Ich bin nicht perfekt! Wie Sie die Perfektionismusfalle verlassen.

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Karriere / Persönlichkeit / Psychologie

Versuchen Sie auch oft, perfekt zu sein? Oder wenigstens etwas perfekt zu machen?

Trösten Sie sich: Sie sind nicht allein.

Viele Menschen machen sich das Leben unnötig schwerer, indem sie versuchen, perfekt zu sein.

  • Fotomodelle hungern sich einer Idealfigur entgegen.
  • Die Projektmitarbeitern, die eine Präsentation von einer Viertelstunde vorbereiten soll, wendet dafür sechs Stunden auf.
  • Der beste Verkäufer des Teams ist unzufrieden, weil er diesen Monat fünf Prozent unter dem Ergebnis des Vormonats liegt.

Haben Sie Lust auf ein kleines Experiment? Ja?
Dann schließen Sie die Augen, werden Sie etwas ruhiger und sagen Sie dann innerlich den Satz zu sich:

„Ich muss nicht immer perfekt sein.“

Welche Reaktionen konnten Sie innerlich beobachten? Atmeten Sie spürbar aus? Wurde es auf den Schultern leichter? Gab es eine Stimme, die Sie warnte oder sonst einen ablehnenden Kommentar?

Dann kann es sein, dass auch Sie im Leben von einem „Sei perfekt“ – Antreiber gelenkt werden. Solche Menschen bringen es ziemlich weit im Leben. Sie sind erfolgreich, belastbar, bei Vorgesetzten meistens geschätzt. Meistens – denn Sie haben auch die Tendenz, isch zu verzetteln.

Vor allem eines fehlt ihnen im Leben: sie können selten zufrieden sein. Denn auch wenn etwas gut genug ist, ist es für sie immer noch nicht perfekt.


Perfekt sein wollen ist eine Falle.

Denn oft ist für eine gegebene Situation gar kein perfektes Ergebnis gefordert. Auch hier hilft die 80/20-Regel nach Pareto. Um ein 80%-Ergebnis zu erreichen, brauchen Sie etwa zwanzig Prozent der verfügbaren Zeit. Dieses Ergebnis ist meist vollkommen ausreichend. Egal ob Sie eine Präsentation vorbereiten, Ihren Schreibtisch aufräumen wollen oder ein Abendessen für Freunde zubereiten.

Die restlichen 80 Prozent Zeit brauchen Sie, wenn Sie mit einem achtzig-prozentigen Ergebnis nicht zufrieden sein wollen sondern ein perfektes Ergebnis anstreben. Jetzt machen Sie sich wahrscheinlich Stress, weil plötzlich irgendeine Kleinigkeit fehlt.

Doch es gibt nur wenige Bereiche im Leben, die hundertprozentige Ergebnisse erfordern.
Wenn ich ein Flugzeug besteige oder mich einer Operation unterziehe – also bei sicherheitsrelevanten Situationen – dann schätze ich hundertprozentige Genauigkeit, die aber auch dort nicht immer zu gewährleisten ist. Doch bei den meisten beruflichen und privaten Themen schießen Sie mit der Suche nach Perfektion über das Ziel hinaus.

Und vor allem: die anderen wissen meist gar nicht, dass man es noch besser machen könnte. Das weiß nur der Perfektionist, dass es ein achtzigprozentiges Ergebnis ist. Für die anderen ist es schon „perfekt“.

Doch weniger perfektionistisch sein zu wollen, ist gar nicht so leicht. Weil Perfektionismus und die Abwehr von Scham eng zusammenhängen. Warum das so ist, lesen Sie hier.

Warum ist es so schwer zu sagen: „Ich bin nicht perfekt?“

Weil Sie in einer Psychofalle gelandet sind. Damit bezeichne ich Einstellungen und Verhaltensweisen, mit denen jemand unzufrieden ist, sich aber kaum anders verhalten kann. Die meisten Perfektionisten wissen in einem ruhigen Moment, dass ihr Streben nach Vollkommenheit vergeblich und oft unangemessen ist. Aber sie können es trotzdem nicht lassen.

Was ist der Grund?
Nun, Sie können das obige kleine Achtsamkeits-Experiment auch noch einmal mit einem anderen Satz ausprobieren. Diesmal heißt der Satz

„Ich muss nichts mehr beweisen.“

Denn etwas beweisen wollen und Perfektion hängt meist eng miteinander zusammen. Doch beweisen muss man nur etwas, wenn einem jemand etwas nicht glaubt. (Gestern las ich die Werbung für ein Internet-Wettbüro: „Sie glauben, Sie verstehen was von Fußball? Beweisen Sie es!“)

Wenn jemand in der „Beweisen-Müssen-Falle“ drin stecken, stelle ich in meinen Persönlichkeitsseminaren diese drei Fragen:

  1. Was müssen Sie eigentlich beweisen?
    Meist drehen sich die Antworten darum, nicht faul, dumm oder ungeschickt zu sein. Zeigen, dass man doch etwas Schwieriges bewältigt, nicht zu schnell aufgibt, etwas schafft, was einem keiner zutraute etc.
  2. Wem müssen Sie eigentlich was beweisen?
    Die Standardantwort: „Mir selbst!“ Aber das stimmt nicht. Beim Beweisen-Müssen findet man fast immer eine reale Person aus der Biografie, deren Anerkennung man bisher vergeblich zu erringen sucht.
  3. Wann ist “es” denn bewiesen?
    Hier macht man die bestürzende Erkenntnis, dass es keine Ziellinie gibt! Das Rennen dauert ein Leben lang, weil die Kriterien immer wieder verändert werden.

Ein Beispiel:
„Wann hat ein Restaurantchef bewiesen, dass er ein exzellenter Koch ist? Mit einem Michelin-Stern? Oder mit zweien? Mit einem Stern, den er über fünf Jahre hält? Oder mit einem jeden Abend gut besetzten Lokal? Wenn er seinen Stern wieder zurückgibt, kocht er dann schlechter?

ich bin nicht perfekt, perfektionismus,Ich glaube, Perfektion zieht viele Menschen an, weil es sie unbewusst an die Sehnsucht nach dem ‘Einssein-Gefühl’ erinnert. Also jenem Gefühl, das wir als Kleinkind zu Beginn des Lebens erfahren: die Welt ist perfekt in Ordnung. Für alles ist gesorgt, es gibt nichts zu tun. Manchmal erleben wir auch als Erwachsene noch dieses ozeanische Verbundenheitsgefühl mit allem und jedem: Wenn wir uns verlieben, manchmal beim Sex oder beim Betrachten eines Sonnenuntergangs.

Doch dieses Einssein-Gefühl ist schnell vergänglich. So wie Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden, muss auch der Säugling die Symbiose mit der Mutter verlassen, um ein Ich zu entwickeln. Verliebte leiden sehr unter dem ersten Streit, weil sie erfahren, dass sie doch getrennte Wesen sind. Und auch der perfekte Sonnenuntergang dauert nur ein paar Minuten.

Ein Mensch mit dem Wunsch nach Perfektion kann zwanghafte Züge entwickeln. Dann müssen alle Schriftstücke auf dem Schreibtisch exakt rechtwinklig angeordnet liegen. Vor dem Verlassen des Hauses müssen tausend Dinge noch kontrolliert werden. Ein Pfund mehr auf der Waage morgens kann hektische Kontrollmaßnahmen nach sich ziehen. Weil Perfektionismus der Abwehr von Scham dient.

Menschen mit Perfektionsdrang wollen – wie alle anderen auch – geliebt werden. Und sind jedoch felsenfest davon überzeugt, dass sie dafür erst etwas Besonderes leisten müssen. Das Gefühl, dass sie nicht gut genug sind und es aber mit großem Einsatz schaffen können. Meist haben sie diese Erfahrung mit Eltern auch gemacht:

  • „Und das nennst du ein aufgeräumtes Zimmer?“
  • „Okay, du hast das beste Zeugnis der Klasse. Und was ist mit deinem Klavierspiel?“
  • „Gut ist nicht gut genug!“

Als Erwachsener hat man diese Unzufriedenheit verinnerlicht und ist selbst derjenige, der sich die Messlatte immer höher legt. Wenn Sie also heute oder morgen wieder beobachten, dass Sie dabei sind, etwas perfekt machen zu wollen, schließen Sie einen Moment die Augen und denken oder sagen Sie einen der obigen Sätze:

„Ich muss nicht immer perfekt sein.“

„Ich muss nichts mehr beweisen“.

Und registrieren Sie aufmerksam und neugierig Ihre inneren Reaktionen. Und seien Sie nachsichtig mit sich. Veränderung innerer Muster braucht oft Zeit und ein geduldiges sich immer wieder Bewusst machen, wann und wo man diese Einstellungen und Verhaltensweisen entwickelt hat.

Diesen Artikel schrieb ich im September 2007. Ich veröffentliche ihn hier noch einmal, weil Perfektionismus eine der zehn Psychofallen ist, die ich in meinem Buch ausführlich behandle.

 

kommentar Ich bin nicht perfekt. Wie leicht können Sie das sagen?

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Der Autor

Bloggt hier regelmäßig seit Juli 2005. Führt intensive 3-h-Online-Coachings durch.. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.