Warum jammern die Deutschen so viel?

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Glück / Persönlichkeit
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Wer jammert, kann nichts tun, findet aber schnell Kontakt.

Wir Deutschen sind Europameister! Leider nicht im Fußball, sondern im Jammern. Entweder ist es das Wetter oder der Benzinpreis, die Abgeordneten-Diäten oder ganz privat der Chef, der Nachbar, die Freundin. Dieser subjektive Eindruck, den jeder wohl schon immer mal hatte, wurde jetzt durch eine europaweite Studie der EU-Kommission bestätigt.

In einer Umfrage mit 25.000 repräsentativen EU-Bürgern kam heraus, dass in keinem anderen europäischen Land die Bürger ihre Zukunft so pessimistisch sehen wie in Deutschland. Ganze 69 Prozent der Deutschen sind danach der Annahme, dass sie in 20 Jahren schlechter gestellt sein werden als heute. Durchschnittlich sind in ganz Europa nur 49 Prozent derselben Meinung. Lediglich eine Minderheit von 20 Prozent der Bundesbürger glauben an das Gegenteil. Am optimistischsten sind in der EU die Esten und Iren. In beiden Ländern sehen mehr als zwei Drittel der Befragten die Zukunft rosig, in Estland sind es sogar 78 Prozent. (Den 90-Seiten-Report der EU-Kommission gibt es hier)

Auch früher schon konnte man dieses Phänomen beobachten. So warf Altkanzler Helmut Schmidt (SPD) im Jahre 2003 den Deutschen vor, verwöhnt zu sein und zu viel zu jammern. Die Deutschen seien nach dem erstaunlichen Wiederaufbau nach dem Krieg und dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates verwöhnt worden und hätten bis nach der Vereinigung geglaubt, das ginge immer so weiter, sagte Schmidt dem Bonner Generalanzeiger.

Der Begriff der „German Angst“ ist im angelsächsischen Bereich sehr bekannt, es gibt ein Buch darüber und sogar eine Website: www.jammern.de

Wer öfter im Ausland unterwegs ist, stellt fest, dass dort die meisten Menschen die enormen Leistungen von uns Deutschen nach Weltkrieg und Wiedervereinigung voll anerkennen, sich andererseits mit viel größeren Problemen plagen müssen und meist nur ein Kopfschütteln übrig haben für das in Deutschland auch von ihnen wahrgenommene Jammern und Meckern. Auch der Zuzug von Einwanderungswilligen aus allen Richtungen zeigt doch wohl, dass es sich hier gut leben ließe.

Weltweit verglichen haben wir die kürzesten Arbeits- und die längsten Urlaubszeiten, leben in gemäßigten Wetterlagen und haben wenig mit Unwetterkatastrophen zu tun, das Geldvermögen steigt stetig und trotzdem finden wir immer wieder etwas zum Meckern.

Warum ist das so?

Beim Nachdenken kam ich auf folgende Gründe:

  1. Wer jammert, braucht nicht zu handeln.
    Angenommen: Sie liegen im Bett, wollen schlafen – und der Nachbar feiert eine laute Party. Was tun?
    „Love it, change it or leave it!“ lautet dazu ein hilfreiche Weisheit. Was bedeutet das, wenn Sie die Musik am Einschlafen hindert?  Love it – Sie öffnet sich der neuen Erfahrung und erfreuen sich an der überraschenden Musikdarbietung zu später Stunde. Change it – Sie ändern es, indem Sie zum Nachbarn rübergehen, die Polizei rufen etc. Leave it – Sie ziehen mit Ihren Bettsachen in ein anderes Zimmer Ihrer Wohnung um, machen einen Nachtspaziergang, quartieren sich bei einem Freund ein.
    Egal, für welche der drei Möglichkeiten Sie sich entscheiden – Sie handeln.

    • Jammern erspart Ihnen das Handeln. Sie beklagen sich still oder lautlos über diese Rücksichtslosigkeit des Nachbarn, über die Menschen im Allgemeinen, wecken den Partner, um zu fragen, wie er bei diesem ohrenbetäubenden Krach überhaupt schlafen könne …
  2. Wer jammert, will nicht akzeptieren, dass alles seinen Preis hat.
    Angenommen: Sie fahren mit dem Auto und geraten in einen Stau. Oder fahren zur Tankstelle und sehen den Benzinpreis bei 1,58 Euro.
    Alles im Leben hat seinen Preis. Sie könnten Bahn fahren oder mit der Vespa oder dem Fahrrad ins Büro fahren. Doch für Menschen, die jammern, warten dort neue Ärgernisse. Die Bahn ist unpünktlich oder übervoll, mit dem Fahrrad kommen Sie in den Regen …

    • Wer jammert, will keinen Preis für etwas zahlen. Wenn Sie sich entschließen, ein Auto zu kaufen, entscheiden Sie sich gleichzeitig – wenn auch nicht sehr bewusst – für Staus, Strafzettel, steigende Benzinpreise, hohe Reparaturkosten. Beim Fahrrad entscheiden Sie sich gleichzeitig für rücksichtslose Autofahrer, blinde Fußgänger auf dem Fahrradweg, unangesagte Regengüsse.
  3. Wer jammert, kann sich als Opfer fühlen.
    Die unangenehmen Konsequenzen seiner Entscheidungen zu spüren und zu ertragen (siehe Punkt 2) erfordert eine gewisse menschliche Reife. Kleinkinder, die Unlust erleben und diese nicht selbst abstellen können, fangen an zu schreien. Doch Erwachsene sollten weiter in ihrer seelischen Entwicklung sein und selbstverantwortlich handeln (siehe Punkt 1).

    • Doch Jammerer negieren diese Selbstverantwortung. Sie fühlen sich im Recht, dass das Leben bei ihnen eine Ausnahme machen sollte. Wer aufs Land zieht, hat eventuell landwirtschaftliche Geräusche zu akzeptieren. Doch der Jammerer klagt, und sucht sein Recht bei Gericht …
      Der Vorteil der Opferrolle – man ist nie allein und findet schnell Kontakt.
      Probieren Sie einfach mal aus, an einer Bushaltestelle, wo Menschen warten. Äußern Sie eine kurzen Jammersatz: „Wo nur der Bus heute wieder bleibt!“ Sofort bekommen Sie am frühen Morgen Kontakt zu wildfremden Menschen, die Ihnen bestätigen werden: „Der kommt nie pünktlich!“ oder „Vor vier Wochen habe ich mal eine Dreiviertelstunde gewartet.“ Oder: „Für die neue Festhalle hat die Stadt Geld, aber für zwei neue Busse – Fehlanzeige.“
      Ersatzweise können Sie auch das Thema „Wetter“ nehmen: Zu kalt, zu warm, zu schwül, zu drückend, heute zwar gut aber letzte Woche schlecht … Sie werden Menschen treffen, die gern mit Ihnen jammern, denn Jammern verbindet, schafft Solidarität und eine wohlige Gemeinschaft mit Menschen, denen es schlecht geht.
      Vermeiden Sie in solchen Situationen selbstverantwortliche Bemerkungen wie „Wenn ich mich für die Busfahrt entscheide, entscheide ich mich auch für mögliche Verspätungen.“ Man wird sie verständnislos anschauen und langsam von Ihnen wegrücken.
  4. Wer jammert, erspart sich das Fühlen.
    Angenommen, Sie kaufen sich die langersehnte Espressomaschine, probieren Sie aus und beim dritten Durchlauf gibt sie ihren Geist auf. Geschäft ist zu, Kundendienst am Wochenende nicht zu erreichen. Wenn Sie sich jetzt ärgern und schimpfen, ist das eine angemessene Reaktion, um Ihre Enttäuschung zu verarbeiten. Vielleicht sind sie auch etwas traurig, weil Ihnen die Freude am erhofften Kaffeegenuss entgangen ist. Aber nach einer Weile, also – je nach Persönlichkeit zwischen einer Viertelstunde oder etwas länger, akzeptieren Sie die Situation, beschließen am Montag das Ding umzutauschen und wenden sich etwas anderem zu. Sie haben das Thema „kaputte Espressomaschine“ abgeschlossen.

    • Wer jammert, will sich diese Gefühle ersparen. Er will den Schmerz und die Enttäuschung vermeiden, vielleicht auch seinen Ärger nicht spüren, weil er gelernt hat, immer brav zu sein. Aber Gefühle verschwinden nicht, wenn man sie unterdrückt. Sie suchen sich einen anderen Weg, zum Beispiel ins Jammern. Sie können dann etliche Freunde anrufen („Stell dir vor, was mir gerade passiert ist …“) oder stundenlang lamentieren, warum das ausgerechnet Ihnen wieder passiert, ob nicht einmal im Leben etwas einfach funktionieren kann, dass die Industrie nur noch Schrott („Bestimmt aus China, obwohl italienisch draufsteht“) verkauft …
      Gefühle, die man erlebt und ausdrückt, verschwinden nach einer Weile. Jammern kann man stundenlang, ein Leben lang.
  5. Wer jammert, kann als kritisch gelten.
    „Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“ lautet eine Journalistenweisheit. Deswegen sind unsere Zeitungen, Nachrichtensendungen etc. voll von schlimmen Ereignissen. Eine Ausnahme bildet diese Nachrichten-Website, die nur positive Nachrichten verbreitet.
    Der Verriss eines neuen Buches wird oft lieber gelesen als eine begeisterte Rezension. Wer allzu positiv oder optimistisch denkt, wird schnell der Oberflächlichkeit geziehen. Deshalb blicken wir Deutsche ja auch zuweilen etwas mitleidig auf die Amerikaner mit ihrem „naiven Optimismus“. Wo ein Muskelprotz Gouverneur werden kann, und die Wahlveranstaltungen als rauschende Events gefeiert werden.

    • Würde man die 69 Prozent der pessimistischen Deutschen konfrontieren mit der kontrastierenden Einschätzung aller übrigen Europäer, würden diese Deutschen wohl nicht einräumen, dass Sie da vielleicht zu schwarz sehen. Vermutlich würden sie antworten, dass sie die Lage eben realistisch einschätzten (Globalisierung, Klimawandel etc.) und die anderen zu leichtgläubig und naiv wären.
  6. Wer lange jammert, hat etwas Leidvolles nicht verarbeitet.Eigenes foto
    Nun gibt es natürlich überall auf der Welt Leute, die gern jammern. Spannend bleibt die Frage, warum wir Deutschen es im internationalen Vergleich so häufig tun.
    In ihrem Buch „Die deutsche Krankheit – German Angst“ findet die Kölner Journalistin Sabine Bode noch einen anderen Grund. Sie argumentiert, dass diese Angst von den unverarbeiteten Kriegserlebnissen der Deutschen herrühre. Leid und Schuld der Kriegsgeneration seien nicht ausreichend betrauert worden und die Folgen dieser verdrängten Trauer wären auf die nachfolgende Generation (also ausf uns heute) übertragen worden. Die unbewussten Existenzängste der Deutschen in Ost und West wurden lange durch eine kostspielige Staatsfürsorge kompensiert, in der Bundesrepublik ebenso wie in der DDR. Auch der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter ist der Ansicht, dass der Naziterror schuld an der Panik und Mutlosigkeit sei und unser Land Opfer seiner nie betrauerten Geschichte.

    • Nun sind solche kollektiven Erklärungsansätze natürlich nicht gut beweisbar. Aber ich persönlich neige auch zu dieser Ansicht. Man stelle sich mal vor, die oben zitierte Untersuchung hätte ergeben, dass wir Deutschen mit Abstand vor allen anderen europäischen Ländern am optimistischsten in die Zukunft blicken würden und uns auch im internationalen Glücksindex auf Platz 1 befinden würden.
    • Könnten wir das wirklich genießen? Würden wir uns darüber freuen? Hätten wir nicht bald ein schlechtes Gewissen gegenüber den anderen „ärmeren“ Ländern? Spätestens dann, wenn ein ausländischer Kommentator (beispielsweise aus Großbritannien oder Polen) uns an unsere „braune“ Vergangenheit erinnern würde.
      Von einer Mutter, deren Sohn auf Klassenfahrt in den Niederlanden war, erfuhr ich, dass beim Endspiel der Europameisterschaft vor einer Woche den Schülern verboten wurde, dort bei einem PublicViewing die mitgebrachten deutschen Fahnen mitzunehmen. Von wem kam das Verbot? Von den holländischen Einheimischen? Nein, vom deutschen Klassenlehrer.

Und wie halten Sie es mit dem Jammern?
Glauben Sie auch, dass Deutsche mehr jammern als andere Völker?
Und welche Gründe sehen Sie dafür?

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Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.