Wenn ich mich langweile, versuche ich wahrzunehmen, wie ich dieses Erleben erzeuge.
Der Artikel ist lang geworden. Das Thema liegt mir wohl sehr am Herzen. Ich bin gespannt, was Sie damit anfangen. Schreiben Sie’s mir hier als Kommentar?
Diesen Beitrag können Sie sich hier als Podcast anhören oder herunterladen.
Was haben Sie heute erzeugt ?
PS: Wenn Ihnen dieser Beitrag gefiel, dann sagen Sie es doch bitte weiter: auf Facebook, Twitter oder per Email.
… oder schreiben Sie einen Kommentar.
… oder abonnieren Sie meinen sonntäglichen Newsletter mit dem Formular oben links.
Foto: © kallejipp – photocase.com, Privat, Fotolia.com, istock.com