Wenn ein Psychotherapeut einen amerikanischen Gottesdienst besucht.

Kommentare 7
Allgemein / Glück / Persönlichkeit / Psychologie

Über Glauben und Religion zu schreiben finde ich immer heikel. Jene, die glauben fühlen sich schnell angegriffen. Jene, die nicht glauben fühlen sich schnell bestätigt. Ich probiere es trotzdem mal heute.

Anlass war der Besuch eines Gottesdienstes der Crossover-Church in Morganton, Georgia. Die Crossover Church versteht sich als eine innovative, multi-ethnische, generationsübergreifende Kirche, die Menschen hilft, ihr Leben in Christus zu entdecken, zu entwickeln und zu zeigen.

shithappens

Sonntagmorgen kurz nach acht Uhr morgens waren wir da. Die frühe Uhrzeit erklärt sich dadurch, dass man erst mal miteinander frühstückt. Jeder bringt was mit und so gibt es neben Tee, Kaffee und Saft leckere Pies, jede Menge Kuchen und Obst.

Da unsere Freunde uns schon Wochen vorher angekündigt hatten gab es viele neugierige Leute, die uns begrüßten und alles Mögliche über uns wissen wollten. Nach dem Frühstück war Bibelstunde.

predigtEin freundlicher Herr erzählte, wie er als schwerer Alkoholiker in seiner zweiten Ehe viele Probleme hatte und erst durch Gott dahin fand, andere Menschen emotional an sich heranzulassen.

Bevor der Gottesdienst begann gab es noch ein Come-Together. Schon in der Kirche konnte man auf Menschen zugehen, sie begrüßen und ein paar Worte wechseln. Dann begann der Gottesdienst mit mehreren Liedern, deren Texte auf drei Projektionswänden sichtbar waren. Die Lieder erinnerten mich eher an Musical-Songs als an Kirchenlieder, wie wir sie kennen, die ja teilweise sehr alt sind.

Dann kam die Predigt des Pastors.

cortisRick Cortis ist ein rhetorisch sehr gut geschulter Redner und beherrschte die Technik des Storytellings perfekt.

Der Rahmen seiner Ansprache war ein Projekt, in dem verwahrloste Jungen im Alter um die 12 – 15 Jahre unter Anleitung mehrerer Männer ein Boot bauten. Das Boot stand auch auf der Bühne und wurde immer wieder als positives Symbol erwähnt.

Der Kern seiner Predigt war die Botschaft: „Jesus arbeitet mit Dir, in Dir und durch Dich.“ Hiermit waren die verschiedenen Ebenen gemeint, in denen man erleben kann, dass Jesus mit einem arbeitet.

drift boatHier geht es im Wesentlichen darum, dass Jesus uns helfen will, dass wir bessere Menschen werden, denn am Tag des Jüngsten Gerichts werden wir alle daran gemessen, wie viel wir aus uns gemacht haben.

 

 

Wozu brauchen wir einen Glauben?

Ich habe ja einige spirituelle Lehr- und Wanderjahre hinter mir. Zwar früh aus der evangelischen Kirche ausgetreten, zogen mich ab dem 27. Lebensjahr vor allem östliche Glaubensformen an. Es begann mit den Büchern von Krishnamurti, später war ich Sannyasin bei Bhagwan und dann recht intensiv bei den tibetischen Buddhisten aktiv.

So tröstlich ich alle diese Ansätze fand, blieb ich doch nicht dabei. Das hat vor allem mit dem Buch “Den spirituellen Materialismus durchschneiden” von Chögyam Trungpa Rinpoche zu tun. Danach wurde mir klar, dass auch meine „spirituelle“ Suche ein großes Selbstverbesserungsprogramm war.

Statt dem Anhäufen materieller Güter strebt man dabei nach der tieferen Meditation, dem reineren Herzen, der leersten Leere. Und bei den meisten Mitgliedern der Sangha glaubte ich, ähnliche Mechanismen des Egos zu entdecken.

Da war es plötzlich mit meiner Suche vorbei. Und mein wichtigstes Gebot wurde der Satz: „Es gibt ein Leben vor dem Tod“. Diese Erkenntnis muss man nicht glauben, denn sie ist Fakt und dann hat man ja immer noch genug, Probleme zu bewältigen – und Schönes zu erleben.

 

Ist Glauben die ultimative Selbstoptimierung?

Diese lang zurückliegenden Erfahrungen und Gedanken gingen mir so durch den Kopf, als ich dem Pastor zuhörte. Denn natürlich ging es auch darin, dass man ein besserer Mensch werden soll und man erst  am Tag des jüngsten Gerichts erfährt, wie erfolgreich man bei diesem Projekt abgeschlossen hat.

Der Kampf um eine hervorragende Abiturnote, weil erst diese einem den Weg in eines der begehrten Numerus-Clausus-Fächer erlaubt, ist dagegen ja ein Klacks.

Anfänger spielen noch mit Fitness-Trackern herum, um ihren Fitnesszustand zu verbessern. In der Predigt wurde einem vermittelt, dass es darum geht, am geistigen Fitnesszustand zu arbeiten.

Dagegen ist nichts einzuwenden, arbeite ich doch als Psychotherapeut und Trainer in derselben Branche. Allerdings sehe ich, wie widerstrebend sich Menschen ändern, weil das fast immer mühsam ist. Mit Gottes Hilfe scheint das für viele Menschen leichter zu sein.

Auch der Prediger erzählte von seiner überwundenen Alkoholsucht, was ja eine enorme Leistung darstellt, an der viele scheitern. Er schilderte seine „Heilung“ als eine Art Erkenntnisblitz, der über ihn kam, als er erkannte, was der Alkohol mit ihm und seiner Familie bis dahin gemacht hatte.

Für ihn war klar, dass das die Botschaft von Jesus war.

Als Therapeut stelle ich mir vor, dass in seinem inneren Team plötzlich ein kluger Teil sich meldete und verkündete: „Mensch, hör auf mit dem Scheiß – du ruinierst dein Leben!“ und er diesem folgte. Das klingt natürlich nicht so toll wie wenn GOTT HIMSELF mit einem spricht.

Andererseits muss man fragen, warum Gott sich so spät in seinem Leben meldete – aber dieser Einwand gilt auch für den rettenden Teil des inneren Teams.

Ach, wir wissen so vieles nicht. Müssen uns aber dauernd entscheiden zwischen richtig und falsch. Und so richtig klug ist man immer erst hinterher.

Da beneide ich Menschen, die an Gott glauben können – jedenfalls so wie es in dieser Gemeinde geschieht. Das konnte ich auch an unseren Freunden im Alltag beobachten.

Glauben vermittelt eine enorme Sicherheit.

Bei schwierigen Entscheidungen liest man entweder selbst in der Bibel und macht sich einen Reim daraus. Oder wenn man über widersprüchliche Bibelstellen stolpert, fragt man den Pastor.

Diese Sicherheit hat natürlich ihren Preis: unbedingte Gefolgschaft. Und diese Sache machte mich bei allen Glaubensformen immer hellhörig und skeptisch.

 

Glaubenssysteme sind immer geschlossene Systeme.

Geschlossene Systeme müssen sich wehren und abgrenzen gegen Informationen von außen. Das macht sie nach innen stark und attraktiv für Suchende. Hat aber auch seinen Preis.

  • In einer Diktatur lebt man so lange „gut“, wie man nicht gegen die Regeln des Systems verstößt.
    Die aufkommenden störenden Gefühle gegen den Herrscher werden verarbeitet, indem man den Mann an der Spitze (Diktaturen sind Männersache!) anbetet und vergöttert.
    Therapeutisch gesprochen: man idealisiert ihn als Abwehr gegen all die Gefühle, die nicht zur Unterwerfung passen.
  • Viele Freiheiten können Unsicherheit hervorrufen.
    Unser westlicher Lebensstil kann bei Menschen auch das Bedürfnis nach autoritären Strukturen erzeugen. Diese werden oft von „religiösen“ Gruppen benutzt und manipuliert. Sekten aber auch terroristische Regimes funktionieren so und haben mitunter eine hohe Anziehungskraft für labile Menschen.
  • Auch Familien können geschlossene Systeme bilden.
    Vor allem dann, wenn es ein oder mehrere dicke Probleme gibt. Also Missbrauch, Alkoholsucht, Prügel oder Magersucht eines Familienmitglieds. Hinweise oder Warnungen von außen durch Freunde, den Hausarzt usw. werden als Einmischung und Bedrohung erlebt und abgewehrt.
  • Kreative Umdeutungen sind ein wichtiges Werkzeug in geschlossenen Systemen.
    So wurde die Berliner Mauer in der DDR als „befestigte Staatsgrenze“ oder als „antifaschistischer Schutzwall“ bezeichnet.
    Hinweise von außen auf Missstände in einem zentralistisch geführten Land werden immer als „Einmischung in innere Angelegenheiten“ oder als „Propaganda feindliche Kräfte aus dem Ausland“.

Und das fiel mir auch in dieser Kirche und unseren Freunden auf.

Natürlich wurde vor jeder Mahlzeit gebetet. Nun ist Dankbarkeit ja eine gute Sache. Viel zu oft glauben wir, dass alles selbstverständlich da sein müsse und regen uns schnell auf, wenn mal etwas nicht klappt.

Aber beim Beten dankte man nicht nur für das Essen, das vor einem stand. Sondern auch, dass es dem Bruder bei seinem neuen Job gut gehen möge. Dass dem Onkel auf dem langen Flug nichts passieren soll. Dass die ganze Familie gesundheitlich und finanziell gut zurecht kommt.

Das ist ja menschlich gut verständlich, aber mir kam es doch wie eine subtile Form, die Kontrolle über etwas Unkontrollierbares zu gewinnen. Das hat ja eine uralte menschliche Tradition: die Götter gnädig stimmen – eventuell sogar durch ein Opfer – damit sie einem wohl gesinnt sein mögen.

Wie gesagt: Glauben kann enorme Sicherheit vermitteln. Beneidenswert!

Und jetzt kommt die kreative Umdeutung in geschlossenen Systemen ins Spiel.

Thomas Kuhn beschrieb schon 1969 in seinem Buch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ zu welchen „Verfälschungen“ Systeme fähig sind, um ihr tradiertes Glaubenssystem gegen widersprüchliche Informationen abzuschirmen. Dass also zum Beispiel die Erde keine Scheibe ist.

In seiner Predigt erklärte das Rick Cortis genauso. Wenn etwas gut läuft in deinem Leben, hast du das Gott zu verdanken. Wenn etwas total Scheiße läuft aber auch. Mit dem Unterschied, dass Gott dich jetzt etwas lehren will: „HE will work with you, on you and through you.“

Viele Sprüche aus dem Alltagsleben, der Esoterik oder der Managementliteratur arbeiten mit demselben Muster:

  • Es gibt keine Probleme – nur Herausforderungen.
  • Erfolgreich scheitern!
  • „Nullwachstum“ und „negative Zinsen“
  • „Dir begegnet dieses Problem immer wieder, weil du noch etwas lernen sollst.“
  • „Scherben bringen Glück!“

Psychotherapeuten machen das ja auch laufend:

  • „Meine Mutter ruft mich zehnmal am Tag an. Das nervt!“
    „Oh, Ihre Mutter will Ihnen zeigen, wie wichtig Sie ihr sind.“
  • „Ich habe geträumt, dass ich ermordet werde.“
    „Oh, auf wen sind Sie so wütend, dass Sie ihn töten könnten.“
  • „Warum hat mein Mann mich verlassen?“
    „Damit es Ihnen endlich besser geht.“

Wann könnte ich in eine solche Kirche eintreten?

Was mir gut gefiel, war die warmherzige, positive Stimmung zwischen den Gemeindemitgliedern. Auch die Betonung der Dankbarkeit fand ich wichtig. Die Zugehörigkeit zu einem überschaubaren Kreis mit regelmäßigen Treffen, festen Ritualen kann dem Leben Sinn und Tiefe geben – wenn man dafür nicht selbst auf andere Weise gesorgt hat.

Skeptisch macht mich bei allen Religionen, dass das, was Menschen zu wissen glauben, was Gott von ihnen erwartet, sich meist mit ihren eigenen Wünschen deckt.

Ich denke, wenn ich mich sehr einsam und abgeschnitten vom Leben fühlen würde, dann wäre eine solche feste Gemeinschaft für mich eher anziehend. Da ich das nicht bin, weckte der Besuch in der Crossover-Church eher amüsierte und rebellische Gefühle.

 

kommentarAn wen oder was glauben Sie?

PS: Wenn Ihnen dieser Beitrag gefiel, dann sagen Sie es doch bitte weiter: auf Facebook, Twitter oder per Email.

… oder schreiben Sie einen Kommentar.
… oder abonnieren Sie neue Beiträge per Email oder RSS.

Bild: © www.cartoon4you.de

Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.